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Die Entwicklungsrichtung der deutschen Literatur

Ein Vortrag vor schwedischen Studenten

(1921)

Meine Herren! Die Menschheit besteht aus den verschiedenen Völkern, von denen jedes nach seiner Art und Begabung seine bestimmte Stelle in der Gesamtheit hat. Kein einzelnes dieser Völker darf sagen, daß es die Menschheit darstellt, jedes ist nur ein Teil.

Die Verschiedenheiten äußern sich in der gesamten Lebensgestaltung. Sie sind aber nicht überall klar zu erkennen, weil ja überall mehr oder weniger noch andere gestaltende Kräfte mit am Werk sind. Am wenigsten ist das der Fall in den schönen Künsten. In ihnen zeigt sich das Wesen eines Volkes am reinsten; und wer wissen will, was ein bestimmtes Volk in Wirklichkeit eigentlich ist, der studiere nicht seine Geschichte, sein Land, sein wirtschaftliches und gesellschaftliches Leben; er wird hier sehr leicht Irrtümern verfallen; sondern er studiere seine Kunst.

Von allen Künsten ist die geistigste die Dichtkunst.

Um ganz klar zu machen, was ich meine, will ich versuchen, das deutsche Wesen erst an einer anderen Kunst darzustellen, wo seine Strebungen einfacher zu verstehen sind, weil sie nicht durch das Mittel von Wort, Begriff und Gedanken gehen müssen, sondern rein sinnlich bleiben. Ich meine die Malerei.

Sie wissen, die Farben haften nicht den Dingen an sich an, sondern sie entstehen in unserem Gehirn durch die Schwingungen, welche den Sehnerven treffen und werden dann aus unserem Gehirn in die Außenwelt geworfen, deshalb verändern sich die Farben der Dinge mit dem Licht. Wenn Sie einen blauen Mantel durch gelbes Licht treffen lassen, so entsteht da, wo das Licht auffällt, grün.

Der Deutsche fühlt nun: die Farbe ist etwas Geistiges. Diesem Geistigen entspricht überhaupt nichts in der Wirklichkeit, sie wird nur durch die Wirklichkeit veranlaßt.

Der blaue Mantel wird natürlich ins Grüne spielen, wenn gelbes Licht auf ihn fällt, aber das geht mich nichts an. Die Hauptsache ist der blaue Mantel, nicht das zufällige, wechselnde Licht; denn dieser blaue Mantel ist eine Forderung meines Geistes. Als Maler habe ich nicht diese ewig wechselnde sinnliche Welt darzustellen, die nie zu fassen ist; sondern das, was mein Geist hinstellt als das, was Außenwelt sein soll. Ein Mantel ist blau, und ich habe ihn so zu malen, daß er eben blau ist.

Es ist hier eine unbeirrbare Stilsicherheit vorhanden, der Trieb, welchen man den deutschen Idealismus nennt. Der Deutsche sucht eine geistige Welt neu zu schaffen, die neben der sinnlichen Welt ein Eigenleben hat.

Wir brauchen die Absicht der Deutschen uns nur klar zu machen, um einzusehen, daß sie nicht nur unendlich schwer ist, daß sie nie völlig erreicht werden kann. Der Deutsche will sich als Schöpfer neben Gott stellen, er will etwas Neues in die Welt setzen. Er ist aber nur ein Mensch, und so kann ihm das, was er will, nur bruchstückweise gelingen.

Wir werden auch sehen, wie leicht der Deutsche irre gemacht werden kann. Er hat nur sein Ziel und eine Bewegung auf das Ziel: andere Völker erreichen mehr, haben Faßbareres, und so kommt es, daß sie ihn leicht mit ihren Errungenschaften übermäßig beeindrucken können. Gehen wir mit den gewonnenen Einsichten nun zur Betrachtung der Dichtung über. Auf den ersten Blick sehen wir, daß da die Deutschen das höchste Wollen haben, ein Wollen, das nur wenige andere Völker überhaupt fassen können; daß ein ganz vollkommenes Werk den Deutschen aber fast nie geglückt ist.

Ich habe absichtlich die herkömmlichen Worte vermieden, wie Idealismus und Realismus, Klassizität und Romantik. Diese Worte sagen zu viel und zu wenig; wir müssen versuchen, zu einer Anschauung der Dinge durchzudringen durch geschichtliches Studium; nur durch eine solche Anschauung können wir auch zu einem Verständnis kommen, während wir sonst immer nur beim Werten bleiben, das heißt sagen, in welcher Beziehung diese Dinge zu unseren zufälligen Persönlichkeiten stehen.

