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Das deutsche Volk und der Dichter von heute

(1932)

Es scheint, daß heute nur wenige Leute wissen, was Volk, und noch weniger, was der Dichter ist; es ist also nötig, vor Beginn der versprochenen Untersuchung beide Begriffe zu bestimmen.

Das Volk ist nicht die Summe seiner Einzelmenschen, auch nicht eine Anzahl sich bekämpfender Stände oder Klassen. Wie der Einzelmensch aus einer Anzahl von Zellen besteht und doch etwas anderes ist als die Summe dieser Zellen, so ist auch das Volk etwas anderes als eine solche Summe oder Anzahl. Es ist eine eigene, bestimmt zu umschreibende Persönlichkeit mit eigenem und einzigartigem Charakter und ebensolchem Schicksal, das bestimmte, nur Gott bekannte Aufgaben in der großen Menschenwelt zu erfüllen hat. Diese nur Gott bekannten Aufgaben werden im Lauf seines Lebens von ihm erfüllt, ohne daß sie ihm zum Bewußtsein kommen müssen. Die Erfüllung geschieht durch geheimnisvolle Bewegungen in ihm, die ihm selber nicht klar zu sein brauchen, deren Ursachen es auch nicht kennen muß.

Dieses Leben des Volkes wird durch die Führer geleitet, die eine höhere Bewußtheit haben als die Gesamtheit. Aber wenn man genau beobachtet, so findet man fast immer, daß die Führer anderes erreichen, als sie bewußt wollen; es muß also wohl ihre höhere Bewußtheit nur ein Mittel in der Hand des Gottes sein, der die Schicksale der Menschen leitet, der die höchste, allein richtige Bewußtheit hat.

Zu den wichtigsten Führern gehören die Dichter; wenn man das Wort »Dichter« in seinem höchsten Sinn nimmt, wie man bei dieser Betrachtung muß, so sind sie überhaupt die wichtigsten. Es drückt sich in ihnen Art und Schicksal des Führers ans: Der Führer führt dahin, wohin die Geführten gehen wollen; das Wollen des Volkes, das dumpf und unbewußt ist, kommt in ihnen zu Klarheit und Bewußtheit; aber Klarheit und Bewußtheit gelten nur für das Wollen und nicht für das Ziel, dem sich, da es den Menschen ewig unbekannt sein wird, im Bewußtsein gewöhnlich falsche Ziele vorschieben.

Wer an eine Leitung der Einzelnen und der Völker durch Gott glaubt – und wer das nicht glaubt, der muß ja verzweifeln, muß also den Grund seines Daseins verneinen – der muß also auch glauben, daß die Dichter in ganz besonderer Weise durch Gott geleitet werden, damit sie das, was ihnen von Gott offenbart ist, an ihr Volk weitergeben.

Die Dichter bilden die Gefühle, welche die Menschen nach ihnen haben sollen, ja, sie bilden die wesentlichen Gedanken, nämlich die, welche auf die Gestaltung des Lebens gehen, und sie bilden die Sprache, in der sich beides ausdrückt und für die Nachkommen erhält.

Der Wunsch unterscheidet sich dadurch vom Tier, daß er Geschichte hat. Das Tier lebt ewig von Geschlecht zu Geschlecht in seiner gleichen Welt. Die Welt, in welcher der Mensch lebt, verändert sich. Sie verändert sich langsamer oder schneller. Heute verändert sie sich sehr schnell; man ist geneigt, zu sagen, daß sie sich noch nie so schnell verändert hat wie heute. Sicher gilt das für gewisse Teile der Menschheit: der Arbeiter, der vom bäuerlichen Land in die Großstadt versetzt wird, erlebt eine Veränderung seiner Welt von einer Größe, wie sie noch nie war. Eine noch größere Veränderung erlebt der Geistige, der aus herkömmlich geordneten Verhältnissen in die mechanistisch neugeordneten kommt, vielleicht deren Gefahr erkennt und sich wieder in eine noch organische rettet.

Mit der Veränderung seiner Welt verändern sich also die Aufgaben des Volkes und damit sein gesamtes Leben. Es verschieben sich auch die Klasse oder der Stand, welche die Führung haben und dadurch dem Gesamtvolk ihren Charakter aufprägen. Um das zu verstehen, mache man sich klar, daß bis 1250 etwa Deutschland aristokratisch war, von da an verschiedene Formen des städtischen Bürgertums die Führung hatten, und daß das Volk heute proletarisiert ist.

