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Nach fünfzig Jahren

In dem Schauspielhaus einer großen Stadt wurde ein Werk eines Dichters aufgeführt, von dem man sagte, daß er ein sehr guter Dichter sei, aber seine Werke seien zu schwer für die Leute. Er war gekommen, wohl weniger, um sich die Aufführung anzusehen, als um dem Leiter und den Darstellern eine Liebenswürdigkeit zu erweisen. Er war nun ein gebückter alter Mann. Dieses Schauspiel hatte er vor über dreißig Jahren geschrieben; niemand hatte nach ihm gefragt, er selber hatte es wohl halb vergessen. Nun wanderte er durch die Straßen der großen Stadt; in den Schaufenstern der Buchhandlungen lag das alte Buch aus, das damals gedruckt war; er hatte es seiner Zeit nicht leicht gehabt, den Druck zu bezahlen; und das schlimme war immer gewesen, wenn er ein Werk hatte drucken lassen, dann war schon wieder ein anderes fertig, das auf den Druck harrte; so war das viele Jahre hindurch gegangen, bis er endlich alt geworden war und die Schaffenskraft erlahmte.

Als junger Student hatte er eine Weile in dieser Stadt gelebt, das war nun noch viel länger her, wohl an fünfzig Jahre. Manches hatte sich geändert in dem halben Jahrhundert, nur einige Straßen waren sich gleich geblieben.

Damals hatte er eine Geliebte hier gehabt.

Wenn er in seine Vorlesungen ging, dann mußte er an dem Haus eines Tischlers vorbei. Wir sehen ja unsere Erlebnisse immer mit andern Augen an, wie unsere Erfahrungen zunehmen und unser Verstand wächst. Der alte Dichter lächelte, ihm war heute das Kätzchenspiel der Liebe klar, das man in jungen Jahren mit verbundenen Augen spielt. Das Mädchen hatte hinter der Gardine gelauscht, wenn er gekommen war, er hatte nichts gemerkt. Sie war einmal kurz vor ihm aus dem Haus getreten mit einem Körbchen, über das ein kleines Tuch gedeckt war; das Tuch flog ab und flog ihm vor die Füße; sie wendete sich um, wollte es haschen und errötete; er ergriff es und reichte es ihr; sie dankte, und es entspann sich ein Gespräch. Er hatte nichts gemerkt und hatte geglaubt, daß das Tuch zufällig abgeflogen sei, aber ehe er es sich versah, hatte er sich mit dem zutraulichen hübschen Mädchen verabredet, daß sie sich am Sonntag treffen wollten.

Sie hatte muntere braune Augen, eine bräunliche Gesichtsfarbe mit gesund durchbluteten Wangen, dunkles Haar, und eine wohlgebaute, kräftige und nicht allzu große Gestalt. Nach den langen Jahren plötzlich stand sie dem alten Manne wie lebendig vor den Augen, er fühlte, daß ihm die Tränen kamen.

Sie hatte auf seiner Stube mit flinken Bewegungen den Tisch gedeckt und den Kaffee bereitet, sie hatte sich ihm an den Hals gehängt, mit vergrößerten Augensternen ihn angesehen und leise zu ihm gesagt: »Lieber«; sie hatte Bücher der Dichter gelesen, war mit ihm in das Schauspiel gegangen, und hatte mit ihm gesprochen über das Gelesene und das Gesehene, sie hatte immer richtig gefühlt und die wahren Worte gefunden.

Was aber war sein Leben seitdem denn gewesen? Er hatte allein in einer kleinen Stube gewohnt und gearbeitet, die altjüngferlich-säuerliche Wirtin hatte ihm sein Abendessen auf einem Tellerbrett gebracht und über das Wetter oder über die teuren Preise gesprochen, oder darüber, daß sie eigentlich aus guter Familie war, und zu Mittag hatte er in einer Wirtschaft gegessen, wo der Kellner ihn kannte und ihm den Mantel abnahm; das hatte ihn immer gefreut, daß der Mann so freundlich zu ihm war und ihm den Mantel abnahm.

