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Ein Schicksal

Etwa um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts lebte in einer französischen Provinzialhauptstadt in einem glücklichen und zufriedenen Zustand ein wohlhabender Kaufmann mit seiner Frau und einzigem Kind, einer nun achtzehnjährigen Tochter namens Clemence.

Clemence war ein hübsches Mädchen und hatte ein gutes Gemüt; wie das so geht, sahen ihr die zärtlichen Eltern an den Augen ab, was sie ihr Liebes antun konnten, und das gute Kind seinerseits hatte alle die kleinen Liebkosungen und Aufmerksamkeiten gegen die Eltern, welche einem wohlbehüteten jungen Mädchen gut anstehen.

In die Heiterkeit dieses Familienlebens kam eine Trübung, als ein neuer Präsident des Provinzialtribunals in die Stadt versetzt wurde. Dieser war ein unverheirateter Mann von etwa vierzig Jahren, stammte aus einer vornehmen Familie und war nicht unvermögend. Die Eltern von Clemence betrachteten es als das größte Glück, das ihrem Kind zuteil werden konnte, als dieser Mann sich um ihre Hand bewarb.

Clemence war so kindlich, daß sie von dem Wesen der Ehe noch gar keine Vorstellung hatte. Aber irgendein dunkles Gefühl in ihr bewirkte, daß sie sich gegen den Präsidenten sträubte. Er schmatzte beim Essen, sprach sehr laut, erzählte Geschichten, die nicht immer fein waren, kurz, er hatte eine Anzahl von Eigenschaften, die an sich ja wohl ein braver Mann haben kann ohne merklichen Schaden für seine Seele; aber die einem feinfühlenden jungen Mädchen die Vorstellung erwecken, namentlich wenn er nicht ganz jung mehr ist, daß er ein gewöhnlicher, ja roher Mensch sei.

Begreiflicherweise fanden die Eltern die Gründe der Tochter nicht stichhaltig. Heute und bei uns würde man ja dem jungen Wesen nachgeben, indem man sich sagte, daß eben die Liebe nicht da sei und nicht herbeigezwungen werden könne; aber in jenen Zeiten und in Frankreich hörten die Eltern mehr auf den eigenen Verstand wie auf das Gefühl des Kindes; und der Verstand sagte dem Vater, daß der Bewerber ein solider Mann sei, der sich die Hörner abgelaufen hatte, in einer besseren Lage war, als seine Tochter nach ihrer Herkunft erwarten konnte, und Clemence gewiß auf den Händen tragen würde; und der Mutter sagte der Verstand, daß Clemence durch die Heirat die erste Dame der Provinz wurde.

Die Heirat wurde also beschlossen und der Vermählungstag festgesetzt.

Im Geschäft von Clemencens Vater war ein junger Mann angestellt, wir wollen ihn Rodolphe nennen, der, wie die meisten unverheirateten Angestellten des Geschäfts, eine heimliche Liebe zu Clemence fühlte. Herr Rodolphe war ein sehr tüchtiger und zuverlässiger Mensch, und deshalb trug ihm der alte Herr öfter besondere Arbeiten auf, die ihn denn gelegentlich in die Familie führten, wenn der Herr nicht in seinem Arbeitszimmer war. Es konnte dann wohl vorkommen, daß Herr Rodolphe von der Gattin seines Herrn eingeladen wurde, mit am runden Tisch Platz zu nehmen und eine Tasse Kaffee zu trinken; Clemence goß ihm die Tasse ein und reichte ihm den Kuchenteller; man darf sich vorstellen, daß solche Ereignisse die Liebe des Herrn Rodolphe noch steigerten.

