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Vom deutschen Epos

(1927)

Die deutsche Dichtung der neueren Zeit, welche wir in zwei Absätzen herkömmlich mit Opitz zunächst und dann mit Klopstock beginnen, ist nicht ein einfach natürliches Gebilde, das unmittelbar aus der ewig gleichen Natur des Menschen, deren besonderer Abwandlung in völkische Eigenart und den zu ihrer Zeit vorhandenen allgemein gesellschaftlichen Voraussetzungen entstand; sondern sie hat zu ihrer Voraussetzung eine bestimmte Bildung, welche durch Übernahme fremder Dichtungen und Gedanken kam. Nur sehr selten treffen wir in der Geschichte der Menschheit geistige Erzeugnisse, welche nicht unter fremder Beeinflussung entstanden sind; je tiefer unsere geschichtlichen Kenntnisse werden, desto mehr sehen wir solche Beeinflussung auch da, wo wir früher an durchaus selbständigen Ursprung geglaubt hatten. Es ist auch wohl nicht abzuwägen, ob bei uns Deutschen der fremde Einfluß auf die Bildung unseres höchsten geistigen Lebens vergleichsweise besonders stark gewesen ist. Jedenfalls aber stehen wir dem Vorgang noch so nahe, daß wir uns keinen Täuschungen über ihn hingeben können; und da wir uns heute in einem offenkundigen Zusammenbruch des in unserer klassischen Zeit geschaffenen Geistes befinden, so erscheint es notwendig, in der Untersuchung der Ursachen dieses Zusammenbruchs vor allem einmal die fremden Einflüsse zu betrachten. Denn das muß man wissen: jede geistige Leistung ist tief in den Verhältnissen ihrer Zeit und ihres Volkes verwurzelt. Wird sie von anderen Zeiten und Völkern übernommen, so wird sie einfach durch diese Übernahme schon etwas anderes. Grob gesprochen: nicht die tatsächlich vorhandene Leistung, sondern ihr Mißverständnis pflegt Wirkung auszuüben.

Man kann so ungefähr sagen, daß die Opitzische Zeit eine deutsche Lyrik schaffen wollte in der Annahme, daß es eine solche, die des Namens würdig sei, noch nicht gebe; Klopstock wollte das deutsche Epos bringen; und auf der Höhe unserer klassischen Zeit, als Schiller und Goethe dichteten, bemühte man sich besonders um das Drama.

Ich muß hier Persönliches berichten. Etwa mit Goethes Tod ist das deutsche Geistesleben im wesentlichen zu Ende. Es folgte eine Zeit, wo die wertvollsten Dichter doch nicht mehr als Epigonen waren, die weniger Wertvollen sogleich im Geschwätz des Tages versanken, und eine Anzahl Fragwürdiger bei aller geistigen Kraft die gestellten Aufgaben zwar ahnten, aber doch keine Mittel zu ihrer Lösung fanden. Ein Dichter der ersten Art war etwa Gottfried Keller, der zweiten etwa Gutzkow, und der dritten Hebbel. In den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts glaubte man an einen neuen Aufschwung und einen frisch gebahnten Weg zur Natur. Es stellte sich aber heraus, daß man nur ein Epigonentum der europäischen Romantik vor sich hatte, und daß die angebliche Natur nur eine der Auflösungserscheinungen der bürgerlichen Gesellschaft war.

Ich gehöre zu dem Geschlecht, das in den achtziger Jahren seine Forderungen aufstellte. Aber ich kam frühzeitig zu der Einsicht, daß meine Freunde und Genossen im Irrtum waren. So ging ich für mich allein und glaubte die Lösung der gefühlten Aufgabe in der Technik zu finden, im Handwerk des Dichters, von dem nun seit langem keine Rede mehr gewesen war. Dunkel fühlte ich schon damals, daß das Handwerk etwas Tieferes sei, als man so zunächst denkt, daß es irgendwie mit dem religiösen Glauben verwurzelt ist. Aber von diesem hatte ich nun wieder bloß eine unbestimmte Ahnung, daß er für das Leben der Menschheit nötig sei, daß ohne ihn die Menschen sterben müssen. Viel weiter bin ich auch heute noch nicht gekommen, wo ich das sechzigste Jahr überschritten habe; aber ich hoffe, daß mir im weiteren Verlauf meines Lebens noch bessere Einsichten in dieses Verhältnis beschert werden, wie ich immer mehr in meinen religiösen Glauben hineinwachse: denn Religion ist Leben, nicht Erkennen, auch nicht Fühlen oder bloßes Erleben.

Unsere klassische Dichtung auf ihrem Höhepunkt, bei Schiller und Goethe, hatte im Technischen ihre wichtigste Grundlage in Shakespeare, besser in ihrer besonderen Auffassung von Shakespeare, welche durch Lessing, die Wielandsche Übersetzung, und die Stürmer und Dränger gebildet war. Shakespeare war ihr »Natur«. Dem Betrachter, welcher den Vorgang unserer klassischen Dichtung als abgeschlossenes geschichtliches Ereignis hinter sich hatte, war es leicht, einzusehen, daß hier ein Mißverständnis vorlag: die Shakespearischen Dramen sind Bühnenwerke, die für die unmittelbare Bühnenwirkung auf einem Volkstheater berechnet sind. Wenn man sie nüchtern betrachtete mit dem handwerksmäßigen Verstand des Dichters, ohne sich durch die herkömmliche Verhimmelung benebeln zu lassen, dann stellten sich ganz auffällige Mängel heraus. Ich konnte sie mir nicht anders erklären als so, daß Shakespeare seine Dramen als Dichter dichtete, sie als Schauspieldirektor dann seinen Schauspielern übergab und nun von denen bedrängt wurde: vom Komiker und vom ersten Liebhaber, vom Bonvivant und vom Helden, von der Liebhaberin und der Soubrette: jedes Mitglied erklärte, daß seine Rolle nicht wirkungsvoll genug sei, daß sie zu kurz sei, daß die anderen mehr Erfolg haben würden; der Theaterdirektor sagte sich, daß es für die Einnahme ja auf den Schauspieler ankommt, ob der alle seine Fähigkeiten zeigen kann; und der Dichter war ein guter Kerl, der den Schauspielern nun den Gefallen tat, um den sie baten; und so flickte er jedem Mitglied noch Szenen ein, in denen es sich zeigen konnte, unbekümmert um Gang der Handlung, Charakteristik, Wahrheit, Wahrscheinlichkeit und höheren Sinn der Dichtung, wie es die willige oder unwillige Muse gab, gut, schlecht und sehr schlecht.

Diese Ansicht über Shakespeare, bei welcher denn die ganze Grundlage unseres klassischen Dramas ins Wanken geraten mußte, stellte ich in einem Aufsatz über Lear dar. Daraufhin erhielt ich einen Brief eines Gelehrten, Eichhoff, der mir mitteilte, daß ihm, was mir als Dichter fragwürdig erscheine, als Gelehrten eine Aufgabe gegeben habe; und daß er eine Lösung gefunden habe: unser Text ist nicht der ursprüngliche Text Shakespeares: die Herausgeber der Folioausgabe haben Bühnenbücher zugrunde gelegt, in welchen von Anderen Einschiebungen für den Bühnenbedarf gemacht wurden.

Eichhoff hat nichts getan, als die kritischen Grundsätze, die in der klassischen Philologie längst anerkannt sind, auf den überlieferten Shakespearetext anzuwenden. Aber damit zerstörte er zuviel. Es ist verständlich, daß er von seinen Genossen zur Seite geschoben wurde. Mir gab der Gelehrte eine Bestätigung: wenn es sich denn nun sogar so verhält, daß bei unseren Shakespearedramen der ursprüngliche Text von mehr oder weniger dunkeln Schriftstellern auf das Doppelte, ja, Dreifache verlängert ist, dann kann doch wohl keine Rede mehr von einer gesetzmäßigen Geltung dieser Werke sein.

Meine Ansicht über Shakespeare gewann ich durch die eigene dichterische Arbeit. Ich hatte meine Dramen gedichtet aus persönlichem dichterischem Drang, aus dem unmittelbaren Gefühl der Natur, und ans dem inneren Erleben der dramatischen Form, die wohl ein geheimnisvoll halb religiöser Vorgang war; und ich sah nun, daß sie auf dasselbe gingen, was die alten griechischen Tragiker wollten, was ganz etwas anderes war, als in den Shakespearedramen vorlag; und als ich nun die Shakespearischen Dramen ruhig betrachtete, da mußte mir wohl meine Einsicht kommen.

Nun arbeite ich seit acht Jahren an diesem Kaiserbuch. Ich habe den Plan rein aus der Aufgabe gefaßt: die große Zeit des deutschen Volkes dichterisch darzustellen. Dabei kamen mir von Anfang an gleich Bedenken gegen die Homerischen Epen, die unserer klassischen Zeit als Muster des Epos und als Natur galten, wie die Shakespearischen Dramen. Ich schaltete die Erinnerung an sie ganz aus und ging den Weg, der mir durch meine Aufgabe, meine Begabung, meine Zeit und mein Volk vorgeschrieben war. Im Lauf der Arbeit aber zeigte es sich, daß doch eine kritische Auseinandersetzung mit den Homerischen Epen nötig wurde, da die Leser mit falschen Voraussetzungen an meine Arbeit gehen.

