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Die Inspiration

(1930)

Nach der christlichen Lehre sind unsere heiligen Schriften ihren Verfassern göttlich eingegeben oder inspiriert, wie der Ausdruck lautet. Über diese göttliche Eingebung hat man wenig Näheres gesagt; es wird aber betont, daß es sich nicht etwa um eine wörtliche Eingebung, eine Art Diktat handelt, und daß deshalb die Art, wie etwa manche Barockbilder die heiligen Schriftsteller zeigen, mit schräg nach oben gerichtetem Blick und berufsmäßiger Begeisterung dem göttlichen Wort lauschend, nicht so ganz richtig sein dürfte.

Der Begriff der göttlichen Eingebung stammt schon aus der alten Dichtung und wird wohl von dieser auf die Verfasser unserer christlichen Schriften übertragen sein. Es liegt in der Natur der Sache, daß ein solcher Begriff im Lauf der Zeit durch gedankenloses Nachsprechen des Wortes leer wird; wir müssen also suchen, wo er zuerst auftritt, und müssen ihn da genauer ansehen.

Er begegnet uns zuerst bei Homer.

Wenn wir in den Homerischen Gedichten die Stellen untersuchen, wo davon gesprochen wird, daß die Muse dem Dichter etwas mitteilen soll, so werden wir immer finden, daß Inhaltliches, ein Geschehen oder ein Sein mitgeteilt werden muß. Vor allem die Namen der vorkommenden Personen oder Gegenstände werden dem Dichter von der Muse genannt.

Nach der damaligen Auffassung ist das Dichten selber ein Handwerk, das gelernt werden muß, bei einem einzelnen Lehrer oder in einer Schule. Was wir Begabung nennen, das wird als selbstverständlich vorausgesetzt. In urtümlichen Zeiten, wo sich in dem harten Kampf ums Dasein nur der Mensch halten kann, der im Vollbesitz seiner geistigen und körperlichen Kräfte ist und die verkrüppelten Menschen überhaupt nicht leben können, welche das zivilisierte Leben erzeugt und braucht; da kann man in der Tat wohl annehmen, daß die Summe der geistigen Fähigkeiten, welche das ausmachen, was wir dichterische Begabung nennen, verbreiteter ist. Wir hören ja von Reisenden, daß bei begabten wilden Völkerschaften unter Umständen jeder ein Dichter ist.

Das Handwerk geht auf das Sagen dessen, was der Dichter in seinem Gemüt hat, das Sagen in einer dichterischen Form, die in den meisten Fällen überkommen ist. Es wird dem Dichter in der Homerischen Zeit gegangen sein, wie es etwa einem heutigen Romanschriftsteller geht, der die Form des Romans als gegeben hinnimmt, ohne viel darüber nachzudenken, daß sie ja irgendeinmal entstanden sein muß.

Das, was wir »Gehalt« nennen, wird damals noch nicht besonders betrachtet. Der Gehalt kommt aus der eignen Brust des Dichters, der nun ein bedeutender Mensch sein kann oder ein unbedeutender; und er steckt in seinem Stoff, in dem Inhalt dessen, was er sagt, dem Geschehen, dem Sein, welches er berichtet. Wir heute wissen, daß ein bedeutendes Werk entsteht, wenn ein bedeutender Dichter einen bedeutenden Stoff behandelt; wenn etwa der Clavigo unbedeutend ist und der Faust bedeutend, so liegt das nicht an Goethe, sondern am Stoff; aber wenn nun nach Goethe eine ganze Reihe armer Schächer auch noch nachträglich einen Faust geschrieben haben, der nicht bedeutend ist, so liegt das daran, daß diese Männer eben nicht bedeutend waren.

In unseren homerischen Gedichten sind Bruchstücke verschiedener Dichter aus verschiedenen Zeiten zusammengestellt. Diese Dichter sind von verschiedener Bedeutung: es gibt unter ihnen ganz große und recht mäßige. Das haben die Menschen lange nicht gemerkt, nur gelegentlich wird es in den Jahrtausenden Einem einmal klar, daß »der gute Homer manchmal schläft«. Was in den Urzeiten und noch lange nachher den Leuten wichtig war, das war nicht das dichterische Können, nicht der bedeutende Geist, sondern die Mitteilung von Geschehnissen und Zuständen.

Die Lehren unserer Kirche sind uns Heutigen oft dadurch unverständlich, ja anstößig, daß ältere Begriffe und Worte nicht mehr in dem Sinn aufgefaßt werden, den sie zu ihrer Zeit hatten, sondern daß ihnen der Sinn untergeschoben wird, den sie in unmerklichem Wandel heute bekommen haben. Man hilft sich dann damit, daß man derart Unerklärliches in den »Glauben« abschiebt und verlangt, daß es einfach angenommen wird. Aber man sollte zunächst einmal einen anderen Weg versuchen. Die menschliche Logik ist immer dieselbe gewesen, nur die Voraussetzungen des Denkens haben sich verändert. Wenn wir die alte Voraussetzung erkunden, dann werden wir finden, daß in vielen Fällen das Unverständliche verschwindet.

Wenn unsere heiligen Schriften ihren Verfassern von Gott offenbart sind, so geht das also auf ihren Inhalt, auf das, was sie berichten.

Was bedeutet das nun, wenn etwa dem Dichter des Schiffskatalogs die Namen von Männern und Völkern offenbart werden? Der Dichter singt: »Sagt mir nun, ihr Musen, welche die olympischen Höhen bewohnen, denn ihr seid Göttinnen, und wart zugegen und wißt alles; wir aber hören nur das Gerücht und wissen nichts: welches waren die Führer der Danaer und Könige?« Die göttliche Offenbarung wird als einzig wahrhaftig der trügerischen menschlichen Erkundung gegenübergestellt.

