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Über das dichterische Schaffen

Gedanken zum Vergil-Gedenkjahre

(1930)

Es sind in der heutigen Welt, besonders in Deutschland, grundfalsche Vorstellungen über die Art des dichterischen Schaffens verbreitet, welche sehr dazu beitragen, die Dichtung für das Volk unverständlich zu machen. Denn wir sind heute schon längst nicht mehr in einem Zustand, wo Dichtung unmittelbar auf das Volk wirkt. Die einseitige Ausbildung des Verstandes in der heutigen Menschheit hat diejenigen Kräfte in den Hintergrund gedrängt, durch welche die Aufnahme der Dichtung vor sich geht. Bei den weitaus meisten Menschen muß die Dichtung erst an der Torwache des Verstandes vorbeigehen und sich bei der ausweisen. Wenn die Torwache nun falsche Anweisungen hat, so wird sie naturgemäß die arme Dichtung falsch behandeln.

Die Hauptursache für die falschen Vorstellungen ist der Umstand, daß die Menschen infolge der Überflutung mit der Literatenliteratur überhaupt den Begriff der Dichtung verloren haben.

Ich möchte einige Worte über eine gewisse seelische Voraussetzung für das dichterische Schaffen sagen und diese Voraussetzung für die heutigen Menschen zu erklären suchen.

Im Altertum bezeichnet man die Dichter als Seher und nimmt an, daß ihnen göttliche Offenbarungen zuteil werden. Man muß sich klar machen, daß jedes Zeitalter seine eigene Sprache hat, daß man nicht die Worte eines Zeitalters gedankenlos den Worten eines anderen gleichsetzen darf, sondern verstehen muß, was ihre Zeit mit ihren Worten meint, die man dann in unsere zu übersetzen hat. Diese schwierige Übersetzung geschieht selten, und so kommt es denn, daß der Ausdruck »Seher« und »Offenbarung«, den wir vom Altertum her hören, uns heute wunderlich anmutet; und daß wir unter Umständen sogar geneigt sind, ihn für eine bloße Floskel zu halten.

Unter Umständen. Ich denke heute an die Dichtung des Augusteischen Zeitalters. Diese ist für unsere geschichtliche Einsicht Nachahmung der hellenistischen Dichtung. Viele Leute begreifen heute nicht, wie es möglich war, daß man einmal Vergil und Horaz für große Dichter gehalten hat; und wenn die beiden davon sprechen, daß sie von der Muse begeistert sind, so hält man das für eine Redewendung, die sie aus der hellenistischen Dichtung herübergenommen haben, ohne sich viel dabei zu denken, wie diese sie in ähnlicher Weise aus der älteren und ältesten Dichtung empfangen habe.

Aber Horaz und Vergil waren große Männer, die genau wußten, was sie sagten. Man kann sie natürlich nicht mit den griechischen Dichtern vergleichen. Sie waren etwas ganz anderes. Sie haben zwar in überkommenen Formen gedichtet, aber in diesen Gefühle und Gedanken ausgedrückt, die sie in leidenschaftlichster und tiefster Weise selber erlebt haben.

Ein jeder Dichter, der sich selber zu beobachten imstande ist, könnte wichtige Dinge berichten. Er wird es schwerlich tun, denn durch eine Darstellung dieser geheimnisvollen Vorgänge könnte er die Kräfte in sich zerstören. Ich möchte hier aber etwas erzählen, das eine ganz schwache Ähnlichkeit mit gewissen Vorgängen beim dichterischen Schaffen hat.

Man kann folgenden Versuch machen. Man schreibt die Buchstaben des Alphabetes auf gleichgroße Stückchen Papier und verteilt diese in gleichmäßigen Abständen rings um den Mittelpunkt eines runden Tisches. Dann setzt sich eine nicht allzu große Gesellschaft, vielleicht fünf bis sechs Personen, um den Tisch. Es steht ein Wasserglas umgekehrt auf dem Tisch. Auf dieses legen die Personen je die äußerste Spitze eines Fingers, so leicht wie nur möglich, so daß kein Schieben oder Drücken zustandekommen kann. Dann muß jeder ganz gesammelt an etwas denken, was ihm das Glas beantworten soll. Nach einiger Zeit ruckt das Glas und fängt dann an im Zickzack oder im Kreis zu laufen. Man hat den deutlichen Eindruck, daß das Glas eigenen Willen hat. Das Glas rennt gegen einen Buchstaben, den eine Person aufschreiben muß, die nicht am Spiel beteiligt ist. Langsamer oder schneller rennt das Glas gegen andere Buchstaben, die gleichfalls aufgeschrieben werden. Nachdem das eine Weile geschehen ist, bleibt das Glas hartnäckig stehen. Die Gesellschaft nimmt nun die Finger vom Glas, und man kann das Aufgeschriebene lesen, indem man die Buchstaben zu Worten zusammenfindet, was nicht immer ganz leicht ist, denn die Buchstaben folgen ohne Trennung hintereinander. Ich habe verschiedentlich dieses Spiel in einem kleineren Kreis betrieben und dabei folgende Beobachtungen gemacht. Erstens: die Anwesenden kannten nicht die Stelle, wo ein bestimmter Buchstabe lag. Aber wenn man die Blättchen umkehrte, so daß der Buchstabe nicht sichtbar war, dann kam nichts zustande. Die Anwesenden müssen also, ohne daß es ihnen selber zum Bewußtsein gekommen ist, die Stellung der Buchstaben ganz genau gewußt haben. Dieses Wissen müssen die fünf Menschen miteinander geteilt haben. Mit anderen Worten: die Zettel mit den Buchstaben sind ein Instrument, welches die fünf Menschen benutzen, um etwas auszudrücken, ohne daß sie dieses Instrument mit ihrem bewußten Verstand beherrschen. Zweitens: es kam immer eine vernünftige Antwort zustande. Und zwar immer eine Antwort auf eine Frage, welche eine Person schweigend gestellt hatte, die offenbar die stärkste, entweder augenblicklich oder dauernd, in dem Kreis war. Die Stärke wird nicht bestimmt durch den Verstand, sondern durch etwas, was man vielleicht am besten mit »Vitalität« bezeichnet, wobei man sich über das Bedenkliche dieses Wortes klar sein muß.