Natürlich war Herr Rodolphe über die ganze Angelegenheit genau unterrichtet, denn sie wurde ja allgemein besprochen. Er sagte sich, daß er eine gute Stelle habe und bei seinem Herrn vorwärts kommen werde, aber die Liebe war ihm wichtiger wie alles; denn er sagte sich auch, daß er überall wieder eine Stellung finden könne, daß er noch jung sei, und daß man gar nicht wisse, ob ihm sein Glück nicht überhaupt in einem ganz andern Ort blühe. Kurz und gut, er beschloß, Clemence mitzuteilen, daß sie über ihn verfügen könne. Er tat das, sobald er sie allein sprechen konnte; sie weinte, Herr Rodolphe weinte mit ihr. Herr Rodolphe hatte gar seine bestimmte Vorstellung davon, was er nun eigentlich tun müsse, nachdem er sich der Geliebten zur Verfügung gestellt hatte, Clemence aber konnte sich nicht anders denken, als daß er ihr eine gemeinsame Flucht vorschlage. Herr Rodolphe erschrak zwar über diesen Gedanken, daß er mit einem jungen Mädchen, und noch dazu der Tochter seines Herrn fliehen solle, aber es war ihm peinlich, Clemence aus ihrem Irrtum zu reißen, und so bestärkte er sie in ihrer Vorstellung, indem er ihr dabei freilich die Schwierigkeiten und Gefahren einer Flucht ausmalte, in der stillen Hoffnung, daß sie erschrecken und von dem Plan abstehen würde; Clemence aber war ein Mädchen von Mut, denn die schlimmsten Gefahren konnte ihr der gute Rodolphe ja natürlich nicht andeuten. So wurde denn also die Flucht besprochen.

Sie wurde auch ausgeführt. Die beiden kamen unbehelligt nach Paris. Herr Rodolphe mietete zwei Wohnungen, welche dicht nebeneinander lagen. Wenn Clemence ängstlich war oder klagen wollte, dann klopfte sie an die Wand und Rodolphe kam und tröstete sie. Die Stunden, welche er so mit ihr verbrachte, schienen ihm göttlich zu sein. Es war notwendig, daß die beiden sich im Haus hielten, denn man mußte die Nachforschungen der Eltern und des verschmähten Liebhabers fürchten; nur am Abend ging Rodolphe aus, um alles Nötige zu besorgen. So vergingen einige Monate.

Rodolphe hatte einige Ersparnisse gehabt; aber die wurden im Lauf der Zeit aufgebraucht; und es war nötig, daß er sich nach einer Tätigkeit umsah, durch welche er soviel Geld verdiente, um sich und die Geliebte zu erhalten. Er fand bald eine Stelle als Buchhalter in einem großen Geschäft. Clemence weinte heftig, als er ihr ankündigte, daß er nun den Tag über nicht mehr neben ihr sein könne, sie machte ihm Vorwürfe, daß er sie ihren Eltern entführt habe und sie nun kaltblütig allein lasse; aber da Rodolphe einsah, daß notwendig Geld geschafft werden mußte, so konnte sie nicht erreichen, daß er ihr nachgab.

Clemences Vater und Bräutigam hatten natürlich alle möglichen Nachforschungen angestellt. Da alle Spuren des Paares nach Paris zeigten, so hatten sie monatelang in Paris gesucht, aber durch die Vorsicht des Pärchens schien ihnen endlich nicht die geringste Möglichkeit mehr vorhanden zu sein, sie aufzufinden. So hatten denn die beiden schon beschlossen, unverrichteter Sache und sehr traurigen Gemüts wieder abzureisen, der Vater tief betrübt durch den Verlust des einzigen Kindes und der Präsident fast gebrochen, denn er war ein guter und braver Mensch und hatte zum ersten Mal in seinem Leben durch Clemence eine Liebe gefühlt, weil er bis dahin immer nur fleißig, gewissenhaft und liebevoll seine Amtsarbeit getan hatte. Aber am letzten Abend vor der Abreise sah der Präsident zufällig Herrn Rodolphe, wie er als elegant gekleideter junger Kaufmann aus seiner Geschäftsstube mit beflügelten Schritten nach Hause eilte, gelegentlich einen Einkauf in einem Laden machte für das Abendbrot, sich zuweilen ängstlich umsah, dann stolze Blicke auf die gleichgültigen Gänger neben ihm warf, und kurz und gut genau so erschien, wie er nach der Vorstellung des Präsidenten erscheinen mußte. Der Präsident folgte ihm, erkundete die Wohnung, rief schnell den Vater Clemences herbei, holte Polizeibeamte; und so ging man, die jungen Leute zu verhaften.