Rufen Sie sich nun die Geschichte der deutschen Dichtung in den Geist zurück.

Um das Wesentliche derselben darzustellen, will ich Italien, Deutschland und die nordischen Länder gegeneinander stellen.

Wenn die Dichtung ihr höchstes Ziel erreichen, ihre höchste Aufgabe erfüllen soll, so muß sie Volksdichtung sein, das heißt das ganze Volk muß gefühlsmäßig eine Einheit bilden, so, daß ein dargestelltes Gefühl den Vornehmen ebenso erfaßt wie den Mann aus dem Volk, daß nicht der Zustand ist, wie wir ihn heute kennen, wo die höheren Stände durch ihre Bildung ein vom Volksganzen abgetrenntes Dasein führen. Der gesunde Zustand war in der germanischen Welt vorhanden; er wurde dadurch zerstört, daß in ihr nicht organisch sich aus ihr selbst allmählich eine höhere Gesittung bildete; sondern daß aus der Fremde eine höhere Gesittung kam – noch dazu im Wesentlichen zweifelhafter Natur, denn sie war die Gesittung der untergehenden römischen Gesellschaft – die nur den höheren Ständen zugänglich war. Dadurch entstand der Riß im Volk, den wir heute noch haben. Der Einfluß der Fremde kam von Süden her, Sie im Norden haben ihn also später empfangen wie wir Deutschen, Sie haben dadurch länger ein einheitliches Volksleben bewahrt als die Deutschen, und noch bis ins siebzehnte Jahrhundert hinein, wie mir scheint, in der Dichtung sich rein germanisch erhalten. Nehmen Sie etwa eine Sammlung Ihrer alten Volksballaden in die Hand, da haben Sie Ergebnisse einer ruhigen Entwicklung aus der Urzeit. Noch im siebzehnten Jahrhundert wurden diese Volksballaden am Hof des Königs ebenso gesungen wie auf dem Hof des Bauern.

In Italien waren die Zustände so, daß in den Jahrhunderten der Zerrüttung, wo Familien von oben nach unten und von unten nach oben kamen, wo die germanischen Eroberer zunächst doch wohl das romanische Volk schon allein durch den Umstand, daß sie herrschten, zu einer einheitlichen Masse zusammenballten, daß damals sich wieder eine Volkseinheit bildete, in die einerseits die Germanen dann aufgenommen wurden, welche andrerseits das, was noch an antiker Gesittung vorhanden war, als zugehörig empfand. So konnte es doch kommen, daß in dem Augenblick, wo die neue Sprache sich festsetzte, auch eine Dichtung vorhanden war, welche das ganze Volk bewegte, deren bedeutendster Vertreter Dante ist. Dante aber ist in Italien heute noch so lebendig, wie uns Schiller und Goethe, während Ihnen wie uns die Dichtung, die wir zu Dantes Zeiten hatten, verloren gegangen ist. Ihnen später wie uns; deshalb haben wir Deutschen nur geringe Bruchstücke unserer alten Volksdichtung erhalten.

Nun hat in Deutschland ein zweimaliges Einströmen des Fremden stattgefunden: einmal in der Hohenstaufenzeit nordfranzösische und provençalische Dichtung, dann seit der Renaissance die gelehrte Dichtung des späten Altertums und die auf ihr ruhende der Italiener und Franzosen. Das hängt mit den allgemeinen geschichtlichen Schicksalen des deutschen Volkes zusammen, deren Zusammenhang ja klar ist. Beide Male fand eine Spaltung des Volkes durch die Bildung statt, beide Male mußte die Dichtung sich bilden, ohne ihre tiefsten Wurzeln in das eigentliche Volksleben hineinsenken zu können.

Auch die Dichtung der Hohenstaufenzeit ist für Deutschland ja nur noch geschichtlich, wir wollen sie übergehen, obwohl sie anziehende Aufgaben für die Betrachtung stellt, um zur Dichtung der neueren Zeit zu kommen.