Die allgemeine Aufgabe des Menschen, die er in allen Zeiten erfüllen muß, ist, zu Gott zu kommen. Erfüllt er diese Aufgabe nicht, dann ist sein Leben ohne Inhalt, dann verkümmert er in irgendeiner Weise. Die besondere Aufgabe der Zeit ist, diese allgemeine Aufgabe in den Formen und Möglichkeiten der Zeit zu erfüllen: der Ritter kommt in anderer Weise zu Gott wie der Bürger, und dieser wieder in anderer wie der Arbeiter. Der Dichter muß mit seinen Mitteln den Menschen seiner Zeit ihre besondere Aufgabe zeigen. Da diese Aufgabe die Art ihrer Lebensführung ist, so hat er das Leben in seinen wesentlichen Äußerungen darzustellen, so, wie es Gott ihm ins Herz gelegt hat, wie Gott also die Menschen der Zeit führen will: er muß die Gefühle darstellen, die sie haben sollen, ihre Erlebnisse, ihre Schicksale, sie selber und ihre ganze Welt.

So, wie es Gott ihm ins Herz gelegt hat, wie Gott die Menschen führen will. Er muß also auf die innere Stimme hören und sich hüten, daß er sich nicht irremachen läßt durch Äußeres, besonders durch Ansprüche der anderen Menschen, die ihn immer herunterziehen wollen. Alles Gedichtete ist eine Einheit: bis in das letzte Handwerkliche hinein muß er der inneren Stimme folgen, und wenn es der Satzbau ist oder Klang und Rhythmus, Wahl des Gegenstandes oder die Art der Charaktergestaltung.

Die letzte Zeit wird im wesentlichen bezeichnet durch eine unerhörte Steigerung der Ertragsfähigkeit der Arbeit und daraus sich ergebende Bereicherung der gebildeten Menschheit. Diese Bereicherung wurde bezahlt damit, daß der Arbeit ihr Glück geraubt wurde, so, daß sie nicht mehr als der wesentliche Inhalt des Lebens betrachtet werden kann, welche den Zweck des Lebens erfüllt: den Menschen zu Gott zu führen. Der ungestillte Glückshunger suchte anderswo Befriedigung und fand ihn im Genuß. Der reine Genuß, der Genuß an sich, nicht als Begleiterscheinung, ist aber geist- und seelenlos. So erfüllte sich denn das Leben des modernen Menschen in geist- und seelenloser Arbeit und geist- und seelenlosem Genuß; und sein Ziel wurde natürlich, das Maß der Arbeit, die als Last erschien, zu verkürzen und das Maß des Genusses, das man nun als Ziel des Lebens betrachtete, zu erhöhen. Dieses edle Streben war denn der ganze Sinn der Revolution von gestern.

In einer solchen Zeit ist kein Raum für die Dichtung. Sie verschwand aus dem Leben des Volkes. Aber der Vorgang des Verschwindens einer bedeutenden Macht ans dem Leben ist meistens nicht so, daß da nun ein leerer Raum entsteht; in vielen Fällen tritt eine Art Ersatz für das Verschwundene ein, das man nun gewohnt ist, das man aus irgendwelchen fremden Gründen für nötig hält. So trat an die Stelle der Dichtung das Literatenwesen, das einen mehr oder weniger zweifelhaften Genuß bot, sich dabei selber frech als Dichtung bezeichnete und für solche gehalten wurde. Der alte Gottfried Keller sprach einmal von dem »Gesindel, das den Dichtern ihr Geld und ihre Ehre stiehlt«. Das ist mit begreiflichem Haß gesagt und ist deshalb nicht richtig. Geld haben die Dichter immer nur sehr selten bekommen, und der ihnen angemessenen Ehre, der bei der Nachwelt, sind sie auch heute sicher. Keller hat sich eben nicht klar gemacht, daß das Gesindel mit den Dichtern nichts gemein hat, sondern hat schließlich doch ihren Anspruch, als Dichter zu gelten, irgendwie ernst genommen, indem er sie etwa für schlechte Dichter hielt und nun darüber empört war, daß die Schlechten bekommen sollen, was den Guten gebührt. Das Gesindel tut mehr, als die Dichter zu bestehlen, es tut Schlimmeres: es entwürdigt das Volk, welches das Geschäftspack an die Stelle der Dichter gesetzt hat. Man denke nur an den Zustand unserer Bühne: auf manchem Theater befindet sich noch eine Inschrift: »Der Menschheit Würde liegt in eurer Hand«; und im Haus wird mit der frechsten Unverschämtheit der Dichter ferngehalten, während gleichzeitig von der Leitung des verarmten und hungernden Volkes aus öffentlichen Mitteln Zuschüsse verlangt werden, um das albernste und dümmste, ja, giftigste Zeug aufzuführen.