Für mich selber liegen die Bedingungen für diese Auseinandersetzung ungünstiger als bei Shakespeare. Shakespeare hat mir nie viel bedeutet, aber Homer war mir seit den Jugendjahren immer der wunderbare Dichter, in dessen klarem Spiegel sich Welt, Mensch und Gott in unübertroffener Reinheit zeigten. Es wurde mir sehr schwer, auch Homer nicht mehr ganz urteilslos verehren zu dürfen. Aber so einfach wird es uns wohl mit Absicht nicht gemacht, daß es nun Meister gibt, denen wir blind folgen dürfen.

Nach außen hin wird es wohl leichter sein, mit Bedenken gegen Homer durchzudringen, denn hier hat die Wissenschaft mit sicherer Methode schon alle Arbeit geleistet und ist mit ihr allgemein anerkannt. Unser Begriff vom epischen Stil stammt von Homer.

Die anderen epischen Dichter des griechischen Mittelalters, die verloren gegangen sind, haben offenbar nicht alle diesen Stil gehabt. Wenn wir die Kyprien etwa noch hätten, dann würden wir über die Retardierung als hauptsächlichstes episches Kunstmittel wahrscheinlich wesentlich anders denken, als wir heute tun, als im Schiller-Goetheschen Briefwechsel ausgedrückt ist. Die Wilaniowitzische Theorie der Einzelgedichte, die eingeschoben sind, erklärt eines der Hauptmittel der Retardierung als Ergebnis späterer redaktioneller Arbeit an dem vorhandenen Gedicht. Im einzelnen wirkt das Epitheton verlangsamend auf den Gang; aber nach den philologischen Forschungen muß das Epitheton früher, in Gedichten, welche vor der Zeit der uns erhaltenen Werke liegen, eine ganz andere Bedeutung gehabt haben. Wir lesen bekanntlich die griechischen Verse ganz anders, als sie zu ihrer Zeit gelesen wurden, und nur mit stärkster Anstrengung des Verstandes können wir uns eine lebendige Vorstellung vom antiken Vers machen: ins Gefühl werden wir ihn wohl nie bekommen.

Was ist da unsere Vorstellung vom epischen Stil, die wir von Homer haben?

Aber weiter! Wie ist eigentlich Homer bei den Griechen selber zu seiner ausschließenden Stellung gekommen?

Im griechischen Mittelalter gab es neben den Homerischen Gedichten noch andere epische Werke. Es ist schon angedeutet, daß alle diese Werke auf eine weiter zurück liegende Stufe der Dichtung zurückweisen. Der Körper dieser Gedichte hat sich durch die Jahrhunderte der gesellschaftlichen Umwälzung gerettet, welche zwischen dem sogenannten Mittelalter und der klassischen Zeit liegen. Man muß annehmen, daß der Grund im wesentlichen in ihrem Inhalt lag: man hielt sie für Geschichte, man glaubte auch, daß sie geographische und andere Belehrungen enthielten. In der klassischen Zeit werden die Gedichte des Kyklos mit denselben Worten angezogen wie Ilias und Odyssee, müssen damals also doch wohl als gleichwertig gegolten haben. Die ästhetische Bewertung findet sich erst bei den Alexandrinern; freilich sind im Lauf der Jahre seit der klassischen Zeit die Kykliker im allgemeinen Interesse zurückgetreten. Vielleicht haben den Alexandrinern nicht mehr deren Gedichte vorgelegen, sondern nur Mythographen, welche Auszüge aus ihnen gemacht hatten, mit einigen untermischten Zitaten; es war wohl ähnlich so, als wenn Shakespeares Werke verlorengingen und nur noch die Lamb Tales übrigblieben, aus denen schon heute mehr Engländer Shakespeare kennen als aus Shakespeares Dramen selber. Aber das braucht nicht zu beweisen, daß Ilias und Odyssee wertvoller waren als das Verlorene. Die endgültige Entscheidung trifft die römische Kaiserzeit, indem erst in ihr Ilias und Odyssee auf jeden Fall nur mehr allein übrig sind. In der klassischen Zeit pflegte man bei Anziehungen nicht den Namen Homers oder des Kyklikers zu nennen, sondern sagte einfach »Poietes«. Dessen Ruhm war, wie wir sahen, nicht rein ästhetisch begründet; es war das etwa so, wie wenn wir heute zitieren »die Bibel«. Seit der römischen Kaiserzeit beschränkt sich dieser Ruhm nun auf den einzigen Homer. So geht das weiter durch die Jahrhunderte, wo man Homer überhaupt nicht lesen konnte, wo tatsächlich Virgil der große Epiker war. Erst im achtzehnten Jahrhundert, als der Begriff »Natur« eine ästhetische Kategorie wurde, wurde mit dem herkömmlichen Ruhm ernst gemacht. Da kam nun beides zusammen: was man etwa an Ossian zu haben glaubte, und die uralte, dunkle Verehrung. Es bildete sich die Vorstellung von Volksdichtung, und die ritterlich-höfisch-konventionellen Werke Homers wurden nicht nur als »Natur«, sondern auch als »Volkspoesie« aufgefaßt. Dann begann mit Wolf die wissenschaftlich-kritische Untersuchung, bei der jedenfalls die einheitliche Persönlichkeit Homer, welche nach gefaßtem Plan und Entwurf ein Gedicht dichtet, auf immer verschwand: wir wissen heute, daß wir zusammengekittete Bruchstücke verschiedener Dichter vor uns haben, die im wesentlichen einen gemeinsamen, schulmäßig überlieferten Stil hatten, aber nach Begabung und Absichten weit voneinander verschieden waren. Solche wissenschaftlichen Einsichten bedeuten für sich allein für die ästhetische Bewertung, für das Leben, sehr wenig. Ich selber habe das alles gewußt und unterlag trotzdem dem eigentümlichen Zauber der homerischen Dichtung ohne alle Besinnung. Es mag wohl mit den Gelehrten selber ebenso gehen. Was ist denn schließlich in diesen Dingen Wert? Dichtung ist ja nicht das gedruckte Buch, das vor mir liegt, sondern das geistige Gebilde, das in mir entsteht, wenn ich die Buchstaben des Buches lese. Das muß natürlich mit dem Korn Salz aufgefaßt werden: es gibt jenseitige Gesetze der Dichtung, wie jeder Kunst, und nur, wenn eine Dichtung in Übereinstimmung mit ihnen ist, nur wenn sie Erfüllung dieser Gesetze ist, dann darf sie als voll gelten. Aber da ist nun eben wieder dieser eigentümliche Umstand, der uns bei dem höchsten Geistigen überall begegnet, auch in der Religion begegnet er uns: das Jenseits ist Jenseits, und das Diesseits ist Diesseits. Nur durch die Beziehung zum Jenseits bekommt das Diesseits Bedeutung und Wert. Aber unsere menschliche Erkenntnis dieser Beziehung ist trübe. Und nicht durch den Verstand und die Einsicht gelangen wir zu den Werten, sondern durch das Leben.

Durch das Leben, nämlich durch meine Arbeit, kam ich zu einer neuen Stellung gegenüber den homerischen Gedichten.

Seit meiner Jugendzeit habe ich den homerischen Hymnus auf Aphrodite bewundert. Es machte mir nichts, daß mir gesagt wurde, er stamme von einem späten Dichter, er bestehe zum großen Teil aus Versen, die aus Ilias und Odyssee genommen sind. Als ich in meinem Epos bei Heinrich dem Fünften war, brauchte ich, um die Stimmung des Unheimlichen, fast Verbrecherischen, das in diesem bedeutenden Mann lebte, zu erzeugen, ein Märchen, das die wilde, jenseits des Sittlichen waltende Naturkraft darstellte. Ich dachte an den alten, bei allen Völkern wiederkehrenden Sagenzug: Wer bei einer Göttin schläft, der verliert seine Manneskraft und wird in einer Nacht zum Greis. Ich schrieb mein Gedicht; und als ich bei der Arbeit war, fiel mir plötzlich ein: das ist ja der Vorwurf des Aphroditehymnus!

