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Die wunderliche Verlobung

Ein verwundeter Offizier kam in einen Winterkurort. Es war ihm ein Finger abgeschossen, die Wunde war so unbedeutend, daß er nicht zu liegen brauchte. Bei Tische bekam er vom Wirt eine Stelle neben einer jungen Dame angewiesen, die mit ihrer Mutter den Tag vorher gekommen war. Das gewöhnliche Gespräch begann, von dem Offizier mit Lebhaftigkeit geführt; denn noch zitterte die Erregung der Schlacht in ihm nach, noch lebte er ganz in der Stimmung der letzten Monate, wo jede Stunde der Tod kommen konnte, und jede Minute deshalb so kostbar war, daß man sie mit der höchsten Kraft der Empfindung und des Geistes auszufüllen suchte. Die Wirtstafel war, wie so Wirtstafeln sind; da saßen so viele Menschen, die genau so gleichgültig waren, wie sie immer sind; aber der junge Leutnant war wie im Rausch; es flimmerte vor seinem Blick von Menschen, Leben, Bewegung, Interesse, er hätte jeden einzelnen umarmen mögen und mit ihm sprechen – ja über was sprechen? Er konnte nicht sagen über was, aber er meinte, über die Wonne des Lebens. Draußen vor dem Fenster glitzerte der Schneestaub in dem starken Sonnenschein, blendend zog sich die weiße Schneefläche hin; Menschen kamen in weißem Schneeanzug, mit geröteten Wangen und strahlenden Augen, und eine Lust, ein Glück, ein Jubel lag in der Luft, daß er an sich halten mußte, um nicht laut herauszuschreien.

Das Essen ging zu Ende, die Gäste standen auf, der Leutnant, seine Nachbarin – Fräulein Else wurde sie genannt –, die Mutter; einige der Gäste gingen auf ihr Zimmer, andere eilten hinaus in die Schneebahn; plötzlich sah sich der Offizier allein, und wie ein Rückschlag auf den inneren Jubel von vorhin kam ihm nun eine tiefe, grundlose Traurigkeit, die ihn fast zu Tränen trieb. Er sagte sich, daß seine Nerven noch unruhig waren und versuchte nach Kräften über die Schwermut Herr zu werden. So war er denn beim Abendessen ruhiger, sprach mehr in dem Ton der anderen; er machte Bekanntschaften, erzählte und hörte; Fräulein Else schien ihm das reizendste von vielen hübschen Mädchen zu sein, die er sah, und er suchte nach dem Essen wieder in ihre Nähe zu kommen, er merkte, daß sie seine Bemühungen verspürte und schelmisch lächelte, indem sie ihn verstohlen ansah.

Aber am anderen Mittag, als er kam, sah Fräulein Else mit hochrotem Gesicht auf ihren Teller und verbiß mit Mühe ein Lachen. Er begrüßte die Damen, das Gegenüber, und rückte den Stuhl, um sich zu setzen. Da sah er, wie sie nicht mehr an sich halten konnte und losplatzte. Sie hielt das Taschentuch vor dem Gesicht. Die Mutter sagte ihr leise ein paar strenge Worte, die Röte stammte auf Wangen und Stirn noch höher auf, ihre Schultern zitterten vor Lachen, und zuletzt stand sie auf, das Taschentuch immer vor dem Gesicht, als habe sie irgendein Übelsein, und ging aus dem Saal. »Sie ist noch das reine Kind,« sagte die Mutter entschuldigend zu dem Leutnant, »trotzdem sie schon neunzehn Jahre alt ist.« Er sagte irgend etwas Freundliches, die Suppe wurde gereicht, man löffelte; als die Suppenteller abgenommen waren, kam Fräulein Else zurück, noch rot im Gesicht, aber mit ernster Miene.