Der Führer der Polizisten war ein gewissenhafter Mann und hielt es für seine Pflicht, erst bei der Wirtin des Hauses Erkundigungen einzuziehen. Die brave Frau hatte sich wohl schon gedacht, daß mit den beiden jungen Leuten nicht alles in Ordnung sei, und da sie selber, nachdem sie einen einzigen Jugendfehler aus übergroßer Liebe begangen, gleichzeitig Verständnis für die Tugend wie für die Macht der Leidenschaft besaß, so hatte sie sich bereits eine Geschichte ausgedacht, welche ihr das eigentümliche Verhalten ihrer Mietsleute erklärte. Als die beiden Herrn nun mit der Polizei ankamen, da wurde ihr gutes Herz bewegt, und sie schickte verstohlen einen Jungen nach oben, welcher das Liebespaar warnen sollte.

Clemence und Rodolphe erschraken heftig. Aber Rodolphe wußte, daß er die Verantwortung trug, daß er besonnen und Herr der Lage bleiben mußte.

Die beiden hatten zwei jener kleinen Wohnungen inne, zu denen ein Balkon gehört, der in Wirklichkeit ein Stück eines Ganges vor den Fenstern des ganzen Geschosses ist, welcher, je nach der Anzahl der Wohnungen, die sich im Geschoß befinden, in einzelne Teile abgeteilt ist und in manchen Straßen, deren eine auch die unsres Paares war, sich ununterbrochen von Haus zu Haus fortsetzt. Ihre Wohnung war die äußerste des Hauses, und der eine Balkonnachbar wohnte also schon im Nebenhaus. Diesen Balkonnachbar aber hatten Rodolphe und Clemence kennen gelernt, als sie an einem Abend vor ihren Fenstern gesessen, um den Zauber von Paris zu genießen; er war ein Student der Medizin, welcher in einer scheinbar erst nur vorläufig geschlossenen Ehe mit einer reizenden jungen Frau lebte, einer Plätterin und sehr tugendhaften Person. Rodolphe eilte auf den Balkon, verständigte mit einigen Worten die Nachbarn, diese wußten sofort, um was es sich handelte; Rodolphe half Clemencen über die trennende Bretterwand zu klettern, der Student empfing sie. Rodolphe mußte noch einmal in das Zimmer zurück, er hatte Schriftstücke aus dem Geschäft mitgenommen, welche er zu Hause hatte erledigen wollen, und die mußte er mit in Sicherheit bringen. Clemence aber in ihrer Angst, als sie in der Wohnung des Studentenpaares war, mochte nicht warten, bis Rodolphe ihr nachkam; sie ließ sich nicht halten, stürzte aus der Wohnung, eilte die Treppe hinunter; der Student wollte ihr nach, aber seine Frau war eifersüchtig geworden und drohte, sie werde ihm die Augen auskratzen, worauf er erklärte, die Sache gehe ihn überhaupt nichts an, er müsse auf seine Prüfung ochsen, und so nahm er sein Handbuch der Osteologie vor. Als einige Minuten später Rodolphe durch die Balkontür in das Zimmer trat, fand er die beiden in einer gewissen Verstimmung, die sich gleich gegen ihn richtete; er stürzte Clemence nach; aber wie er auch suchte, er fand sie nicht mehr auf der Straße; sie war verschwunden.