Nun nahm ich das homerische Gedicht vor. Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen: von dem Gewaltigen, Fürchterlichen des Vorwurfs war nichts in ihm. Schon rein äußerlich handlungsmäßig: es wird eine anmutige Sage über den Ursprung eines vornehmen kleinasiatischen Geschlechts berichtet, vermutlich von einem Mitglied desselben dem Dichter gut bezahlt. Nicht ein Vers, nicht ein Wort zeigt, daß es sich um etwas anderes handelt als um ein Liebesabenteuer. Aber auch dieses Liebesabenteuer ist nicht richtig dargestellt. Wenigstens mußte doch die sinnliche Leidenschaft in Wort und Rhythmus sich äußern. Nun: Die Worte sind leblos, der Rhythmus ist, soweit ich urteilen kann, nicht anders als gewöhnlich. Das Gedicht ist etwa wie die Arbeit eines Goldschmiedes, der sehr viel Geschmack hat, in einer guten Schule war, und nun Edelsteine, welche vor ihm liegen, zu einem anmutigen Schmuck zusammenstellt. Ein solcher Schmuck mag eine schöne Frau zieren, aber er ist kein Kunstwerk; ein anderer Handwerker mag kommen, ihn zerstören und die Steine anders fassen, es ist schade, daß er nicht ungefaßte Steine für seine neue Arbeit nahm; aber eigentlich verloren ist doch nichts mit dem alten Schmuck. Und als ich nun an die beiden großen Epen dachte, da wurde mir klar, daß bei ihnen ganz dasselbe vorlag. Es kamen mir einzelne Stücke in die Erinnerung, wo eine Leidenschaft der Anschauung und des Fühlens sich äußerte; im ganzen und großen aber ist es doch so, daß der wunderbare goldige Schein, der für uns über den Gedichten liegt, dadurch entsteht, daß nicht sinnlich gefühlt und dargestellt wird. Es wurde mir klar, daß dieser, wie ich immer dachte, unnachahmlich goldige Schimmer lediglich Ergebnis einer handwerksmäßigen Übung ist, die bis zur Leerheit, ja, bis zum Unsinn führen kann. Wenn das Epos die ganze Welt des Dichters zeigen soll, dann ist der Vorwurf der beiden homerischen Epen unepisch. Der Zorn des Achill ist ein Novellenvorwurf, die Heimkehr des Odysseus ist ein Faden, an dem märchenhaft bunte Abenteuer aufgereiht werden können. Wir haben über die Odyssee die ausgezeichnete Arbeit von Schwartz, in welcher mit einer seltenen Verbindung von philologischem Wissen und Können und dichterischem Einfühlen die verschiedenen Trümmer der älteren Dichtungen nebst der redaktionellen Tätigkeit des letzten Bearbeiters aufgezeigt sind. Mich hat die Arbeit völlig überzeugt. Aber für den Zweck, den ich hier befolge, würde es gar nicht einmal darauf ankommen, ob einiges oder vieles ihrer Aufstellungen späterer Prüfung nicht standhält. Jedenfalls ist ein Gelehrter, der ein Führer der heutigen Altphilologie ist, der in allem auf der Höhe unserer Zeit steht, zu diesen Ansichten gekommen, und ein heutiger Dichter nimmt sie an. So wie in dem Buch von Schwartz muß uns also heute Homer erscheinen.

Der letzte Bearbeiter (B) macht aus vorhandenen Gedichten ein neues, welches mit den Versen der alten den Stoff aller dieser Gedichte enthält. Er hat nicht dichterisch gestaltende Absichten, sondern er zerschneidet Dichtungen und flickt sie neu zusammen; er entstammt einer Zeit, wo nicht mehr der Adel maßgebend war als Zuhörer der Dichtung, sondern die stoffhungrige Masse von der Art, wie sie heute Unterhaltungsschmöker aus der Leihbibliothek liest. Von den Gedichten, welche ihm vorliegen, sind für unsern Zweck die merkwürdigsten die von Schwartz mit O und K bezeichneten. O ist ursprünglicherer Dichter, K ist höfischer als O. Beide behandeln die Heimkehr des Odysseus. O bringt gegenüber dem troischen Epos, das seine Reise schon stark überschritten hatte, etwas völlig Neues. Die Neuheit scheint Schwartz so wichtig zu sein, daß er O als Originalgenie bezeichnet. Er ist das nur in der Wahl der Schicksale, die nicht mehr in der Schlacht vorfallen, sondern bei der Seefahrt, woraus sich denn eine neue Art von Helden ergibt. In der eigentlichen dichterischen Gestaltung ist O nicht neu, er ist nur einer der späteren epischen Dichter; er hat noch genug eigene dichterische Kraft, um einen neuen Vorwurf zu sehen, aber in der Behandlung dieses Vorwurfs geht er durchaus die alten Wege weiter. Aber er fühlt wenigstens natürlich innerhalb der Grenzen, welche diese Konvention in der Darstellung ihm gibt. K ist ein liebenswürdig reiches Talent mit reifer Kunst, aber bei ihm ist die Konvention schon weiter gegangen, er fühlt bereits konventionell.

Bei der Begegnung mit Nausikaa gehen die Darstellungen der beiden Dichter in unserer heutigen Fassung durcheinander. O schilderte den Helden, wie er gleich einem hungrigen Berglöwen, nackt und schmutzig, auf das zitternde Mädchen, dessen Dienerinnen fliehen, losstürzt und hilfeflehend ihre Knie umfaßt. K polemisiert gegen dieses unhöfische Betragen: er läßt den Helden von ferne knien, nachdem er sich einen Zweig abgebrochen, um seine Blöße zu bedecken.

Das sind dichterisch zwei so verschiedene Auffassungen, daß es unmöglich ist, sie irgendwie zu vereinigen. Wort, Rhythmus, Klang müssen in den zwei Darstellungen so verschieden sein, daß man diese Verse so wenig mischen kann, wie Wasser und Öl. Trotzdem sind sie in unserer Odyssee gemischt.

Was kann herauskommen?

Indem ich schon hier etwas vorausnehme, was später noch wichtig werden wird, gebe ich die Übersetzung von Johann Heinrich Voß:

Also sprach er, und kroch aus dem Dickicht, der edle Odysseus,
Brach mit der starken Faust sich aus dem dichten Gebüsche
Einen laubichten Zweig, des Moannes Blöße zu decken.
Ging dann einher, wie ein Leu des Gebirgs, voll Kühnheit und Stärke,
Welcher durch Regen und Sturm hinwandelt; die Augen im Haupte
Brennen ihm; furchtbar geht er zu Rindern oder zu Schafen,
Oder zu flüchtigen Hirschen des Walds; ihn spornet der Hunger
Selbst in verschlossene Höf, ein kleines Vieh zu erhaschen:
Also ging der Held, in den Kreis schönlockiger Jungfraun
Sich zu mischen, so nackend er war: ihn spornte die Not an.
Furchtbar erschien er den Mädchen, vom Schlamm des Meeres besudelt;
Hierhin und dorthin entflohn sie und bargen sich hinter die Hügel.
Nur Nausikaa blieb. Ihr hatte Pallas Athena
Mut in die Seele gehaucht, und die Furcht den Gliedern entnommen.
Und sie stand, und erwartete ihn. Da zweifelt Odysseus:
Ob er flehend umfaßte die Kniee der reizenden Jungfrau,
Oder, so wie er war, von fern mit schmeichelnden Worten
Bäte, daß sie die Stadt ihm zeigt und Kleider ihm schenkte.
Dieser Gedanke schien dem Zweifelnden endlich der beste,
So, wie er war, von ferne, mit schmeichelnden Worten zu flehen,
Daß ihm das Mädchen nicht zürnte, wenn er die Kniee berührte.
Schmeichelnd begann er sogleich die schlau ersonnenen Worte:
»Hohe, dir fleh ich; du seist eine Göttin oder ein Mädchen ...«

Wenn wir heute an Homer denken, so denken wir alle, nur wenige Philologen ausgenommen, an Johann Heinrich Voß. Man kann aber Voß als das letzte Glied einer Entwicklung auffassen. Er übersetzt B und führt dessen Arbeit auf Ausgleichung des Unausgleichbaren fort. Wir haben zwei Lagen, die miteinander gänzlich unvereinbar sind. Erstens: Odysseus erwacht durch das Gekreisch der Mädchen. Er beschließt, sich unter sie zu stürzen und ihr Mitleid anzuflehen. Da muß er schnell sein, sonst fliehen die Erschrockenen, denn er ist nackt und schlammbedeckt. Er stürzt vor, in weiten Sprüngen, wie ein hungriger Berglöwe, der ein Tier schlagen will. Das Treffende dieses meisterhaften Vergleichs kann man ja nicht leicht durch Beobachtung feststellen; ich mache auf den vorzüglichen Stich von Ridinger »Entwurf einiger Tiere« Nr. 29 »Eine auf den Raub eilende Löwin« aufmerksam, wo der ausgezeichnete Meister die Bewegung des Tieres überzeugend dargestellt hat. Die Mädchen fliehen. Er stürzt gerade auf die Königstochter zu, die stehen bleibt, betäubt durch die Angst vor dem auf sie zueilenden Mann, durch königlichen Stolz behindert. Er umfaßt ihre Kniee und hält sie dadurch fest. Dann spricht er in abgerissenen Worten: »Ich umklammere deine Kniee, Herrin.«

Zweitens: Odysseus erwacht, überlegt sich, daß da spielende Mädchen sind, bedeckt seine Blöße, geht vorsichtig aus dem Dickicht und bleibt von weitem hilfeflehend knieen.