Hier haben wir also nun folgende Elemente:

Erstens den allgemeinen Trieb des deutschen Geistes, dichterisch eine neue Welt zu schaffen, sich damit eine Aufgabe zu stellen, die unlösbar ist und nur eine unendlich weite Annäherung gestattet;

und zweitens die durch geschichtliche Umstände bedingte Tatsache, daß dieser Vorgang in den höheren Klassen vor sich gehen mußte in Weiterbildung fremder Anregungen und ohne Zusammenhang mit der Gesamtheit des Volkes.

Diese Tatsache, die ja mehr oder weniger bei fast allen Völkern des heutigen Europa vorliegt, ist noch heute wirksam, ihre unheilvollen Folgen werden deshalb nur schwer von uns verstanden. Machen Sie sich klar: jede Kunst kommt aus dem Gefühl. Steht der Einzelne mit seinem Gefühl allein, spürt er nicht das gleichgerichtete Strömen des gesamten Volksgefühls, so verliert sein Gefühl außerordentlich an Kraft. Muß er sich in die Welt seines Gefühls erst durch Anstrengungen des Verstandes hineinarbeiten, dann verliert er wiederum an Kraft. Noch in den ersten Jahrzehnten unserer klassischen Zeit bezeichnete man gern die Dichter als Gelehrte. Nun, es gibt kaum einen größeren Gegensatz als den des Dichters und des Gelehrten; ist der Dichter gezwungen, gleichzeitig Gelehrter zu sein, so kostet ihn das außerordentlich viel. Wie gesagt, die meisten europäischen Literaturen befinden sich in dieser Lage; am schlimmsten mußte sie wirken bei den Deutschen mit ihrem ohnehin gefährlichen Kunstziel.

Gleich am Anfang unserer klassischen Zeit steht das Streben nach dem großen nationalen Drama.

Die mittelalterlichen Völker hatten dramatische Vorführungen verschiedener Art, durch welche sie Vorgänge, welche ihnen aus verschiedenen Gründen bedeutend waren, mit Darstellung und gesprochenem Wort aufführten. Diese Vorführungen waren sämtlich mehr oder weniger epischer Art. In Spanien konnte sich unter günstigen geschichtlichen Voraussetzungen das große Drama entwickeln, und wenn es eine neuzeitliche Literatur gibt, welche man der griechischen vergleichen kann, so ist es deshalb die spanische. Im England der Elisabethanischen Zeit wandte sich eine Fülle dichterischer Talente der Form zu, ohne sie künstlerisch auf die Höhe der Spanier zu bringen, aber doch mit dem Erfolg eines großen dichterischen Reichtums. Was die Männer des achtzehnten Jahrhunderts, welche unsere klassische Dichtung begründeten, hier vorfanden, war gänzlich wertlos. Aber man dachte, daß man es als Ausgang für ein großes Drama benutzen könne, indem man von den Franzosen lernte.

Es stellte sich bald heraus, daß das französische Drama selbst Dichtung zweiter Hand war, man ging deshalb bei den Engländern in die Lehre, welche wohl nicht zur eigentlichen dramatischen Form gekommen waren, aber doch jedenfalls dichterische Natur und Selbständigkeit hatten.

Wir Menschen von heute können einen weit größeren Kreis der Welt überschauen als die Männer um etwa 1750, wir sehen daher auch, daß alles, was damals vorlag, bedingt war, daß eine Nation aus sich selbst die Formen schaffen muß. Das war damals nicht möglich: die heutige Freiheit der Menschen ist im wesentlichen der Arbeit der damaligen Männer erst zu verdanken.

Stellen Sie sich nun vor: dieses deutsche Streben auf Kunst, auf reine Kunst, auf Kunst, wie sie in der Musik ja geglückt ist, weil die äußeren Voraussetzungen günstiger waren, auf Schaffen der neuen dichterischen Welt, welche neben der Welt der Wirklichkeit steht: vor sich gehend in Formen, die von anderen Völkern stammten, unter Voraussetzungen, die im eigenen Volk nicht zutrafen, und ohne jede Mitarbeit des Volkes – dann haben Sie die Lage, in welcher die deutschen Dichter ihre Werke schaffen mußten.

Stellen Sie sich ferner vor, daß im Mittelpunkt des Strebens das Drama stand, welches eine besondere Begabung erfordert, daß von den beiden großen Dichtern aber nur Schiller diese Begabung hatte, der auf der anderen Seite an allgemein dichterischer Begabung unter Goethe stand.