Unterdessen waren Vater, Bräutigam und Polizei mit der Wirtin zusammen die Treppe hochgestiegen und hatten die Wohnungen der beiden geöffnet. Man sah, daß noch eben Menschen in den Räumen gewesen waren, man suchte, die Polizei schaute verwundert über das Balkongitter hinunter auf die Straße, die Unterbewohner standen auf ihren Balkons und sahen neugierig nach oben. Die beiden Männer waren gebrochen auf Stühle gesunken, die Wirtin stand vor ihnen, die Arme in die Hüften gestemmt, und sang das Lob der jungen Leute, namentlich des jungen Mannes, der immer so höflich und bescheiden war, seine Miete stets im voraus bezahlte, nie eine Nacht aus dem Hause blieb, und es schwer hatte mit dem Fräulein, die immer weinte; und da nun die Tatsache der beiden voneinander abgeschlossenen Wohnungen dem Bewußtsein allmählich offenbar wurde und die gute Wirtin auch weitere Aufklärungen gab, so verschwand auch der letzte Rest von Groll in der Brust des Präsidenten, wenn solcher überhaupt vorhanden gewesen war, die Liebe nahm wieder überhand.

Indessen kam der verzweifelte Rodolphe von seiner Suche zurück. Es war ihm nun alles einerlei. Er trat in das Zimmer, warf sich seinem Herrn zu Füßen und wollte seine Schuld bekennen; die beiden fragten ihn aber ungestüm, wo Clemence sei, er brachte unter Tränen die Erzählung des Unglücks vor; der Präsident umarmte ihn, rief aus: »Wir lieben sie beide, wir werden sie nun beide vereint suchen«, der Vater drückte ihnen stumm die Hände; der junge Mann war zunächst noch eingeschüchtert, aber dann begriff er die Lage, und nun wurden die Polizisten unterrichtet, und unter großem Geräusch eilten alle die Treppe hinunter und machten sich auf die neue Suche nach Clemence.

Sie suchten vergeblich; Clemence blieb verschwunden.

Als sie die Treppe hinuntergelaufen war und die Straße erreicht hatte, war sie gedankenlos weiter fortgestürzt durch solche Straßen, auf welche ihr irrer Fuß gerade traf. Es war, wie wir wissen, die Zeit, wo die Geschäfte geschlossen werden und die Straßen von Menschen angefüllt sind; man redete sie an, rief hinter ihr her, es wurden Witze über sie gemacht, aber die Eile ihres Ganges bewirkte, daß sich niemand ihr anhängen konnte. So ging es vielleicht eine halbe Stunde vorwärts, oder im Kreise, oder rückwärts, wie es eben kam, da gelangte sie in den Garten des Palais-Royal.

Das Palais-Royal war damals eine sehr übelberüchtigte Örtlichkeit, und es war nicht anzunehmen, daß ein anständiges Mädchen sich in den Garten des Palais verirrte.

Clemence setzte sich todmüde auf eine Bank und weinte. Es mag wohl oft vorgekommen sein, daß ein Mädchen in dem Garten saß und weinte; viele Männer und weibliche Personen gingen gleichgültig an ihr vorüber.

Zufällig hatte Mutter Peyron im Palais zu tun, denn ein junges Mädchen, welches früher bei ihr Kost und Wohnung gehabt, war von ihr gegangen und hatte sich im Palais eingerichtet und hatte mit der gewohnten Undankbarkeit dieser Geschöpfe Schulden bei der guten Mutter Peyron zurückgelassen. Mutter Peyron also kommt an der Bank vorbei, sieht mit dem Blick ihres Geschäftes auf die Weinende, setzt sich neben sie, nimmt ihr eine Hand fort auf ihren Schoß und streichelt sie.