Unzweifelhaft ist das erstere der Lage angemessener. Es entspricht der Angst und Verzweiflung des Mannes. Es ist auch das Vernünftigere. Denn trotz des Laubzweiges, des vorsichtigen Hervorgehens und Bleibens in der Entfernung werden die Mädchen wahrscheinlich doch erschrecken und fortlaufen, und dann hat er zu gewärtigen, daß junge Burschen mit Waffen kommen und ihn totschlagen, ehe er sich hat verständlich machen können.

Der erste Dichter O setzt die rein menschlichen Gefühle voraus, bei denen denn alles stimmt; der zweite Dichter K stellt einen gesellschaftlich fühlenden Mann dar, dessen Handlungen schon nicht mehr richtig sind, bei dem deshalb Unwahrscheinlichkeiten kommen müssen. Aber dieser selbst gesellschaftlich fühlende Dichter hat eben auch nicht mehr die Kraft der Anschauung, welche der erste hat. Gefühl und Kraft der Anschauung stehen beim Dichter immer in festem Verhältnis: jeder Mensch muß leben können, und wo Anschauung und Gefühl sich gegenseitig vernichten würden, da könnte der Mansch nicht leben. K ist ein Kavalier, er fühlt als solcher und schaut und dichtet deshalb als solcher.

Den Dichter, der allgemein menschlich richtig fühlt, werden wir immer höher stellen als den Dichter, der klassenmäßig bedingt fühlt. Er allein kann den Anspruch erheben, für die Ewigkeit gedichtet zu haben, bei ihm allein ist alles richtig und paßt alles zueinander; er ist »Natur«, wenn man dieses bedenkliche Wort gebrauchen darf.

Jedenfalls haben sowohl D wie K eine Dichtung geschaffen, die in sich geschlossen ist. B aber klittert sein Werk, unsere erhaltene Odyssee, aus beiden Dichtungen zusammen. Er will den Löwen beibehalten und den Zweig. Dadurch wird das Ganze unsinnig. Er muß sich lahm ausdrücken, damit die Widersprüche nicht zutage treten. Der Löwe bricht vor, der Kavalier kommt vorsichtig heraus. Wenn B den Helden vorbrechen läßt, dann widerspricht er dem Zweig und dem Knien von ferne; wenn er ihn vorsichtig vorkommen läßt, dann widerspricht er dem Löwen. Er dichtet also: εμελλεν μιξεαθαι, »er beabsichtigte, sich unter die Mädchen zu mischen«. Die Lahmheit kann man sofort sehen, wenn man den Zusammenhang betrachtet: V. 130 bis 134. Er spreizte die Beine zu springen: βη διμεν; (εινι, »gehen« hat einen weiteren Sinn als unser »gehen«; an dieser Stelle dürfte »springen« angemessen sein) wie ein bergerzogener Löwe, der Kraft vertrauend, der springt, verregnet und verwindet, die Augen in ihm brennen, [er aber geht zu Rindern oder Schafen oder zu wild umherschweifenden Hirschen, denn es befiehlt ihm der Bauch, sich an Kleinvieh versuchend, selbst in ein dicht verschlossenes Haus zu dringen. So beabsichtigte Odysseus sich unter die flechtgeschmückten Jungfrauen zu mischen, obwohl er nackt war; denn die Not zwang ihn]. Der Anfang könnte von O sein; das in eckige Klammern gesetzte ist gewiß von B, zum Teil in Versen, die anderswo her geholt sind.

Nun kommt die Verlegenheit, welche schon K hatte: daß die Wirkung des nackten schmutzigen Kavaliers mit dem Zweig auf die Mädchen doch bedenklich war. Die Verlegenheit wird für B durch den Löwenvergleich noch außerordentlich vergrößert. Die Mädchen fliehen, der Nausikaa aber haucht Athene, die in solchem psychologisch zweifelhaften Augenblick natürlich aushelfen muß, Mut in die Seele, so daß sie stehen bleibt und Odysseus erwartet. Die Verse von 137 an könnten von K sein. Nun polemisirt 141 K gegen D; die Dichtung wird gesprengt; damit K seine Kavaliersitten glänzen lassen kann, überlegt sich Odysseus erst jetzt, während er auf die durch Athene Gestärkte zugeht, die ihn erwartet: ob er sich in seinem Zustand in ihre Nähe wagen darf; V. 143/44 scheinen mir Einschiebungen von B zu sein, denn 144 nimmt ja etwas voraus, was sich erst entwickeln muß. 145 bis 148 beschließt er (wohl mit den Versen von K), daß er von fern stehen bleibt und sie anredet; dann redet er sie an: γονονμα σε ανασσα Diese Worte heißen wörtlich: »Ich umfasse deine Kniee.« Die alten Erklärer meinen, daß das in übertragenem Sinn gemeint sei; dann müßte man also etwa übersetzen: »Ich liege zu Ihren Füßen, meine Gnädigste.« Schwartz nimmt mit Recht an, daß ein Dichter die Worte in ihrer richtigen Bedeutung verwendet; dann müssen die Worte also von D sein. In unserm Text, den B geschaffen hat, stehen sie nun aber so, wie sie stehen, nachdem vorher erzählt ist, daß Odysseus von fern wartet; in unserm Text muß man sie also so übersetzen: »Zu Ihren Füßen, meine Gnädigste.«

Wenn man genau übersetzt, dann merkt man schon in der Übersetzung, daß die Sache nicht in Ordnung sein kann. Deshalb haben die Übersetzer ganz instinktiv solche auffälligen Wendungen ungenau wiedergegeben. In diesem Fall sagt Voß: »Hohe, dir flehe ich«, wie er bei der Klitterung von Vers 135 das »so« (nämlich indem er die Beine spreizt, zu springen, gleich dem Löwen) »beabsichtigte er, sich unter die Mädchen zu mischen« übersetzt: »Also ging der Held ... sich zu mischen.«

Ich habe die Stelle deshalb so ausführlich besprochen, weil an ihr ganz klar wird, wie eine Seite dessen, was wir heute für epischen Stil halten, sich erklärt. Wir können noch weiteres aus ihr ersehen.

O hat offenbar ein schnelleres Tempo als K und dieser ein schnelleres als B, der, um beide zusammenzuschweißen, weitschweifig werden muß. O ist noch ein sehr guter Dichter, K ein geringerer, aber immerhin noch leidlicher Mann. Aber schon bei O ist eine Neigung zum Schleppen. In seinem Bild vom Löwen sind die Züge »verregnet, verwindet, mit brennenden Augen« gewiß von einem sehr guten Dichter, den Umständen nach von ihm. Aber in dem Augenblick, wo Odysseus aus dem Gebüsch stürzt, die Kniee der Jungfrau zu umfassen, alles aufs Spiel setzt, denn das Mädchen hätte ja auch entfliehen können, wo höchste Schnelligkeit, wie die des Löwen, der sich auf seine Beute stürzt, nötig ist, da schleppen in der Darstellung selbst die schönsten Einzelheiten über diesen Löwen.

Wir haben hier eine Neigung, die wir auch schon bei den ältesten Dichtern der Ilias finden. Ein junger philologischer Freund, mit dem ich den Umstand besprach, sagte, man müsse das vergleichen mit der oft störenden Ausführlichkeit, welche die archaische bildende Kunst bei Nebensachen hat. Es könnte sein, daß diese Neigung in Zeiten hinaufgeht, wo die Dichter noch nicht ordnen konnten und Haupt- und Nebensache in einer Ebene sahen. Es könnte auch sein, daß hier eine andere Ursache vorliegt, die noch zu behandeln ist, nämlich die Neigung, die Anschaulichkeit durch Eigenschaftswort und Vergleich zu erzeugen, statt sie im Zeitwort zu bringen, wodurch notwendig etwas Schleppendes kommen muß.

Spätere Dichter, deren Bruchstücke in unsern Epen erhalten sind, welche keine Arbeit am eigentlichen Epos mehr zu tun fanden, haben den weit ausgesponnenen Vergleich als Form betrachtet und in dieser Form in sich abgeschlossene kleine Gedichte geschaffen, oft vom höchsten Reiz, welche nun, dem großen Gedicht einverleibt, notwendig schleppend wirken müssen.

Hier ist nun schon eine Eigentümlichkeit der homerischen Sprache erwähnt, welche sehr wichtig für die ganze Folgezeit werden sollte, die Verwendung des Epitheton.

Wir müssen uns klar darüber sein, daß das Epitheton eine Geschichte hat.