Das Mädchen hatte ihm gesagt: »Wenn du fortgehst, dann will ich keinen andern Liebhaber wieder haben, denn du bist zu gut zu mir gewesen, dann heirate ich gleich.« Nun war die Zeit gekommen, wo er fortgehen mußte. Das Mädchen sagte ihm: »Das habe ich ja gewußt, daß es nicht für das ganze Leben ist, das kann ich ja nicht beanspruchen. Aber du bist doch auch glücklich gewesen diese Zeit, nicht wahr?« Dann hatte sie sich an seinen Hals gehängt und hatte geweint. Sie sagte ihm: »Ich habe einen Heiratsvorschlag; der Mann ist ordentlich und fleißig, und ich habe ihm zugesagt. Er hat mir gesagt: ›Aber nun ist doch das gewesen‹; er meinte das zwischen uns; da habe ich ihm geantwortet: ›Was denkst du denn von mir, denkst du, mich hat keiner gewollt?‹ Da hat er gesagt, ich soll nur nicht böse sein, er hat das ja nicht so schlimm gemeint; und das hat er auch nicht.«

Ein halbes Jahrhundert war das nun her, und in dieser Zeit hatte der Dichter wohl vieles erlebt; noch manche Frauenliebe hatte er erlebt, Freundschaft von Altersgenossen, auch Verehrung von jungen Leuten; aber niemals wieder war sein ganzes Dasein in Glück aufgelöst. Immer war sein eigentliches Dasein in der engen Stube bei der säuerlichen Wirtin gewesen und in der Wirtschaft mit dem Kellner, welcher freundlich war, weil er ein Trinkgeld bekam, alles Erleben war nur eine zufällige Unterbrechung dieses Daseins.

Der Leiter des Schauspiels war ein junger Mann. Er sprach von dem Unrecht, das die Zeitgenossen an dem Dichter begangen hatten, er sprach davon, daß es jetzt überall sich rege für ihn, daß in einigen Jahren seine Werke auf allen Bühnen sein werden; der Dichter nickte; vielleicht hätte ihm das Freude gemacht, wenn es noch vor fünfundzwanzig Jahren gewesen wäre; aber der Leiter des Schauspiels war so begeistert und glücklich, er mochte ihm nicht widersprechen, drückte ihm die Hand und sagte, er sei sehr stolz darauf, ihn seinen Freund nennen zu dürfen. Ja, noch vor fünfundzwanzig Jahren hätte es genützt, wenn auch nur ein einziger solcher Mann gewesen wäre; er hätte ihm Hoffnung gemacht, und vielleicht hätte er da noch manches gedichtet, das nun ewig ungesagt blieb.

Die Aufführung kam. Er hatte die Proben nicht besucht; nun sah er sein Werk dargestellt vor einer erregten Menge; nach den ersten Versen spannen sich die Fäden; was er damals erlebt hatte, wurde urplötzlich wieder lebendig; es war ein schauerliches Erleben gewesen; er grub das Gesicht in die Hände und schluchzte; an alles erinnerte er sich wieder, was damals wild und verzweifelt durch sein Herz gezogen war.

War er denn müde geworden, daß das alles wieder hatte still in ihm werden können? War er müde geworden durch das Dasein, das er gefühlt?

Der Leiter des Schauspiels kam, er holte den Dichter, damit der sich auf der Bühne zeige. Die Zuschauer waren gleich dem Dichter erregt und erschüttert, sie wußten nicht, was sich in ihnen bewegte, sie konnten sich nur äußern durch das lächerliche Mittel des Klatschens, er konnte nur antworten durch das lächerliche Mittel des Verbeugens. Was wäre denn zu sagen gewesen? Daß hinter unserm Leben eine fürchterliche Verzweiflung liegt, und daß man diese Verzweiflung hat sehen können und dann hat vergessen können.

Der Dichter ging am andern Tag wieder durch die Straßen, die alten Straßen, die er von früher her kannte. Sollte er denn nicht seine Jugendgeliebte besuchen? Er hatte ihre Wohnung erkundet, denn ihr Mann hatte einen auffallenden Namen und ein seltenes Gewerbe gehabt.

Er trat in ein sauberes Stübchen, ein steinaltes Mütterchen saß in einem Lehnstuhl am Fenster und strickte, ihr gegenüber – es mußte ja wohl ihre Enkelin sein; aber er mußte an sich halten, um nicht auf sie loszustürzen und sie zu umarmen, das halbe Jahrhundert war vergessen, und er war wieder gleich dem zwanzigjährigen Studenten. Die Enkelin sah genau so aus, wie die Geliebte ausgesehen hatte.

Aber er begrüßte die alte Frau, nannte ihr seinen Namen und gab ihr die Hand. Die alte Frau erhob sich und machte einen Knicks. Sie dankte ihm, daß er noch an sie gedacht hatte.

Sie dankte ihm, daß er noch an sie gedacht hatte. Das junge Mädchen sah ihn neugierig an. Die Jugend war verschwunden, die fünfzig Jahre waren wieder da, und er stand in einer sauberen Kleinleutestube vor einem zitternden, freundlichen alten Mütterchen.


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