Es ergibt sich, daß ein Dichter, welcher in einer solchen Zeit geboren wird, ganz einsam leben muß, daß niemand ihn versteht, niemand die Gaben annimmt, welche er dem Volk reicht. Aber dafür stellt auch das Volk keine Ansprüche an ihn. In seiner Einsamkeit hat er eine Freiheit, wie noch nie in einer Zeit ein Dichter hatte; und wenn es ihm gelingt, sich in den Zustand der Einsamkeit zu finden, dann kann er ungestört auf die Stimme des Gottes in seiner Brust hören, die ihm befiehlt, das zu sagen, was für sein Volk in seiner Zeit nötig ist, was auch für alle Zeiten Gültigkeit haben wird, die andere Formen des Lebens haben und eine neue Dichtung haben werden, welche diesen Formen angepaßt ist. Mit anderen Worten: die Zeit, welche die Dichtung von ihrer königlichen Stelle vertrieben hat, um statt ihrer eine feile Dirne einzusetzen, kann gerade deshalb eine Zeit der großen Dichtung sein. Nicht umsonst berichtet die Sage, daß Homer ein Bettler war. Die sogenannte Verkennung ist wahrscheinlich eine notwendige Voraussetzung für die große Dichtung.

Nun geht diese Zeit zu Ende, es zeigen sich die ersten schüchternen Anfänge einer neuen Zeit. Ob von der zu Ende gehenden Zeit die Arbeiter am meisten benachteiligt waren, mag fraglich sein; jedenfalls fühlten sie ihre Nachteile am unmittelbarsten, und deshalb kämpften sie als die ersten gegen sie an und werden voraussichtlich ihre Totengräber sein. Die Idee, mit welcher sie kämpfen, ist offenkundig falsch; Marxismus und Kommunismus, wie die Arbeiter sie verstehen, werden bloß die geschichtliche Bestimmung haben, zu zerstören, aber nicht, aufzubauen; sie ziehen ja nur die äußersten Folgerungen dieser sterbenden Zeit: die letzte Entseelung der Arbeit, die Auffassung der Arbeit als Last, die man sich möglichst leicht macht, und den Genuß als Zweck des Lebens. Wir sahen in den Kämpfen der Arbeiter ein Beispiel für das am Beginn Gesagte, daß der Zweck der geschichtlichen Bewegungen den Völkern, die sie machen, unbekannt ist, denn die Arbeiter waren überzeugt, daß sie durch ihre Kämpfe eine neue Lebensform der Menschheit schufen. Die neue Lebensform der Menschheit entsteht an ganz anderer Stelle, an der vor allem die Tötung wirksam ist; die Dichtung, welche nicht bloß politisch oder sozial wirken will, sondern ihre eigentlich dichterische Aufgabe erfüllen: den Menschen ein schönes und gutes Weltbild zu zeigen.

Ein jeder Mensch arbeitet im Auftrage Gottes, die meisten, ohne es zu wissen. Man stelle sich vor, wie ein Haus abgerissen wird und ein neues gebaut. Die Arbeiter hacken, schaufeln und karren; sie graben auf dem Bauplatz für neue Grundlagen und behauen im Steinbruch die Steine, mit welchen die neuen Mauern gebaut werden sollen; sie fällen im Wald das Zimmerholz und gießen in der Eisenhütte die Öfen. Man nehme an, daß die Arbeiter den Zweck ihrer Arbeit nicht kennen und nur der Meister ihn weiß, der in seinem Zimmer die Pläne des alten Hauses hat und die Pläne des neuen, der jeden Abend Bericht bekommt, was den Tag über geschehen ist, und Befehl gibt, was am nächsten Tag geschehen soll. Die Arbeiter stellen sich aus ihrem beschränkten Verstand allerhand Zwecke vor für ihre Arbeit: daß das alte Haus abgerissen wird, weil eine neue Straße gelegt werden soll, daß die Steine im Steinbruch zum Pflastern dieser Straße dienen sollen und das Zimmerholz später zum Heizen verwendet wird.