Die älteste Dichtung ist nicht naturnah, sondern sie gibt das, was die Menschen wollen, daß vorgestellt wird. Die Eule ist das Totemtier der Athene, die Kuh das der Juno. Die Ägypter bildeten ihre Götter als Menschen mit den Köpfen ihrer Totemtiere. So, können wir uns vorstellen, bildete die älteste Dichtung Epitheta wie γλαυχώπις und βοώπις. Wenn die Dichtung der sogenannten Wirklichkeit näher rückt, wie das in der Entwicklung der griechischen Epik geschehen scheint, so stehen denn solche Epitheta formelhaft und scheinbar erstarrt da. Das kann für die späteren Dichter eine Veranlassung sein, überhaupt formelhafte Epitheta zu bilden: es entwickelt sich, wie so oft, ein Stilwille aus geschichtlich gegebenen Voraussetzungen, die an sich mit Stil nichts zu tun haben. Dieses Erstarrte und Formelhafte in der Ausdrucksweise aber ist es, was im allerhöchsten Maße auf spätere Zeiten, besonders auf unsere Dichtung gewirkt hat. Der Dichter hat Anschauungen, welche er durch Worte darstellen muß. Die Worte aber drücken natürlich immer Abziehungen aus. Der Dichter hat die Anschauung eines Tisches, von dieser bestimmten Form, der in diesem bestimmten Zimmer in diesem bestimmten Licht steht. Das Wort »Tisch« drückt aber nur einen Begriff aus: eine Platte, welche durch Beine auf eine solche Höhe gestellt ist, daß sie für einen sitzenden, liegenden oder knienden Menschen eine bequeme Unterlage für Gegenstände seines Gebrauches bildet. Eine der Hauptaufgaben des Dichters ist es, mit dem unzulänglichen Stoff des Wortes wieder sinnliche Anschauungen zu erzeugen. Hier sind nun die Sprachen verschieden. Die deutsche Sprache hat sehr viele Zeitwörter, welche einen stark sinnlichen Wert haben; sie stellt es dem Dichter sogar frei, neue solcher Zeitwörter zu bilden. Das Griechische hat an sich denselben Reichtum. Aber in den homerischen Gedichten übernimmt diese Rolle des Zeitwortes das Eigenschaftswort. Wenn der homerische Dichter sinnliche Anschauungen erwecken will, so setzt er zu dem in beiden Sprachen abgezogenen Hauptwort ein Epitheton; der Deutsche kann das, wozu der Homeride das Epitheton braucht, durch das Zeitwort ausdrücken. Da unsere Sprache sich in den letzten Jahrhunderten unter fremdem Einfluß entwickelt hat, so ist ihr manches von dieser Kraft des Zeitwortes verloren gegangen, weil gerade die deutschesten Wendungen nun notwendig als bäurisch erscheinen mußten und die fremde Art, durch das Epitheton zu wirken, als vornehm erschien. Bei Völkern, die sich natürlich entwickelt haben, ist die dichterische Sprache nicht vornehmer als die Sprache des Alltags. So ist es bei den Griechen. Den äußersten Gegensatz dazu stellen etwa die Franzosen dar.

Ein philologischer Freund gab mir verschiedene Gründe an, welche die Bevorzugung des Epitheton erklären können: die Technik des Vortrages der Rhapsoden und den Vers. Der Rhapsode stand, hatte die Leier im Arm, trug sprechend vor und schlug dazu einzelne dünne Töne auf den Saiten an. Dabei ist kein schnelles Laufen des Verses möglich. Der südslawische Guslaspieler trägt auch so vor; aber er hat einen anderen Vers. Der Hexameter verlangt die Möglichkeit des Füllens. Wenn man die Sinnlichkeit in der Satzaussage hat, dann ist man in bezug auf die Silbenzahl gebunden; hat man sie im Epitheton, das man, nach dem Bedürfnis des Verses, auch fortlassen kann, so ist man frei. Dazu könnte denn aus der früheren, gebundenen Zeit die Gewohnheit kommen, ohnehin formelhafte und erstarrte Epitheta zu verwenden.

Ich will an die behandelten Verse anknüpfen. Das Wort ειμι drückt die abstrakte Bewegung aus. Es muß erst konkret gemacht werden durch eine nähere Bestimmung, welche andere Worte geben. Es wird von den Homeriden bevorzugt vor den sinnlichen Zeitwörtern. Der Homeride sagt: »Ich bewege mich vermittels eines Pferdes.« Der andere sagt: »ich fahre«. Weshalb soll der Sprachgebrauch des Homeriden episch richtiger sein? Wenn ich den sinnlichen Eindruck mit durch das Zeitwort gebe, dann ist das Epitheton unnötig: das Pferd rennt, die Schnecke schleicht, der Hase hoppt, die Kuh schleppt sich, das Schwein trottet. Das sagt dasselbe, als wenn ich ειμι mit näheren Bestimmungen gebrauche. Dazu kommt noch ein weiteres. Wenn sich ein passendes Eigenschaftswort nicht findet, dann wird ein Vergleich nötig. Also statt »Odysseus schießt aus seinem Versteck hervor«: »Odysseus geht wie ein Löwe.« Und dieser Vergleich hat nun die Neigung, sich zum selbständigen Gedicht zu entwickeln. Zugleich kommt neben dem wirklichen Epitheton das Epitheton ornans.

Epitheton und einfacher Vergleich sind organischer Stil; das entwickelte Bild und das Epitheton ornans bezeichnen schon die Auflösung des Stilgefühls.

Zusammenfassend: beim Epitheton sowohl wie beim Vergleich ist das sinnlich Darstellende in einem besonderen Wort getrennt von dem Wort, das den Bericht weiter führt. Mag das für den Hexameter bequem sein, es hat jedenfalls die Folge des Schleppens: das Deutsche geht immer schneller als das homerische Griechisch. Es hat aber außerdem noch eine zweite Folge: das sinnlich Darstellende kann ein Selbstzweck werden und wird dann weiter ausgebaut. Damit wird die organische Einheit des Gedichtes zerstört.

Der Dichter hat immer seinen Hauptzweck im Auge zu behalten.

Alles, was ablenkt, ist schädlich. Aber sowohl Epitheton ornans wie Bild sind Schmuckstücke, welche eingesetzt werden können und das Auge bestechen: sie üben einen Reiz aus, welcher der ernsten, großen Kunst entgegen ist, und vielleicht einer Kunst zweiten Ranges, die dekorativ sein will, kunstgewerblich möchte ich sagen, angemessen sein mag. Eine solche Kunst nun kann leicht handwerksmäßig geübt werden, und sie kann auch noch bestehen, wenn die, welche sie ausüben, nichts mehr bei ihr fühlen, ja, nichts bei ihr denken.

Wir müssen uns klarmachen, daß wir hier auf einen grundlegenden Unterschied zwischen unserer Dichtung und der homerischen kommen: vielleicht würden wir Heutigen einen Homeriden unter Umständen gar nicht als Dichter empfinden. Der Homeride hat ein Handwerk gelernt, das ihn trägt. Wenn er ein bedeutender Dichter ist, wie etwa der Verfasser der Achilleis – man denke an ein Stelle wie Il. N 11 bis 31 – dann gibt er mit seinen erlernten Mitteln, oder durch sie, oder trotz ihrer das Höchste von dichterischem Kunstwerk. Ist er nichts, so stoppelt er zusammen wie B. Das ist, wie heute einer ein guter Tischler ist oder ein schlechter: ein Tischler ist immerhin jedenfalls ein Tischler. Bei uns Heutigen gibt es kein Handwerk; der Dichter muß immer wieder von vorne anfangen und sich sogar sein Werkzeug erst selber schaffen; und außer ihm gibt es nur den Dilettanten. Das Mittelmaß der Begabung scheidet heute völlig aus, das damals noch achtungswerte Leistungen erzeugte – ich würde den O von Schwartz und auch noch K zu diesem MitteImaß rechnen – und wir sind deshalb scheinbar armer an Dichtern als die Griechen. Hölderlin in seinen Anmerkungen zu den Sophoklesübersetzungen wünscht den alten Zustand zurück. Es könnte sein, daß dafür heute die ganz große Begabung Höheres leistet, weil sie nicht durch Fremderziehung frühzeitig Grenzen bekommen hat. Man müßte nach einem Jahrtausend Werke von heute mit Werken von damals vergleichen können, um darüber ein Urteil abgeben zu dürfen.

Die Homerischen Gedichte sind handwerksmäßige Kunstwerke. Es ergibt sich sofort, daß in ihnen nicht der Ernst sein kann, den ein entsprechendes deutsches Werk haben würde: daß Homer also nie ein Muster für uns sein kann.

Aber wir müssen nun auch genauer zusehen, wie eine solche handwerksmäßig ausübbare Kunst sich denn entwickeln kann: denn was wir vorliegen haben, das sind ja Bruchstücke von der Zeit der Höhe bis zum Verfall: und die Verfallswerke haben oft den stärksten Eindruck auf die Folgenden gemacht.

Es gibt in der Ilias für den Speer ein Epitheton »der weithin schattende«.