Sie streichelt eine längere Zeit langsam und liebevoll, Clemence nimmt die andere Hand von den Augen, seufzt und legt ihr Köpfchen an den vollen Busen der Mutter Peyron. Mutter Peyron rückt so, daß Clemence bequem sitzen kann, streichelt die nassen Backen, stößt unbestimmte mütterliche Töne aus und geht dann langsam und zielbewußt weiter, indem sie mit herzlichem Ausdruck fragt, was denn dem Putthühnchen geschehen ist, ob denn das Pütthühnchen fortgelaufen ist. Clemence versteht nur wenig von den Worten der Mutter Peyron, aber der liebevolle Ton beruhigt sie und macht sie zutraulich. Es stellt sich heraus, daß sie nicht zu ihren Eltern zurück darf, und daß sie verirrt ist, und daß sie nicht weiß, wo sie die Nacht bleiben soll. Mutter Peyron schüttelt bedächtig den Kopf, denn sie ist zwar eine lebenserfahrene Person, wie sich das ja bei ihrem Beruf von selber versteht, aber so etwas wie Clemence hat sie noch nicht kennen gelernt, und so schließt sie denn, daß Clemence ganz besonders helle ist.

Nun, ihr kann das ja einerlei sein, sie wird sich jedenfalls in acht nehmen und weshalb soll sie nicht auf die Redeweise Clemences eingehen? Gott, die Menschen sind eben nicht gleich, jeder ist anders in seiner Art. Also, sie bietet Clemencen an, mit ihr zu kommen; sie ist eine alleinstehende Witwe, der es Freude macht, jungen Mädchen zu helfen, denn die jungen Dinger sind immer so dumm und verstehen nichts vom Leben. Clemence folgt ihr harmlos und vertrauensvoll.

Es ist für unsern Zweck nicht nötig, daß wir erzählen, wie Mutter Peyron sehr schnell hinter die wirklichen Verhältnisse Clemences kommt, daß Clemence in ihrer Unschuld sich wohl oft über das Benehmen der Pensionärinnen wundert, welches sie nicht für fein halten kann, aber daß sie doch weit entfernt ist, etwas zu ahnen; und daß Mutter Peyron mit Umsicht und Besonnenheit alle Schritte tut, um den Schatz, welcher ihr so unvermutet in die Hände gefallen ist, auch richtig zu verwerten.

Herr Emile war seinen Eltern in ihrem Alter geboren. Denn die Eltern hatten sich als junge Leute geliebt, aber hatten sich nicht heiraten können, weil die Eltern des Mädchens nicht ihre Einwilligung geben wollten; der junge Mann war ins Ausland gegangen – er war Zuckerbäcker – und hatte ein Vermögen erworben; mit fünfzig Jahren war er zurückgekehrt, hatte seine Jugendgeliebte geheiratet, die ihm durch alle Anfechtungen treu geblieben; ein Grundstück, das den Schwiegereltern gehört hatte, war Millionen wert geworden; und kurz und gut, Herr Emile war ein lieber und guter junger Mann von zwanzig Jahren ohne Eltern und Anverwandte, welche sich um ihn kümmerten, und mit einem sehr großen Vermögen.

Er hatte soeben die erste große Enttäuschung seines Lebens gehabt. Auf einer Bank im Bois de Boulogne an einem Sonntag hatte er ein junges Mädchen angetroffen, welche in einem Band Gedichte las. Auch er liebte die Dichtung, und so kam er mit ihr in ein Gespräch, dann wurde er bekannter mit ihr; sie war Nähterin und liebte die Natur; und so hatte er denn ein Liebesbündnis mit ihr geschlossen. Zwar sein Kammerdiener, welcher ein welterfahrener Mann war, hatte ihn gewarnt und ihm vorgeschlagen, daß er ihm eine ordentliche Geliebte verschaffen wolle, aber Emile hatte sich solche Einmischungen verbeten. Nun, plötzlich stellte sich ein Herr Adolphe heraus, die Geliebte weinte und beteuerte, daß Herr Adolphe ihrem Herzen überhaupt nicht nahestehe, aber Emile war auf das tiefste verletzt und brach rücksichtslos mit ihr.