Auch der Dichter stellt sich seinen Zweck mit seinem beschränkten Verstand vor. Aber wenn er treulich, ohne auf seinen vorwitzigen Verstand zu hören und auf die Reden der anderen Arbeiter, den Befehl des Meisters erfüllt, so dient er dessen Zweck, der auch ihm unbekannt ist. Die vergehende Zeit war überzeugt, daß die geschichtlichen Veränderungen in der Menschheit nur durch stoffliche Ursachen bedingt werden. Es würde zu weit führen, die Unrichtigkeit dieser Ansicht hier aufzuweisen; die Vorgänge sind viel verwickelter, als man sich vorstellte; jedenfalls sehen wir, wie der Untergang der bisherigen Welt durch eine Unzufriedenheit der Menschen mit ihr kommt, welche die großen Segnungen überhaupt nicht mehr sehen, die sie doch gebracht hat, und sich unglücklich in ihr fühlen. Die Ursache des Unglücks war die Unterdrückung des organischen Lebens und sein Ersatz durch die Mechanisierung, welche durch die veränderte Arbeitsmethode und alles, was mit ihr zusammenhängt, bewirkt wurde. Die Ursache des Unterganges ist also geistiger Natur.

Im Geistigen zeigen sich nun heute auch die ersten Ansätze zu einer neuen Welt.

Schon wenn wir über die Seelenkunde des Einzelmenschen nachdenken, so versagen die Worte, welche wir für sie herkömmlich gebrauchen, weil sie aus Zeiten stammen, welche da andere, einfachere Begriffe hatten. Für die Seelenkunde des Volkes haben wir aber noch nicht einmal solche unbrauchbaren Worte, weil sie bis jetzt fast noch nie behandelt ist. Ich muß mich deshalb weitschweifig ausdrücken und kann nur Andeutungen und zufällig ausgewählte Angaben machen.

Ich gebe nur ein Beispiel. Der Kommunismus würde lediglich eine Wetterführung des bisherigen Zustandes sein: entseelte Arbeit, die nur den Zweck der Güterherstellung hat, die als Last empfunden wird, neben welche als eigentlicher Zweck des Lebens der Genuß tritt. Aber der Kommunismus wäre nur möglich, wenn an die Stelle des bisherigen Lebensgefühls: der Vereinzelung, des Kampfes aller gegen alle, der Arbeit bloß als Mittel der Lebenserhaltung, des Genusses des Einzelmenschen ohne Rücksicht auf die Gesamtheit – ein neues Lebensgefühl träte: die Verantwortlichkeit des Einzelnen für das Gesamtgeschehen, der Treue gegen die Volksgemeinschaft, der Arbeitsehre usw. Dieses Lebensgefühl ist aber mit den Zielen des Kommunismus: entseelte Arbeit und das Leben mit dem Zweck des Genusses, unverträglich; es setzt eine tragische, ja religiöse Lebensauffassung voraus. Der Kommunismus ergibt sich also, wie schon angedeutet wurde, als eine falsche Zielsetzung, der aber doch ein richtiges Gefühl zugrunde liegt: die Arbeit ist heute gesellschaftlich geworden und muß für die Gesellschaft geschehen, nicht mehr für den Einzelnen. Die Nationalsozialisten haben die Falschheit der Zielsetzung erkannt; ihrem Streben liegt zum Teil dasselbe richtige Gefühl wie dem der Kommunisten zugrunde; aber ihr Vorzug ist, daß sie das richtige neue Lebensgefühl predigen, das aus einer tragischen, ja religiösen Lebensauffassung kommt. Man muß hoffen, daß diese national-geistige Kraft die Fähigkeit hat, auch die praktischen Aufgaben zu lösen.

Das neue Lebensgefühl ist aber doch das Wichtigste. Wenn es ganz allgemein durchgedrungen ist, so wird die Erneuerung unseres Lebens möglich sein, eine Form geschaffen werden, in welcher die Menschen wieder für lange Zeit leben können. Denn der Geist bestimmt die Wandlungen im Leben der Völker, nicht die Art, wie sie ihre Unterhaltsmittel herstellen.