Das Glas ist also eine Maschine, welche fünf Personen zwingt, dasselbe zu denken wie die Person, welche die stärkste unter ihnen ist; und welche zugleich aus dem Unterbewußtsein dieser Person Dinge herausbringt, die sich sonst nicht geäußert hätten.

Ich habe die Geschichte mit dem Glas aus folgendem Grunde erzählt. Wahrscheinlich wird bei allen Menschen das sogenannte Unbewußte sich irgendwie äußern; es wird nur bei den heutigen Kulturmenschen fast immer durch den Verstand unterdrückt; und da, wo es sich doch äußert, durch den Verstand falsch gedeutet.

Wenn man in einer Gesellschaft den Versuch mit dem Glas macht, dann wird ja wahrscheinlich nie etwas Wesentliches herauskommen. Aber man kann dieses Kleine, ja Läppische mit dem Großen und Gewaltigen vergleichen. Beim Vorgang des Schaffens wirken im Dichter geistige Kräfte, die jenseits seines Bewußtseins sind; was eine gleichzeitige außerordentliche Wachheit des Bewußtseins nicht ausschließt. Es wird dadurch möglich, daß er Dinge künden kann, welche die anderen Menschen nicht wissen, ja, die er selber nicht weiß. Die Wachheit des Bewußtseins geht auf das Formale. Auch die Form läßt sich durchaus nicht allein durch ganz bewußte geistige Vorgänge erklären; aber diese haben einen großen Teil an ihr; zu einem sehr viel größeren Teil hängt alles Inhaltliche vom Unbewußten ab. Es ist eine besondere Kunst für den Dichter nötig, die verschiedenen geistigen Kräfte gleichzeitig so zu verwenden, daß keine die andere stört; die Wachheit hat ihre sehr großen Gefahren und kann unter Umständen vernichtend wirken.

Angesichts des Umstandes, daß die Literatenliteratur heute in der Öffentlichkeit die Dichtung fast ganz verdrängt, möchte ich noch ganz besonders betonen, daß die Tätigkeit der unbewußten seelischen Kräfte beim Vers viel größer ist als bei der Prosa; die heutige Literatenliteratur besteht ja aber zum größten Teil aus Romanschreiberei. Überall da, wo der Dichter fühlt: »Es ist so«, liegt eine Wirkung unbewußter Kräfte vor. Da ist nichts zu beweisen und zu erklären, da muß denn einfach die Wirkung der Wahrheit eintreten; der Leser oder Hörer spürt gleichfalls im Augenblick: »Es ist so«.

Da müssen nun sehr merkwürdige Zusammenhänge verborgen liegen. Ich erwähnte Vergil und Horaz. Die beiden haben ausgedrückt, was der Römer ihrer Zeit fühlte und nicht ausdrücken konnte. Wer war der Römer ihrer Zeit? Das waren ein paar herrschende Familien in Rom und ihr nächster Anhang; alles andere schwang mit. Die beiden großen Dichter haben nicht als die zufälligen Menschen gewirkt, die sie waren, sie hatten recht, wenn sie sagten, daß die Muse durch sie sprach; es sprach durch sie eine große politische Idee. Wir sind heute gewohnt, unter dem Einfluß des bürgerlichen Lebens und Fühlens, daß der Dichter seine Einzelpersönlichkeit ausdrückt; aber unsere Zeit ist nur eine kleine Episode in der Menschheitsgeschichte gewesen; sie geht heute zu Ende, und wir wissen nicht, was nachher kommt, jedenfalls nichts, was diese Vereinzelung wieder ermöglichen wird.

Es sind nur besondere Zeiten, in denen der Dichter nach der Art jener beiden Römer dichten kann, wenn der Schwung eines gewaltigen Geschehens ihn trägt. Unsere klassische Zeit hatte den Begriff des allgemein Menschlichen. Dieser Begriff war richtig gebildet und erklärt ausgezeichnet die Tätigkeit des Dichters. Das allgemein Menschliche hat niemand gesehen oder mit andern Sinnen wahrgenommen, es ist eine Idee. Aber eine Idee, die in der Seele bedeutender Menschen lebt und durch den Dichter aus seinem Innern an das Tageslicht gebracht wird, um dort gestaltet zu werden.


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