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Der Schöpferische und die Zeit

(1930)

Ein jeder Mensch ist ein einzigartiges Wesen, das nur einmal war, ist und sein wird. Bei den weitaus meisten Menschen geht die Einzigartigkeit natürlich auf Unbedeutendes, die durchschnittlichen Menschen einer Zeit sind wie von einer einzigen Form mehr oder weniger genau ausgeprägt; das gilt besonders von Zeiten der Hochzivilisation wie die unserige ist, wo man von ihnen den Eindruck einer gleichgültigen Fabrikware haben kann. Aber wenn man die Menschen nach ihrer Besonderheit ordnet, so kann man immer eine große Anzahl herausfinden, die sich sehr bedeutend von den andern unterscheiden. Unter diesen gibt es einige dann, die man als schöpferische Naturen bezeichnen muß.

Was ist eine schöpferische Natur?

Die Welt, welche uns umgibt, ist immer unsere Schöpfung. Alles, was wir wirken, und wir wirken stündlich, das erzeugt eine Gegenwirkung, und die Summe dieser Gegenwirkungen bildet dann unsere Welt. Wir haben die Empfindungen, aus denen wir die Dinge und Kräfte der Welt bilden, in welcher wir leben, und es kommt ganz auf uns an, welche Dinge und Kräfte wir bilden.

Stellen wir uns einen stumpfen Proletarier vor, welcher durch die Straßen einer Großstadt geht. Er hat keine Ahnung von den Dingen und Kräften, einander feindlichen und freundlichen, welche dieses wirre Leben erzeugt haben und erhalten: er weiß nichts von den großen Männern, welche gedacht und gefunden, geherrscht und geordnet haben; von den rührigen Geschäftsleuten, welche gehandelt haben und haben erzeugen lassen; wenn es hoch kommt, dann denkt er, daß seinesgleichen das alles gemacht hat, das er sieht: die Häuser, die Waren in den Läden und ähnliches. Das kann er denken, denn er sieht ja nur wenig, denn es ist ihm nicht viel mehr wichtig als das Essen und Trinken. Schon eine so kurze Kette von Dingen und Kräften kann er nicht sehen, wie etwa die Pflege des Waldes wäre. So hatten in Rußland die Bauern überall den Wald verwüstet. Seit den vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts hatte der Staat Oberförster angestellt, welche den Wald pflegen mußten, gelegentlich wohl auch schon neu anpflanzten. Als aber die Revolution kam, da schlugen die Bauern die Oberförster tot: ihre Gedanken reichten nicht so weit, daß sie deren Notwendigkeit einsehen konnten.

Stellen wir uns einen Geist der allerhöchsten Art vor: der würde nicht nur das feine Netz sehen, welches alle Menschen und Tätigkeiten seiner Stadt verbindet, sondern würde das auch für sein Land einsehen, für die ganze Erde, er würde die Verbindungen zur Vergangenheit erkennen und überall den Zusammenhang mit der Natur wissen. Der müßte imstande sein, alle Mächte und Kräfte mit Buchstaben zu bezeichnen, die er in eine Formel brächte, und wenn er an dieser Formel rechnete, dann könnte er durch seine Rechnung die Bewegung der ganzen Welt darstellen.

Zwischen dem stumpfen Proletarier, der ja in vielen Eigenschaften, die hier wichtig sind, unter dem sogenannten Wilden steht, und dem umfassenden Geist, der aber noch weit unter dem gedachten höchsten Geist steht, ist nun die Reihe der tatsächlich vorhandenen Manschen. Schöpferisch nennen wir unter diesen diejenigen Menschen, welche als die Ersten Neues gesehen und gewirkt haben.

Mit zunehmender Zivilisation wird in einem gewissen Kreis von Fällen das Schöpferische durch die Organisation ersetzt. Etwa der Mann, welcher das Spinnrad erfunden hat, ist ein schöpferischer Mann gewesen; Edison ist wahrscheinlich gar nicht schöpferisch, sondern nur sehr klug. In einem gewissen Kreis ist das Schöpferische nie zu ersetzen, das ist der Kreis der Kunst.

Aber die heutige Menschheit hat sich so gewöhnt, das Ersetzen des Schöpferischen durch die Organisation als die Regel zu betrachten, daß sie überall das Schöpferische nur noch schwer erkennt. Hier liegt wahrscheinlich der grundlegende Fehler, welcher die heutige Kritik so unzulänglich macht.

Das Schöpferische im Kreis der Technik arbeitet so, daß ein schöpferischer Geist immer auf der Arbeit der früheren schöpferischen Geister weiter baut. In der eigentlichen Wissenschaft geschieht das nicht immer, da kann unter Umständen ein Mann etwas gänzlich Neues schaffen. In der Kunst gibt es kein Bauen auf Früherem, da muß jeder von vorn anfangen.

Vielleicht läßt sich das so erklären.