Hier hat einmal ein großer Dichter einen sinnlichen Augenblick aufgefangen. Man denke sich den hellen Sonnenschein, den schnell fliegenden Speer. In der hellen Luft erscheint der Speer kaum; aber auf dem vielleicht kreidigen Boden fliegt sichtbar der Schatten hin. In der richtigen Lage, einmal angewendet, ist das Epitheton vorzüglich. Aber wenn das Wort nun ganz gedankenlos häufig gebraucht wird, wo vom Speer die Rede ist, mag er bei bedecktem Himmel geworfen werden oder gar auf einem Haufen mit anderem Gerät liegen, dann hat es offenbar alle unmittelbare dichterische Kraft verloren, es wirkt bei ihm nur noch Erinnerung, Klang und unbestimmte Vorstellung. Es geht noch weiter.

Ein philologischer Freund erzählte mir, daß er eine Untersuchung über ein Epitheton der Penelope angestellt habe, das man mit »häuslich, fleißig« und dergleichen übersetzt. Es war ursprünglich ein Epitheton der Athene und muß eigentlich bedeuten »kriegerisch« oder etwas ähnliches. Die späteren Dichter haben es einfach auf Penelope angewendet, weil es in den Vers paßte. Diese Gedankenlosigkeit des bloßen Versemachens wird nur noch überboten durch die Gedankenlosigkeit des Zusammenstoppelns vorhandener Verse. So übernimmt der Hymnus auf Helios V. 7 einen Vers aus Ilias 11, 60 gänzlich sinnlos:

      Hελιον τ αχαμαντ επιειχελον αθανατοισιν
(den unermüdlichen Helios gleich den Unsterblichen)
aus
      ηεθεον τ Δχαμαντ επιειχελον αθανατοισιν
(den Jüngling Akamas, gleich den Unsterblichen).

Das entspricht ganz dem, was die Schauspieler »schwimmen« nennen: das Aneinanderreihen sinnloser Worte, die bloß durch ihren Klang wirken sollen. Ist das in unserem Sinn Dichtung? Würden wir überhaupt eine solche Dichtung noch schätzen, wenn wir sie nicht mißverständen?

Das Ergebnis des Mißverständnisses ist der Johann Heinrich Vossische Homer. Der ist aber nicht bloß Voß: Voß ist Ausdruck unserer klassischen Dichtung, ja, er ist noch heute, wenn man wenigstens das, was so allgemein Gültigkeit hat, ernst nehmen will, Ausdruck der deutschen Dichtung.

Er ist es in noch ganz anderem Sinn, als bis jetzt besprochen ist. Wir kommen nun auf den Homerischen Vers und seine Nachbildung. Die griechische Sprache mißt im Vers die Zeitdauer der Silben, sie rechnet also nach Längen und Kürzen. Die deutsche rechnet nach Hebung und Senkung. Dazu kommt, daß die griechische Sprache bestimmte, feste Formen von Versfüßen hat, die aus der Verbindung von Länge oder Langen und Kürze oder Kürzen entstehen, während die deutsche Sprache Versfüße gar nicht kennt: sie zählt nur die Zahl der Hebungen im Vers und überläßt die Zahl der Senkungen dem jedesmal nach den Umständen bestimmenden Gefühl des Dichters.

Man darf vielleicht sagen, daß unsere Sprache Länge und Kürze der Silben überhaupt nicht beachtet. Das ist nicht ganz richtig, aber fast. Unsere Schriftsprache, in der wir dichten, ist eine Kunstsprache, die nur geschrieben, aber nicht gesprochen wird. Es haben sich Norddeutschland und Süddeutschland vereinigt, um sie anzunehmen. Noch gar nicht allzulange ist es her, daß man im täglichen Leben, auch in den gebildeten Familien, überall Mundart sprach. In Österreich, Bayern und Schwaben tut mau es noch heute. Jedenfalls spricht man noch heute überall, auch da, wo man der Schriftsprache angenähert spricht, mundartlich gefärbt. Zu den hauptsächlichsten Unterschieden zwischen norddeutscher und süddeutscher Aussprache gehört aber, daß man in Norddeutschland viel weniger Längen spricht als in Süddeutschland. So wird in Norddeutschland der Vokal vor den verdoppelten Konsonanten wohl immer kurz gesprochen, während man in Süddeutschland die Positionslänge spricht: Norddeutsch Lämmer, süddeutsch Lämmer. Es kommt dazu, daß manche Worte sich allgemein in norddeutscher, manche in süddeutscher Aussprache durchgesetzt haben. Man schrieb früher Vatter, das würde man heute in Norddeutschland aussprechen »Väter«, wie man plattdeutsch auch sagt »Vädder«; heute schreibt man Vater, und spricht das schriftdeutsch Väter. Mutter (noch Grimmelshausen hat: Meuder) hat die alte Länge der ersten Silbe verloren; man spricht es schriftdeutsch »Mütter«, wie plattdeutsch Mödder.

Vielleicht bekommen wir einmal eine allgemein gültige Aussprache. Aber zunächst ist daran nicht zu denken, und so darf man also mit gewissem Recht sagen, daß unsere Sprache Länge und Kürze der Silben überhaupt nicht beachtet. Damit ist nicht gesagt, daß Länge und Kürze der Silben nicht für den Vers wichtig sein können. Dichter, die süddeutsch sprechen, sind immer melodischer als norddeutsche, weil sie Länge und Kürze mehr fühlen. Aber dafür gibt es kein Gesetz bis heute, wird es für absehbare Zeit keines geben.

Die griechische Sprache hat also Länge und Kürze, Versfuß und Vers, die deutsche hat nur Hebung und Senkung und Vers, sie hat außerdem den Reim.

Bekanntlich hat Opitz für unsere Verskunst die noch heute geltenden Regeln aufgestellt.

Er kam in eine Zeit äußerster Verwilderung des Verses. Wenn man nur die Hebungen zählt und die Senkungen dem Gefühl überläßt, so geht es in der Prosodie, wie es in der Dichtung überhaupt geht: es ist kein Handwerk da, welches den Mann von mittlerer Begabung halten kann. Die große Begabung, der Mann, bei dem jedes Wort unmittelbar aus dem Gefühl kommt, wird bei solcher Art von Versen wohl das Höchste leisten, das überhaupt zu leisten ist; aber schon der Mann zweiten Ranges kann da nicht immer mit. Nun gab es damals keinen Dichter von Bedeutung. Die Folge war eine unbeschreibliche Roheit des Verses.

Opitz war ein Mann von großem Verstand, großem Geschmack und ausgezeichneter Bildung. Er wußte auch von unserer älteren Dichtung. Aber es war ihm wohl nicht klar, wie man sie lesen mußte; er las sie wahrscheinlich mit dem Auge, nicht mit dem Ohr, denn er war keine ursprünglich sinnliche Dichternatur. So mußte er denn den deutschen Vers für ein barbarisches Wesen halten. Ich möchte, um zu zeigen, welches seine Lage war, einige Zeilen aus einem Gedicht von Paulus Melissus abdrucken, das im Anhang der Straßburger Opitzausgabe steht. Melissus hat ordentliche lateinische Gedichte gemacht, es gibt auch einige, offenbar schon unter Qpitzischem Einfluß entstandene deutsche Gedichte von ihm, die gleichfalls nicht übel sind. Dieses Gedicht aber muß aus seiner früheren Zeit stammen. Ich bezeichne die Silben, welche den Ton haben, mit einem Akzent:

Hín und wíder, aúf und áb,
Viel Lánd und Leút durchreiset háb;
Zú bekómmen Léhr und Verstánd,
Auch frémder Zúngen Sprách.
Gedúldet háb manch Ungemach:
Umsónst ist viel Unkósten angewandt:
Gethán mirs wóhl hätts Váterlánd.
Zú was Nútz mir sólchs gelinget,
Wanns wiederúm das Glück mir nít reinbrínget?

Die beiden ersten Verse sind gut. Der dritte ist unmöglich: wie kann man auf »zu« die Hebung legen? Vers 6 ist mindestens sehr hart, auch wenn Melissus »Unkost« statt »Unkosten«, »angwandt« mit verschlucktem e gesprochen haben wird. Unmöglich ist wieder Vers 8, wo ebenso auf »zu« die Hebung liegt.

Opitz war sich über den Unterschied des deutschen Verses vom griechischen vollständig klar.

Die Hauptstelle für unseren Zweck in seinem Büchlein über die deutsche Poeterei ist folgende:

»Nachmals ist auch jeder Vers entweder ein Jambicus oder Trochaicus; nicht zwar, daß wir auf Art der Griechen und Lateiner eine gewisse Größe der Silbe können in acht nehmen; sondern, daß wir aus den Akzenten und dem Ton erkennen, welche Silbe hoch und welche niedrig gesetzt soll werden. Ein Jambus ist dieser:

Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort.

Der folgende ein Trochäus:

Mitten wir im Leben sind.