Um etwas zu sprechen, bemerkte er, die Suppe sei ausgezeichnet gewesen. »Das sagt er mir, und durch ihn habe ich sie versäumt,« rief sie ihrer Mutter zu. Er war verwundert über sie; Mutter und Tochter machten einen sehr vornehmen Eindruck, und nun plötzlich war da etwas, was man als schlechten Ton bezeichnen konnte, eine merkwürdige, unbegründete Vertraulichkeit. Er wurde verlegen und sprach vom Rodeln; sie sah ihn schräg an, ihr Gesicht blitzte mutwillig auf, ein neues Lachen schien kommen zu wollen, aber sie bezwang sich noch und sagte: »Nein, ich will ernst sein.« Sie fragte ihn: »Nicht wahr, Ihnen ist es doch lieber, wenn ich ernst bin?«

Nach dem Essen zog die Mutter den jungen Mann in ein Gespräch, sie ging mit ihm in das Lesezimmer und wies auf ein Tischchen am Fenster. Fräulein Else war verschwunden. Er hatte eigentlich gar nicht die Absicht gehabt, ein längeres und gründlicheres Gespräch mit der älteren Dame zu führen, und war sehr verwundert über die Art, wie sie ihn mit Beschlag belegte. Noch mehr verwundert wurde er über den Gang des Gespräches. Die Dame erkundigte sich nach seinen Eltern, fragte, ob er Geschwister habe, forschte diskret, aber doch immerhin merkbar nach seinen wirtschaftlichen Umständen; er konnte sich das alles gar nicht mit dem sonstigen Wesen der würdigen Dame zusammenreimen. Sie erzählte dann auch von sich und ihren Verhältnissen, die sehr günstig waren, lobte ihre Tochter, ihr einziges Kind, wie sie sagte, und trocknete sich dabei eine Träne; dann fuhr sie fort, daß ja heute alles sonderbar und unerhört sei, der Krieg habe so viele festgewurzelte Anschauungen geändert, und so viele, viele junge Leute seien gefallen, vornehmlich aus den höheren Ständen, und endlich schloß sie, man wolle doch seinem Kinde nicht im Wege stehen, und wenn ein Mädchen heiraten könne, so sei das immer ein Glück für sie, denn das Studieren oder das Malen sei doch nur ein Notbehelf, und sie selber sei mit ihrem seligen Mann sehr glücklich gewesen. Es sei ja schrecklich, auf was die jungen Mädchen heute alles kommen, wenn sie keinen Mann kriegen. Ein junges Mädchen aus ihrem Stande sei wahrhaftig Hebamme geworden, die Eltern haben nichts dagegen tun können. Man habe sie ja zuerst nicht fallen lassen wollen, aber es sei auf die Dauer nicht mit ihr gegangen, sie habe immer Geschichten aus ihrem Beruf erzählt und sich dabei auf die Schenkel gehauen. Es schoß dem jungen Mann durch den Kopf, ob die Dame nicht das beabsichtige, was man Männerfang nennt, aber er schämte sich gleich seines Gedankens, als er in ihr gutes, offenes und anständiges Gesicht sah, und so schob er denn das ganze merkwürdige Gespräch auf das allgemeine weibliche Mitteilungsbedürfnis.