Wie vor dreihundert Jahren Deutschland das ganze Leid fast der damaligen Umwandlung auf sich nahm, so geschieht es auch heute. Das ist nun unser Schicksal, das uns durch Gottes unerforschlichen Ratschluß verhängt ist – unerforschlich, auch wenn wir noch so sehr geschichtlich und geographisch forschen. Unsere Aufgabe ist, aus diesem Schicksal das Beste für uns und die Welt zu machen. Gott hat uns dadurch vor allen anderen ausgezeichnet, daß er uns die schwerste Aufgabe gestellt hat.

Das Tragische ist die Vorstufe des Religiösen. Die Tragödie ist der Ausdruck der Verzweiflung an Gott und Gottes Welt. Aber erst der, welcher an Gott und Gottes Welt verzweifelt, kann Gott finden. Glückliche Zeiten, welche die Verzweiflung nicht kennen, mögen sich mit dem Glauben an den Gott der Väter zufrieden geben, der denn immer dünner wird, bis er zuletzt ganz verschwunden ist und der freche Unglaube herrscht, der als Ende immer wieder die Verzweiflung hat. Unser Volk hat lange Zeit gebraucht, bis es begonnen hat, seine heutige Lage zu verstehen, die Lage der ganzen Welt. Es ist nahe an der Verzweiflung, aber noch ist es nicht ganz verzweifelt, noch gaukelt es sich Träume vor; erst muß es noch die nackte Wahrheit erkennen.

So ist es noch weit von der Möglichkeit eines neuen Glaubens: wer könnte ihm in einer solchen Zeit helfen, wenn nicht der Dichter? Der Dichter muß das Volk so lange führen, bis er es zu der Vorhalle von Gottes Tempel geführt hat; dort wird ein anderer Führer an seine Stelle treten, wie Christus an die Stelle des Täufers Johannes trat.

Je weiter die Menschheit auf ihrem Weg fortgeschritten ist, desto mehr wurde ihr der Dichter nötig. In Zeiten des geistigen und sittlichen Niederganges wie die ist, aus der wir uns heute langsam zu erheben beginnen, mag die Stelle des Dichters der Literat einnehmen. Wir sehen heute vor unseren Augen, wie die Gestalten der Literaten mit unheimlicher Geschwindigkeit verblassen; in dem Maß, wie der Literat verschwindet, tritt der Dichter in den Vordergrund; die Menschen beginnen den Dichter wieder zu verstehen, sie beginnen zu verstehen, daß er Forderungen an sie stellt, die ihnen in den Zeiten des Niederganges unbequem waren; sie werden beginnen, diese Forderungen zu erfüllen. Die sind aber nichts, als die Aufgaben, die ihnen gestellt sind, deren Erfüllung in ihnen vorbereitet ist; denn der Dichter, welcher zu seinem Volk gehört, sagt nichts, als was in seinem Volk, wenn auch schlummernd, lebendig ist.

Er rollt vor ihm das tragische Weltbild auf, und so entzündet er es in seiner tiefsten Verzweiflung zu Stolz; indem er ihm ein komisches Weltbild zeigt, bringt er die Gemeinde zu dem Lachen, das sie von der Gemeinheit des bedrückend Wirklichen befreit. Er läßt das Volk lyrisch aufgehen in schönen, zarten und erhabenen Gefühlen, durch welche die Wirklichkeit und ihre Notwendigkeit vergoldet wird; er zeigt dem Volk im Epos die großen Gestalten, nach denen es sich bilden soll, im Roman befreit er das tägliche Leben von seiner Schwere, und in der Novelle zeigt er in anmutiger Darstellung tragisches und komisches Einzelgeschehen besonderer Art. So leitet er unmerklich das Volk zu seinem Ziel: zu dem Vorhof von Gottes Tempel, wo ihm die endgültige Wahrheit gesagt, das endgültige Ziel genannt wird – die für einige Zeit endgültige Wahrheit und das für einige Zeit endgültige Ziel. Und wenn diese Zeit wieder zu Ende geht, dann mag neben der neuen Dichtung, die dann wieder erstehen wird, auch die Dichtung unserer Zeit wieder lebendig werden, die inzwischen als alte Dichtung neben andere alte Dichtung getreten ist, und mag erweisen, daß wahre Dichtung ewig ist.

Anmerkungen des Herausgebers aus ©-Gründen (Karl August Kutzbach, 1903-1992) gelöscht. Re


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