Denken wir uns die Weltbilder des Proletariers und des höchsten Menschen, dann können wir uns vorstellen, daß zwischen ihnen unendlich viele Weltbilder liegen, die jedes ihren Schöpfer haben müssen. Aber das unterste Weltbild, das des stumpfen Proletariers, ist nun nicht etwa das erste, von dem alle andern ausgehen müssen, das nun überflüssig wird, wenn höhere Weltbilder entstehen, wie die Steinaxt überflüssig wird durch die Bronzeaxt; sondern zu allen Zeiten, auch der höchsten Gesittung der Menschheit, gibt es den stumpfen Proletarier und mit ihm sein Weltbild. Wenn ein Mensch höherer Art entsteht, der schöpferische Gaben künstlerischer Art hat, dann schafft er aus sich und seinen inneren Lebensbedingungen heraus ein neues Weltbild, das keine Voraussetzung braucht und nur im Technischen, in der künstlerischen Darstellung, auf Früherem ruht. Etwa jene Welt gewaltiger Körperlichkeit von Michelangelo hat keinen Vorgänger, sie hat auch keinen Nachfolger, nur Nachahmer; die sind aber belanglos. Das künstlerisch Schöpferische ist also Ausdruck der einmaligen bedeutenden Persönlichkeit; es stellt sich dar durch geschichtlich überkommene Mittel, die natürlich nach dem neuen Zweck jedesmal mehr oder weniger geändert werden müssen.

Man sieht sofort ein, daß Kritik hier überhaupt nicht am Platz ist. Eine jede Persönlichkeit ist eine Naturerscheinung, wie ein Baum oder ein Tier; eine Naturerscheinung kann man natürlich nicht kritisieren, man kann sie nur genau betrachten und dadurch vielleicht in etwas zu verstehen suchen. Wenn trotzdem kritisiert wird, so wird das Ergebnis sein, daß diejenigen Kritiker, die seelisch Verständnis für das neue Weltbild haben, in Bewunderung ausbrechen, und die andern kaltblütig erklären, daß ihnen der neue Mann überhaupt nicht paßt, wobei sie denn das, was sie wünschen, also ihr Weltbild, als Ideal hinstellen, das der kritisierte Mann nun eben nicht erreicht habe. Wenn etwa Heinrich Heine über Goethe schrieb, er werde »durch den Anblick antiker Götterstatuen an Goethes Dichtungen erinnert«, und fand, »daß ihre Starrheit und Kälte sie von unserem jetzigen bewegt warmen Leben abscheidet, daß sie nicht mit uns leiden und jauchzen können, daß sie keine Menschen sind, sondern unglückliche Mischlinge von Gott und Stein« – dann gibt er also keine Kritik Goethes, sondern er zeigt nur, daß er selber das ist, was die Künstler einen »Schmalzengel« nennen, und daß er nicht richtig denken und ordentlich Deutsch schreiben kann.

Man sieht auch sofort den Unterschied zwischen der Wirkung der Schöpferischen in den verschiedenen Kreisen. Der Techniker, dem seine Arbeit geglückt ist, wird sofort seinen Erfolg haben, wenn nicht das, was er geleistet hat, so entfernt von der allgemeinen Meinung ist, daß es selbst, wenn es fertig dasteht, nicht verstanden werden kann. In der Wissenschaft kann es schon leichter vorkommen, daß die bedeutende Leistung nicht erkannt wird, weil sie zu fremdartig ist. Aber bei dem Künstler ist die Sache so, daß ihn nur die Menschen, die seinesgleichen sind, sofort erkennen werden. Je bedeutender er ist, desto kleiner ist der Kreis. Ruhm ist die Anerkennung der großen Masse. Man wird also wohl annehmen können, daß ein berühmter Techniker immer etwas Ordentliches geleistet haben muß, ein berühmter Gelehrter vielleicht gegen einen anderen, weniger berühmten, überschätzt ist, aber doch jedenfalls etwas bedeuten wird; ein bei seinen Zeitgenossen berühmter Künstler aber wird höchstwahrscheinlich gänzlich nichtig sein, denn nur in sehr seltenen Zeiten der Menschheit hat es das Glück gewollt, daß die Tonangebenden und Maßgebenden im Volk auch die Besten waren. Heute sind sie es gewiß nicht.

Es kommt dazu, daß die künstlerische Leistung auch immer den sittlichen Menschen berührt.

Wir müssen ja wohl Geist und Willen unterscheiden; aber wir sollten uns doch immer klar darüber sein, daß der Mensch eine Einheit ist, und daß Dummheit und Gemeinheit und die anderen entsprechenden Eigenschaften nur verschiedene Worte für dieselbe Sache sind, die nur von verschiedenen Seiten aus gesehen wird. Gegen den schöpferischen Techniker werden selten Wirkungen aus dem Haß kommen, etwa wenn durch seine Erfindung Leute arbeitslos werden und sich nicht dem Neuen anpassen wollen. Gegen den schöpferischen Gelehrten kommen schon häufiger Gegenwirkungen des Hasses, so wenn etwa die angeblich heiligsten Güter der Menschheit von ihm angetastet werden. Gegen den schöpferischen Künstler wird sich stets die zeitgenössische Gemeinheit wenden, die ja nun eben immer die Macht hat. Wie Galilei verlangte, daß die Menschen eine höhere Vorstellung von Gott haben sollten als bisher, so verlangt der schöpferische Künstler höhere Vorstellungen von aller Sittlichkeit, von aller Religion; ist die herrschende Gemeinheit auf bequeme Erhaltung des Bestehenden gerichtet, dann gilt er als Aufrührer, und ist sie auf Umsturz und Plünderung eingestellt, dann gilt er als Dunkelmann. Das ist nun eben einmal so. Plutarch erzählt von einem athenischen Staatsmann, der einmal während einer öffentlichen Rede einen außerordentlichen Beifall erhielt. Er drehte sich um und fragte betroffen seine Anhänger: »Freunde, sollte ich vielleicht eben etwas Dummes gesagt haben?« Noch jeder höhere Geist hat die Volksgunst so eingeschätzt wie dieser Staatsmann.


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