Im Laufe des Nachmittags sah er die beiden Damen nicht, am Abend saß er schon, als sie zum Essen kamen. Er sprang dienstbeflissen auf und rückte ihnen die Stühle zurecht; die Mutter setzte sich mit freundlichem Nicken, die Tochter, welche blaß aussah, warf ihm seinen Blick zu und wußte so zu sitzen, daß sie ihm die Schulter zuwendete. Auf seine Gesprächsversuche antwortete sie einsilbig, und weil er in der langen Zeit des Krieges die gesellschaftliche Gewandtheit etwas verloren hatte, so wußte er zuletzt nicht mehr, was er sagen sollte und aß aus Verlegenheit sehr viel. Er mühte sich ungeschickt mit der verwundeten Hand; Fräulein Else sah das und sagte: »Soll ich ...«, sie wollte fortfahren. »Ihnen helfen«, aber sie besann sich plötzlich, und indem sie vergaß, daß sie an der Wirtstafel saß, klopfte sie sich mit dem Händchen auf den Mund, wie junge Mädchen wohl tun, wenn sie unter sich sind. Aber sie behielt die steife Haltung nicht bis zum Ende der Tafel bei. Die schwere Wasserflasche stand in einiger Entfernung von ihr. »Noch nicht einmal ein Glas Wasser gießen Sie einem ein,« sagte sie zu ihm. Überrascht sah er ihr ins Gesicht; wieder war der Ton so merkwürdig vertraut. »Nun ja!« fuhr sie fort; ein merklicher Unmut war in ihrem Gesicht, und er sah eine Träne blitzen. »Habe ich Ihnen etwas zuleide getan?« fragte er bestürzt; sie schüttelte den Kopf, sah vor sich hin und spielte mit der Gabel. »Kommen Sie nach dem Essen noch mit mir hinaus,« sagte sie hastig und leise, »Mama bleibt abends immer in ihrem Zimmer.« Er machte eine leichte Verbeugung. »Vielleicht haben die Damen ein Anliegen,« dachte er bei sich.

Aber als sie nun warm verhüllt auf dem knirschenden Schnee gingen, zwischen den kleinen Häusern, welche an der Straße lagen, wo man durch die kleinen Fenster den Leuten in ihre behaglichen niedrigen Stuben mit dem glühenden, eisernen Ofen sehen konnte, da begann sie ihm heftige Vorwürfe zu machen. Sie habe immer ihre eigene Ansicht über die Männer gehabt. Aber es gebe doch Ausnahmen. Ihn habe sie für eine Ausnahme gehalten. Aber sie sehe nun wohl ein, daß sie sich getäuscht habe. Er habe vielleicht geglaubt, sie werde ihrer alten Dame nichts sagen. Ihre alte Dame wisse alles. Sie sei sehr vernünftig, man könne mit ihr sprechen. »Aber was denn nur?« fragte sprachlos der junge Offizier.

Sie waren auf der Straße weiter gegangen bis an das Ende der Häuser. Von den Fremden kam um diese Zeit niemand hierher. Vor ihnen lag die bläulich weiße Schneeebene, weit hinten abgegrenzt durch den Streifen des dunkeln Waldes, über ihnen funkelten in der kalten Luft die Sterne.

Fräulein Else schluchzte laut auf und warf sich an seine Brust. »Es ist schändlich!« rief sie. »Sie wissen, daß ich nicht kokett bin. Sie wissen, daß, daß ... quäle mich doch nicht so. Weshalb stehst du denn da wie ein Stock!« rief sie empört, riß sich von ihm los und stand vor ihm mit geballten Fäustchen und stampfte mit dem Fuß auf.

Nun war er ja eigentlich noch ratloser wie vorher. Aber hier kam ihm nun plötzlich das Gefühl aus dem Schützengraben zur Hilfe: »Ach was!« dachte er, soweit er überhaupt dachte, »morgen ist morgen, du küßt sie ab.« Also ergriff er sie, drückte sie fest an sich und küßte die halb Willige, halb Widerstrebende auf die Lippen, eine Träne war niedergelaufen, und er schmeckte das salzige Naß.

»Hast du mich denn wirklich so lieb?« fragte sie, indem sie sich an ihn schmiegte. »Meine Mutter sagte, es ist bloß große Liebe gewesen.« »Was denn?« fragte der Leutnant unschuldig. Ärgerlich riß sie sich los und rief: »Nun tut er schon wieder dumm.« Dann nahm sie seinen Arm, wendete mit ihm um nach dem Haus und sagte: »Komm.«

Sie zog ihn in das Zimmer der Mutter. Er versuchte leicht zu widerstreben, aber das half ihm nichts.