Dann in dem ersten Vers die erste Silbe niedrig, die andere hoch, die dritte niedrig, die vierte hoch, und so fortan: in dem anderen Vers die erste Silbe hoch, die andere niedrig, die dritte hoch so ausgesprochen werden. Wiewohl nun meines Wissens Niemand, ich vor der Zeit selber auch nicht, dieses genau in acht genommen, scheint es doch so hoch von nöten zu sein, als hoch von nöten ist, daß die Lateiner nach den quantitatibus oder Größen der Silben ihre Verse richten und regulieren. Dann es gar einen üblen Klang hat

Venús, die hát Junó nicht vérmocht zú obsíegen;

weil »Venus« und »Juno« Jambische, »vermocht« ein Trochaisch Wort sein soll; »obsiegen« aber, weil die erste Silbe hoch, die anderen zwei niedrig sein, hat eben den Ton, welchen bei den Lateinern der Dactylos hat, der sich zuweilen (denn er gleichwohl auch kann geduldet werden, wenn er mit Unterschied gesetzt wird) in unsere Sprache, wenn man dem Gesetz der Reime keine Gewalt antun will, so wenig zwingen läßt, als castitas, pulchritudo und dergleichen in die Lateinischen hexametros und pentametros zu bringen sind.«

Opitz hat die Lehre vom Vers mit der Lehre vom Reim zusammengenommen und dadurch eine gewisse Unklarheit erzeugt. Aber seine Meinung ist doch unmißverständlich. Er weiß, daß wir Hebung und Senkung haben, aber er weiß nicht, daß nur die Hebungen im Vers gezählt werden, daß wir also keine festen Versfüße besitzen. Deshalb liest er seinen angezogenen Vers falsch:

Venús, die hát Junó nicht vérmocht zú obsíegen,

statt richtig:

Vénus, díe hat Júno nicht vermócht zu obsíegen.

Ich kenne das Gedicht nicht, aus dem der Vers stammt, und weiß daher nicht, ob der Vers sechs Hebungen oder fünf haben soll. Im ersteren Fall hätte schon der Dichter selber falsch skandiert. Er muß dann ein sehr schlechter Dichter gewesen sein; aber das ist sehr möglich, denn damals hatte man das Gesetz unseres Verses vergessen und zählte einfach die Silben. Wenn trotzdem etwas mögliches herauskam, so war die Ursache, daß selbst der ärgste Theoretiker, wenn er nicht gänzlich von den Musen verlassen ist, doch immer noch Ohren hat und unbewußt sich doch so ungefähr an die Gesetze seiner Sprache hält.

Opitz meint einfach, daß wir durch Hebung und Senkung, wenn wir zwei Silben zusammenstellen, je nachdem wir beginnen, zwei Versfüße erzielen können, den Jambus und den Trochäus, wobei er sich klar darüber ist, daß Hebung und Senkung nicht Länge und Kürze sind. Die gemessene Silbenzahl für den Vers kommt auf diese Weise von selber zustande, deren Notwendigkeit setzt Opitz einfach voraus.

Nun wirkte noch ein merkwürdiges Mißverständnis des antiken Verses.

Wie wir die Verse der Alten in der Schule lesen, so wurden sie nie gesprochen. Wir lesen sie, ohne auf den Wortakzent und Länge und Kürze Rücksicht zu nehmen, indem wir eine bestimmte Silbe des Versfußes als Hebung lesen. Wir lesen sie also etwa so, wie Opitz seinen angezogenen deutschen Dichter: Venús, du hást Junó u.s.f.

So kann man sich klarmachen, wie Opitz zu seiner Ansicht kam. Er las die alten Dichter genau so mit dem exspiratorischen Akzent, wie unsere Dichter gelesen werden müssen, nur daß er bei den Alten den Akzent nicht dahin legte, wo er liegt, ihn nicht mit dem Wortakzent gleich setzte, sondern auf die Silbe, die im Schema den Iktus hat, das ist meistens eine lange. Da mußte er denn notwendig auf den Gedanken kommen, daß es ein barbarischer Unfug war, wenn man einmal zwei Senkungen hatte, während sonst nur eine war, daß man einmal mit der Hebung anfing und das andere Mal mit der Senkung, und er fing entweder immer mit der Hebung oder immer mit der Senkung an und hatte nur eine Senkung. Und so hatte er denn mit einemmal den exspiratorischen Jambus und exspiratorischen Trochäus.

Er dachte nur diese einfachen Versfüße anzuwenden; und so ging denn nun die Sache schließlich: praktisch kam nichts gerade Unsinniges heraus, sondern nur eine Verarmung des deutschen Verses. Aber nun kamen die Pedanten, die nicht einsahen, wenn man nun schon Jambus und Trochäus hatte, weshalb man da denn nicht auch den Daktylus haben sollte. Ein Mann namens Buchner hatte als erster diesen Gedanken und entdeckte auf diese Weise den deutschen Daktylus. Und nun war das Unglück da.

Die Alten scheinen die Verse nach dem Wortakzent gesprochen zu haben, wobei sie Länge und Kürze der Silben hervorhoben. Das geschah, indem sie in einem singenden Ton sprachen, etwa wie heute bei uns die Schwaben. Bei uns war das singende Sprechen früher viel häufiger, es fand sich auch z. B. in Thüringen, in Pommern; es geht verloren durch die Schule und die Verbreitung des Schriftdeutsch. Wir Heutigen lesen in der Schule, und schon Opitz las so:

Ándra moi énnepe, músa, polýtroponhód, hós malapólla.

Die Griechen sprachen aber:

Ándrá moi énnepe músa polýtropon hós mala pollá.

Da ist nun der Vers etwas ganz anderes. Man kann sich das an folgendem klarmachen. Für zwei Kürzen des Daktylus kann immer eine Länge stehen. Die Länge dauert also so lange wie die zwei Kürzen. Man kann also nach dem griechischen Hexameter marschieren. Nach dem deutschen Hexameter oder nach dem griechischen, wie wir ihn in der Schule lesen, zu marschieren, das soll man aber wohl bleiben lassen: man kann einen Schottischen nach ihm tanzen. Also: Wenn man den deutschen sogenannten Jambus und Trochäus dem griechischen gleichsetzt, dann mag es immer noch angehen, wenn auch schwer genug. Aber der deutsche sogenannte Hexameter ist ganz etwas anderes als der griechische.

Unsere Vorstellung vom epischen Vers aber haben wir von dem mißverstandenen griechischen Hexameter her, dem Hexameter, wie wir ihn in der Schule lesen; und ein Versungeheuer, wie es Klopstock und Johann Heinrich Voß gebildet haben, halten wir für den uns Deutschen angemessenen epischen Vers.

Ein Versungeheuer: denn die Mißverständnisse sind noch lange nicht zu Ende.

Die Einsicht, welche noch Opitz hatte, daß wir nicht Längen und Kürzen haben, sondern Hebungen und Senkungen, verschwand in der Folgezeit, und man glaubte, daß wir die Verse aus Längen und Kürzen bauen. Das glaubte Klopstock, der wohl einfach annahm, daß er seine in Schulpforta erworbene Fähigkeit, lateinische Hexameter zu machen, nun im Deutschen verwenden könne, und das glaubte Voß. Voß sagt: »Die Silben unserer Sprache sind ungleich an Dauer und an Erhebung des Tons. Einige werden in jedem Zusammenhang anhaltender und stärker gehört, über andere fährt man schneller und mit gesenkter Stimme hinweg, und noch andere halten gleichsam die Mitte und werden unter Umständen gedehnt oder beschleunigt. Wir nennen die ersten lang, die zweiten kurz, und die dritten mittelzeitig.« Voß bringt auch noch in verwirrter Weise Hebung und Senkung hinein; aber was er meint, das ist Länge und Kürze. »Dauer« und »Erhebung« des Tons fallen natürlich nicht zusammen. Das ist Unsinn. Diese falsche Vorstellung hat nun unsere klassischen Dichter beherrscht. Schiller war ein Mann von kurzem Entschluß; er sagte sich, daß ihm diese Theorien nicht angemessen waren, er gab sich für einen Naturalisten des Verses und ging einfach nach seinem Gefühl, das ihn denn auch fast immer richtig geführt hat. Goethe war bedenklicher. In der Italienischen Reise schreibt er am 10. Januar 1787: »Denn warum ich die Prosa seit mehreren Jahren bei meinen Arbeiten vorzog, daran war doch eigentlich schuld, daß unsere Prosodie in der größten Unsicherheit schwebt, wie denn meine einsichtigen, gelehrten mitarbeitenden freunde die Entscheidung mancher Fragen dem Gefühl, dem Geschmack anheimgaben, wodurch man denn doch aller Richtschnur ermangelt. Iphigenien in Jamben zu übersetzen hätte ich nie gewagt, wäre mir in Moritzens Prosodie nicht ein Leitstern erschienen. Der Umgang mit dem Verfasser, besonders während seines Krankenlagers, hat mich noch mehr darüber aufgeklärt, und ich ersuche die Freunde, mit ^Wohlwollen darüber nachzudenken. Es ist auffallend, daß wir in unserer Sprache nur wenige Silben finden, die entschieden kurz oder lang sind. Mit den andern verfährt man nach Geschmack oder Willkür. Nun hat Moritz ausgeklügelt, daß es eine gewisse Rangordnung der Silben gebe, und daß die dem Sinn nach bedeutende gegen eine weniger bedeutende lang sei und jene kurz mache, dagegen aber auch wieder kurz werden könne, wenn sie in die Nähe von einer anderen gerät, welche mehr Geistesgewicht hat. Hier ist denn doch ein Anhalten, und wenn auch damit nicht alles getan wäre, so hat man doch indessen einen Leitfaden, an dem man sich hinschlingen kann.« Was Moritz mit seinen falschen Worten meint, das ist gar nicht so übel, und man kann sich denken, daß seine Worte für Goethe ein Trost in seinen Nöten waren. Aber lange konnte der Trost nicht anhalten. Goethe hatte einmal den Plan zu einem epischen Gedicht über Tell. Er schreibt darüber in dem Bericht über 1797: »Der Vierwaldstätter See, die Schwyzer Hacken, Flüelen und Altdorf, auf dem Hin- und Herwege nun wieder mit freiem offenen Auge beschaut, nötigten meine Einbildungskraft, diese Lokalitäten als eine ungeheure Landschaft mit Personen zu bevölkern, und welche stellten sich schneller dar, als Tell und seine wackeren Zeitgenossen? Ich ersann hier an Ort und Stelle ein episches Gedicht, dem ich um so lieber nachhing, als ich wieder wünschte, eine größere Arbeit in Hexametern zu unternehmen, in dieser schönen Dichtart, in die sich nach und nach unsere Sprache zu finden wußte ... Diese Gedanken und Einbildungen, so sehr sie mich auch beschäftigten und sich zu einem reifen Ganzen gebildet hatten, gefielen mir, ohne daß ich zur Ausführung mich hatte bewegt gefunden. Die deutsche Prosodie, insofern sie die alten Silbenmaße nachbildete, ward, anstatt sich zu regeln, immer problematischer; die anerkannten Meister solcher Künste und Künstlichkeiten lagen bis zur Feindschaft in Widerstreit. Hierdurch ward das Zweifelhafte noch ungewisser; mir aber, wenn ich etwas vorhatte, war es unmöglich, über die Mittel erst zu denken, wodurch der Zweck zu erreichen wäre: jene mußten mir eben bei der Hand sein, wenn ich diesen nicht alsobald aufgeben sollte.«