Der Kammerdiener unterhielt Beziehungen zu Mutter Peyron. Die beiden beschlossen, Clemence bei Herrn Emile zu verwerten. Der Kammerdiener, welcher die Seele seines jungen Herrn inzwischen besser kennen gelernt, ging diesmal klüger vor; er bestätigte die Anschauungen Emiles über die Treulosigkeit des weiblichen Geschlechts, über die Notwendigkeit, sich ihm einfach als Pascha gegenüber zu stellen, über allgemeine Weltverachtung, über den brutalen Genuß als das einzig Vernünftige, und ging dann zu einer Beschreibung von Mutter Peyron über, ihrem Gewerbe, ihrer Erfahrung und Zuverlässigkeit, und zu Clemence, die gerade das war, was Herr Emile brauchte.

Emile war in einem Zustand heiterer Ironie. Das Schicksal hatte ihn zum Herrn eines großen Vermögens gemacht; er war vielleicht zu Höherem bestimmt; aber weshalb sollte er die tolle Laune des Zufalls nicht benutzen, weshalb nicht in vollen Zügen den Becher des Vergnügens genießen? Die Welt war ja nicht mehr wert.

Er besuchte Mutter Peyron, er wurde mit Clemence bekannt gemacht, und da sein Herz noch von der Treulosigkeit der ersten Geliebten tief verwundet war, so war es um so leichter empfänglich, und er verliebte sich heftig. Daß Mutter Peyron und der Kammerdiener die Lage verständig nutzten, ist wohl nicht wunderbar, und Emile bezahlte gern an Mutter Peyron eine sehr große Summe für das Recht, ihrer Tochter, denn dafür wurde Clemence ausgegeben, eine reizende Wohnung einzurichten. Clemence glaubte, daß Emile aus Edelmut handle, um ihr die Möglichkeit zu geben, sich in der Hauptstadt eine höhere Bildung anzueignen, die sie in ihrer Heimat nicht hatte erwerben können. Sie besuchte mit ihm das Theater, in welchem die klassischen Werke ihr weniger gefielen, als die lustigen Stücke, sie las die Bücher welche er ihr gab, sie erhielt Musikunterricht, und da Emile doch sehr viel jünger war wie ihr Vater, und ihre Dienerin nie etwas befahl, so fühlte sie sich viel glücklicher, wie im elterlichen Hause.

Emile seinerseits hatte einen neuen Entschluß gefaßt. Er wollte um seiner selbst wegen geliebt werden. Er wollte nichts seinem Reichtum verdanken. Alles seiner Persönlichkeit. Man begreift, daß bei diesen Absichten sich seine anfängliche Verliebtheit bald in wirkliche Liebe verwandelte, zumal Clemence sich, ohne es zu ahnen, sehr geschickt benahm. Als sie sich von Mutter Peyron verabschiedete, hatte sie noch einige Lehren erhalten, deren Grund sie zwar nicht verstand, aber sie befolgte sie trotzdem, denn sie sagten eigentlich nur aus, was ihr gewöhnlich selber richtig schien. Mutter Peyron hatte ihr gesagt, wenn Emile in eine zärtliche Liebesbegeisterung komme, dann könne sie von ihm immer etwas erhalten, das sie sich gewünscht habe; wenn er schmachtend werde, dann müsse sie lachen und ihm sagen, sie finde ihn komisch; wenn er so recht zufrieden und behaglich sei, dann müsse sie weinen und über irgendein Leiden klagen oder auch ihm Vorwürfe machen, und wenn er begeistert sei, dann müsse sie ihm sagen, er sei langweilig und solle ihr einen Spaß erzählen.

Hätte ihr früherer Bräutigam sie einmal mit Herrn Emile sehen können, so wäre er gewiß auf das innigste gerührt gewesen und hätte gesagt, daß man da nun die Früchte einer guten und zielbewußten Erziehung sehe, denn ihre Tugend blieb unverletzt in den Monaten, die sie mit Herrn Rodolphe zusammen lebte, kein Hauch berührte sie, während sie bei Mutter Peyron wohnte, sie blieb auch unerschüttert in den Händen des Herrn Emile; ja, Herr Emile erklärte, daß er selber sittlich geläutert werde durch ihre Gespräche.