Die Mutter saß in einem tiefen Korbstuhl. Sie faltete die Hände und sagte: »Es ist ja ungewöhnlich, Kinder, es ist ja ungewöhnlich.« Er wußte nicht recht, was er sagen sollte, Fräulein Else legte ihren Hut ab und knöpfte energisch ihren Mantel auf. »So schnell, Kinder, so schnell,« sagte die Mutter. »Wann sind Sie doch gekommen, Herr Leutnant?« Der junge Mann stotterte verlegen die Antwort. »Du kannst alles mit mir anstellen, was du willst, Kind! Wenn dein Vater noch lebte, der würde das nicht dulden,« fuhr sie fort. Fräulein Else kniete vor der Mutter nieder, streichelte ihre Hände, legte ihren Arm um sie, schmiegte den Kopf in ihren Schoß, blickte lachend zu ihr auf und sagte: »Ach, ich bin so glücklich.« Die Mutter fuhr ihr liebkosend mit der Rechten über das glatte Haar. »Bist du glücklich, Kind?« fragte sie. »Seien Sie gut zu ihr,« sprach sie zu dem Leutnant, indem sie sich zu ihm wendete, »sie ist ein stolzes Mädchen, ich kenne sie nicht wieder, sie hat Sie sehr lieb.« Hier kam ein heftiges Schluchzen über Fräulein Else; sie klammerte sich an die Mutter an und rief: »Nein, ich lasse dich nicht, ich will bei dir bleiben, ich gehe nicht von dir fort.« Die Mutter strich ihr liebkosend über die Haare.

»Es ist sehr heiß im Zimmer,« sagte der Leutnant, indem er sich mit dem Zeigefinger zwischen Hals und Kragen fuhr.

»Weshalb haben Sie denn nur den Brief geschrieben? Sie hat den ganzen Nachmittag geweint,« fragte die Mutter mit leichtem Vorwurf.

»Welchen Brief?« fragte er verwundert.

»Den zweiten,« erwiderte sie.

»Den zweiten Brief? Ich habe gar keinen Brief geschrieben!«, erwiderte er.

Fräulein Else sprang auf. »Was, keinen Brief ... Sie leugnen die Briefe ab ... Ich habe mich ihm an den Hals geworfen, er will mich gar nicht!« schrie sie auf.

»Es liegt hier ein Irrtum vor,« sagte er mit bebender Stimme. »Ich liebe Sie, Fräulein, und ich werde mich glücklich schätzen, wenn Ihre Mutter mir Ihre Hand gibt. Aber ich habe keinen Brief geschrieben!«

Fräulein Else lief in ihre Kammer, holte ein Kästchen, schloß es mit einem Schlüsselchen auf, das sie in der Geldtasche hatte, und hielt ihm zwei Briefe vor. »Das ist nicht meine Handschrift,« sagte er. »Darf ich lesen?« Fräulein Else warf sich in einen Stuhl, schlug die Hände vors Gesicht und nickte.

Die beiden Briefe waren ohne Unterschrift. Der erste enthielt eine leidenschaftliche Liebeserklärung, der zweite heftige Vorwürfe, daß Fräulein Else kokettiere. »Die Briefe sind jedenfalls von einem Herrn an der Tafel geschrieben, der nicht wagte, persönlich vorzutreten,« sagte der junge Mann.

»Wer kann das denn sein? Der bucklige Rechtsanwalt!« rief das junge Mädchen und lachte, aber dann fuhr sie fort: »Nein, das ist schlecht von mir. Der arme Mensch!«

»Aber was muß denn der Herr Leutnant von uns gedacht haben?« fragte die Mutter. Beide Frauen wurden tödlich verlegen. Er aber nahm seine Braut in den Arm, und indem er sie lachend küßte, sagte er: »Endlich bin ich auch einmal Herr der Lage.«


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