Die Menschheit besteht seit unvordenklichen Zeiten, sie umfaßt einen immer größer werdenden Kreis von Menschen. Um eine Kultur zu erzeugen bedarf es nur eines kleinen Kreises – denken Sie an die Mittelstadt Athen – und nur einiger Jahrzehnte – denken Sie an die kurze Zeit griechischer Blüte. Aber so vieles muß zusammen kommen, damit der Bau einer Kultur völlig glückt, daß nur ein paarmal in der ungeheuren Geschichte der Menschheit der Glücksfall eingetreten ist; außer ihnen gibt es dann noch eine große Menge nur teilweise erfolgreicher Versuche. Einer von diesen ist die deutsche Dichtung, vielleicht kann man ihn als den bedeutendsten bezeichnen.

Mit Goethes und Hegels Tod um das Jahr 1830 war die Blüte der deutschen Kultur zu Ende. Es folgten einige Jahrzehnte eines immer tieferen Sinkens, in denen nur einzelne Dichterpersönlichkeiten auftauchten, die gänzlich zusammenhanglos mit ihrer Zeit waren. In den meisten anderen europäischen Ländern folgte auf diese Zeit die sogenannte Moderne: eine naturalistisch oder realistisch gerichtete Dichtung, meist ohne Formwert, mit stark gesellschaftskritischen Bestrebungen. Diese erzeugte in den achtziger Jahren in Deutschland eine Nachahmung, aus der ganz allmählich sich wieder Selbständigkeit anbahnte: eine Bewegung, welche bewußt wieder die Richtung unserer klassischen Zeit eingeschlagen hat, unsere nationale Richtung, in der deutsches Wesen sich ausdrücken kann. Es ist auch die Bewegung, aus der meine Arbeit gekommen ist, auf das Drama gerichtet.

Das Drama aber ist nach Ursprung und Ziel religiöse Dichtung. Und hier nun schließt sich der Kreis.

Bei allen Völkern heute ist ein Sehnen nach Gott. Überall fühlen die Menschen, daß etwas Neues kommen muß, um ihnen einen Sinn des Lebens zu geben, denn keiner weiß heute, wozu er lebt. Wir haben in unserem christlichen Glauben eine Religion, die uns führen kann. Aber in den Jahrhunderten haben die Menschen diesen Glauben lässig herübergenommen, sie haben ihn für ein Wissen, für einen Besitz gehalten; und so hat es sich denn heute herausgestellt, daß das Christentum den Menschen das nicht mehr geben kann, was sie brauchen. Einer unserer großen Dichter hat gesagt: »Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen«. Unsere klassische Dichtung nannte sich humanistisch; aber sie ruhte in ihrem Gehalt auf dem Christentum; sie, wie unsere klassische Philosophie dachten das Christentum weiterzubilden, daß es den Menschen der Zeit wieder etwas sagen konnte. Wege auf dieser Weiterbildung waren Don Carlos und Wallenstein, Faust und Iphigenie, die Ästhetik Schillers und die Naturanschauung Goethes.

Große Dichtung ist immer religiös; Religion, wenn sie lebendig ist und nicht tot überkommen, geht immer Hand in Hand mit großer Dichtung. Was das deutsche Volk meinte in seinem unklaren Suchen nach dem deutschen Drama, das war ein religiöses Drama von der Art der Aischylos und Sophokles. Und als dann in unseren Tagen die Weiterbildung des damals Abgebrochenen wieder versucht wurde, da wußte man: es handelt sich um Religion im Gewand der Dichtung.

In der Sehnsucht Nietzsches nach dem Übermenschen finden Sie den gedanklichen Ausdruck dessen, was ich hier für die Dichtung meine. Würde es glücken, daß die Nation die Arbeit aufnähme, welche von ihren Dichtern geleistet wird, dann würde es bald besser stehen um unser unglückliches, dem Abgrunde zu rollendes Europa: dann würden die Menschen sehen, daß der Kampf der Völker nötig ist, aber nicht der Haß; und daß in den Völkern die verschiedenen Klassen nötig sind, aber daß ihr Haß die Völker zerstört; denn dann würden sie sehen, daß es ein Höheres gibt, als die kleinen äußeren Güter, um die sie jetzt ringen: nämlich das Emporsteigen der gesamten Menschheit zu Gott.


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