Diese Worte sind für die Tragödie der deutschen klassischen Dichtung bezeichnend. Begabung und Lebensgefühl hätten bewirkt, daß Goethe in einer epischen Dichtung, wie er sie hier plante, sein Bedeutendstes geleistet hätte. Er kam nicht zu der Arbeit, weil er keine angemessene Form vorfand und selber keine formbildende Kraft hatte.

Goethe hat sich seine Hexameter von Wilhelm v. Humboldt, Schlegel und Voß durchbessern lassen. Er ging nach dem Ohr und Gefühl: er hatte dadurch als Nachteil von der falschen Form nur, außer dem falschen Rhythmus, daß er beengt war in der Wahl seiner sprachlichen Ausdrucksmittel; aber wenigstens hat er selber wohl kaum je einen sprachwidrigen Vers geschrieben. Seine Freunde haben ihm sprachwidrige Verse hinein verbessert.

Wir haben einen schnurrigen Begriff: der »Formkünstler«. Der Formkünstler ist ein Mann, den wir eigentlich, wenn wir ehrlich sind, für ledern halten, aber aus Angst vor den Schulmeistern mit scheuer Hochachtung behandeln. Ein solcher »Formkünstler« ist A. W. Schlegel.

Wie ahnungslos Schlegel in bezug auf die Form ist, das zeige folgender Ausspruch aus seinen »Briefen über Poesie, Silbenmaß und Sprache (1795): »Der Dichter muß sich knechtischem Zwang mit der stolzen Miene der Freiheit unterwerfen. Seine mit Fesseln beladenen Hände und Füße bewegt er zum leichten anmutigen Tanz. Du glaubst, er ruhe wollüstig auf Rosen, während er sich auf dem Bett des Prokrustes peinlich dehnt oder krümmt. Freilich gelingt es auch nicht immer damit. Irgendein hartnäckiges Wort will nicht aus seiner Stelle. Ein Reim, ein einziger, unerbitterlicher Reim ist hinlänglich, um ihn in dem kühnsten und glücklichsten Flug aufzuhalten. Stundenlang ruft er dieses spröde Echo, ohne daß es ihm antwortet. Ja, nicht selten bricht der geheime und anhaltende Zwiespalt zwischen Gedanken und Ausdruck auf der einen, Silbenmaß und Reim auf der anderen Seite in so heftige Tätlichkeiten aus, daß er, unvermögend die Rechte beider Parteien zu schonen, zu einem Richtspruch genötigt wird, wodurch er es mit dem Ohr oder dem Geist seiner Zuhörer, oder auch wohl mit beiden verdirbt.«

Da haben wir den Schulmeister, der überhaupt nicht weiß, was Dichten ist: Daß da Wort und Klang, Sinn und Bild, Maß und Takt zugleich da sind; daß im Dichter die Sprache lebendig wirkt. Dieses prosaische Vieh gestattet sich denn weiterhin zu sagen: »Daß die größten Originaldichter oft ein gewisses Ungeschick zum Versbau verraten, und sich mehr als billig darin erlauben.«

Schlegel teilte den Irrtum, daß wir im Deutschen nach Länge und Kürze messen. Seine falsche Theorie wurde nicht durch dichterische Begabung in ihren Wirkungen gemildert. So kamen denn solche Verse zustande:

Óbwohl deínem Rúf sich bésser
Áls dem Écho dés melód'schen
Órpheus, Thíer und Stämme rühren,
Will ich, únter síe mit Mórden
Wütend, diés Gebirge säubern.

Goethe nennt die Trochäen »allerlieblichste«; da hat er gewiß nicht an solche Verse gedacht.

Die lebendige Überlieferung der falschen Metrik geht bis zu Platen, der ja auch als »Formkünstler« bezeichnet wird, und seinem Schüler Minkwitz. Inzwischen aber hatte sich durch den Einfluß des wieder beachteten Volksliedes das Gefühl geltend gemacht, daß diese Dinge doch nicht so ganz in Ordnung sein können, wie man annahm, und zugleich stellte es sich heraus, daß gute Dichter, welche trotz der falschen Theorie nur nach ihrem Gefühl dichteten, in der falschen Form doch wundervolle Verse machten: man vergleiche Hölderlin mit Platen. Hölderlins Oden sind freilich keine asklepiadischen oder alkäischen Strophen; sie sind deutsche Gedichte, in welchen nur die Senkungen sich in fest vorgeschriebener Weise wiederholen, und sein elegischer Geist paßte zu diesem ruhigen und gemessenen Schritt, der einem rascheren, härteren, schärferen Mann nicht passend gewesen wäre.

In den Niederungen wirkt Johann Heinrich Voß noch heute nach, natürlich auch noch verroht, trotz der »Revolution der Dichtung« in den achtziger Jahren. Man bemerke folgende Hexameter aus Hauptmanns Anna:

»Denn in Salzborn geschahs, im Greifen, im Haus deiner Eltern.
In der »Zwölf«. Du bemerkst, ich weiß noch die Nummer des Zimmers.
Darin hatten Asyl mir gewährt deine Eltern, wie immer
Hilfreich, wenn mich mein Laster einmal wiederum aus der Bahn warf.
Das war damals geschehn! Und als ich, aus bleiernem Schlafe
Aufgewacht, mich besann und mich meines Rückfalls erinnernd,
Jammernd meiner unaustilgbaren, sträflichen Schwachheit,
Ja, da krachte der Schuß! Und wahrhaftig, ich lebte heut nicht mehr,
Hätte der Zufall es nicht gewollt, daß ein Breslauer Dienstmann
Seine Marke mir abzufordern vergessen, und eben
Ausgerechnet durch sie der Lauf der Kugel gehemmt ward,
Denn ich trug sie bei mir, die Marke, wie heut im Notizbuch.«

Ich könnte noch ähnliche Verse von Thomas Mann beibringen, aber diese Probe möge genügen. Die lebendige Überlieferung ist längst zu Ende: wir haben heute auch die Metrik neu aufzubauen, wie wir wohl so ziemlich alles in unserem völkischen Leben neu aufzubauen haben. Halten wir fest, daß die Zahl der Senkungen durch das Gefühl bestimmt wird und daß wir Versfüße im Deutschen nicht haben.

Wir haben Gesetze für diese Arbeit des Gefühls, die vielleicht einmal spätere Forscher erkunden mögen. Ich möchte nur auf eines hinweisen, daß die Hebungen nach ihrer Stelle im Vers verschiedenwertig sind. Aber es wäre gänzlich nutzlos, heute schon darüber nachdenken zu wollen: die Gesetze der Dichtung dürfen nicht gegeben werden, man muß sie aus den vorhandenen Dichtwerken abziehen.


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