Auf solche Weise kam es denn im Laufe der Zeit, daß Emile den Entschluß faßte, Clemence zu heiraten.

Er glaubte sie noch immer die Tochter von Mutter Peyron, und dieser Umstand hielt ihn lange zurück, denn er bedachte, daß seine gesellschaftliche Stellung verloren war, wenn das bekannt wurde. Aber endlich hatte er sich gesagt, daß das Herz alle Unterschiede ausgleiche, daß ihm an der Liebe Clemences genüge, und daß er ja nicht in Paris zu wohnen brauche, wo ihn bei seiner Liebe für das Landleben und das Idyll ohnehin nichts halte, sondern er werde sich ein schönes Gut in einer entfernten Provinz kaufen, wo man von Mutter Peyron nichts wisse, und dort werde er dann nur seiner Clemence, der Natur und dem Glück leben.

Der Plan des guten Emile stieß aber auf einen unerwarteten Widerstand bei Clemence. Diese erklärte nämlich, sie hätte die erste Dame in ihrer Provinz werden können, wenn sie gewollt hätte, und sie wolle Emile nicht heiraten. Man kann sich die Bestürzung Emiles vorstellen, sein Fragen, seine Erkundigungen, Nachforschungen. Wir wollen uns nicht mit Nebensachen aufhalten; kurz und gut, der Vater, der Bräutigam und Herr Rodolphe erscheinen zugleich mit Emile in der reizenden, entzückenden, molligen kleinen Wohnung Clemences. Man umarmt sich, man weint, man tauscht seine Gefühle aus.

Zuerst fand der Vater seine Ruhe wieder. Liebevoll machte er seine Tochter aufmerksam auf die großen Gefahren, denen sie bei ihrer Unkenntnis des Lebens sich ausgesetzt, er pries den Engel der Unschuld, der ihr unsichtbar zur Seite gestanden, er öffnete seine Arme weit, um die verloren geglaubte Tochter zu umschließen, und endlich konnte er nicht umhin, ihr vorzustellen, daß drei brave Männer, jeder in seiner Art ausgezeichnet, jeder sehr verdient um sie, sich um ihre Hand bewarben. Er selber war kein Tyrann, nein, das war er nicht. Er wollte ja nur das Glück seines geliebten Kindes. Und er liebte Herrn Rodolphe und Herrn Emile ebenso, wie er den Herrn Präsidenten liebte, wenngleich er sagen mußte, daß er für den Herrn Präsidenten ein ganz besonderes, aus Hochachtung und Verehrung gemischtes Gefühl empfand. Und er kannte auch die Welt. Clemences Flucht hatte Aufsehen erregt. Zwar, man hatte Erklärungen gegeben, man hatte gesagt, daß sie sich in Paris zu ihrem künftigen Beruf als Gattin und Mutter, als Leiterin eines vornehmen Haushaltes noch weiter ausbilden wolle. Aber die Verleumdung schweigt nicht. Ja, sie zerreißt das elterliche Herz. Er mußte darauf bestehen, in seiner Eigenschaft als Vater mußte er darauf bestehen, daß Clemence dem einen der drei Bewerber die Hand reichte, denn nur so konnte sie ihren unbedachten Schritt – schonend, aber fest mußte er das sagen – vergessen machen.

Clemence trocknete sich einige Tränen ab, sah sich im Kreise der drei Bewerber um, errötete tief; dann warf sie sich in die Arme ihres Vaters und flüsterte: »Wählen Sie für mich, ich bin Ihre gehorsame Tochter.«

Der Vater küßte sie auf die Stirn und sagte stolz: »Ich wußte, was du erwidern würdest.« Dann führte er sie zu dem Präsidenten, gab sie an dessen Brust, legte seine Hände auf die Häupter der beiden und sagte: »Seid glücklich.«

Herr Rodolphe und Herr Emile schauten sich, gerührt über dieses Bild, an; dann stürzten sie einander in die Arme und weinten.


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