Es ist auffällig, daß in dem Werk, das auf den Namen eines einzigen Dichters geht, einmal »die Muse« und ein anderes Mal »die Musen« als Offenbarende genannt werden, daß die Art, wie der Vorgang in der Seele des Dichters sinnlich vorgestellt wird, also offenbar keine besondere Rolle spielt. Es kommt lediglich darauf an: die höhere Wahrheit, welche über dem Erkunden durch Befragen der Menschen steht, wir würden sagen über dem wissenschaftlichen Erforschen, muß göttlich offenbart werden.

Geschichtlich waren langjährige Kämpfe der Griechen gewesen. Schon den Zeitgenossen waren sie natürlich unübersichtlich, den Nachgeborenen, welche sie nur durch die Berichte der Früheren kannten, erst recht. Der Dichter will wissen, wie es wirklich gewesen war. Er sieht, daß er sich auf die wirren, sich widersprechenden Gerüchte nicht verlassen kann. Wir Heutigen würden sagen: In seinem Geist geht ohne sein bewußtes Zutun, ohne daß er dichten, erfinden will, ein Ordnen vor sich: plötzlich hebt sich ihm ein klar verständliches Geschehen aus der wirren Überlieferung heraus. Er weiß nicht, daß das ein Ergebnis seiner eigenen geistigen Tätigkeit ist, es scheint ihm eine göttliche Offenbarung des wirklichen Geschehens jener Zeit. Dieses ihm Geoffenbarte erzählt er dann mit einer handwerklich gelernten Kunst, so gut er kann.

Wir wollen einen Vergleich nehmen, der uns zeitlich ganz nahe liegt. Ranke glaubte, daß es Aufgabe des Geschichtsschreibers sei, zu berichten, was wirklich gewesen ist. Wie Homer die alten Leute, welche Erinnerungen hatten, so befragte er alte Papiere und Urkunden. Aus ihnen entstand ihm ein klar verständliches Geschehen, das ihm so erschien, als sei es ihm durch die »Wissenschaft« gegeben. Die »Wissenschaft« ist ja für uns Heutige in vielen Fällen an die Stelle von »Gott« getreten. Homer will genau dasselbe wie Ranke. Genau so wie Ranke ist er überzeugt, daß er das wirkliche Geschehen berichtet.

Als die naturalistische Bewegung durch die Welt ging, die ja von ganz naiven Leuten getragen wurde, da war gleichfalls die Vorstellung, daß man nun gegenüber dem, was früher war, »wir hören nur das Gerücht und wissen nichts«, nun mit Hilfe der »Wissenschaft« wirkliches, wahres Wissen geben werde; und der besonders kindliche Zola bildete sogar den lächerlichen Begriff des »Experimentalromans«.

Stellen wir uns nun die Verfasser unserer christlichen Schriften vor. Auch sie haben die Vorstellung, daß sie schreiben wollen »wie es wirklich war«. Lukas I heißt es: »Sintemal sich viele überwunden haben, zu stellen die Rede von den Geschichten (wörtlich: Taten), so unter uns ergangen sind, wie uns das gegeben (wörtlich: überliefert) haben, die es von Anfang an selbst gesehen und Diener (Schwerarbeiter) des Worts gewesen (geworden) sind, habe ich es auch für gut angesehen, nachdem ich es alles von Anbeginn erkundet habe, daß ich zu dir, mein guter Theophile, mit Fleiß ordentlich schriebe, damit du gewissen Grund (unumstößlichen Beweis) erfahrest der Lehre, in welcher du unterrichtet bist.«

Wie war nun der Vorgang in der Wirklichkeit?

Wir können natürlich nicht mehr dem schreibenden Evangelisten über die Schulter schauen. Aber wir können die verschiedenen Texte vergleichen, welche in den älteren und jüngeren Handschriften vorliegen oder in älteren Übersetzungen, die einen frühen Text aufbewahrt haben, während unsere Handschriften schon spätere Texte geben. Da sehen wir nun an wichtigen Stellen Neubildungen.

Ich will mich hier auf eine einzige Stelle beschränken. Das Wort am Kreuz: »Herr, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun«, ist gewiß eines der wahrsten und göttlichsten aus dem Evangelium. Es fehlt in den älteren Handschriften. Es muß also einmal von einem Mann, der gewiß ein großer Mann und wahrer Christ war, später eingefügt sein.

Hat dieser Mann eine Fälschung eines geschichtlichen Tatbestandes begehen wollen? Wer ein solches Wort dichten kann, der will gewiß keine Fälschung begehen. Wie weit ihm der Tatbestand begrifflich klar gewesen ist, das kann uns gleichgültig sein; vielleicht hat er naiv geglaubt, daß Christus das Wort wirklich gesagt hat, daß es die früheren Schriftsteller nur vergessen haben. Wir, mit unseren heutigen Worten müssen sagen: »Was wirklich gewesen ist«, das ist nur eine kindliche Vorstellung bedeutender Menschen von dem, was sie als wahr empfinden und darstellen – die Wirklichkeit ist überhaupt nie zu erkunden, es gibt nur das, was Menschen für die Wirklichkeit halten, und wenn es eine vom betrachtenden Menschen unabhängige Wirklichkeit gäbe, so wäre sie für uns gänzlich gleichgültig.

In früheren Zeiten der Menschheit dachten sich die bedeutenden Männer den Vorgang so, daß ihnen diese Wahrheit durch eine göttliche Offenbarung mitgeteilt werde. Der Verfasser des Lukasevangeliums war schon zu neuzeitlich eingestellt, um das noch zu glauben, er setzte an die Stelle Gottes etwas Ähnliches, wie Ranke gesetzt hat; aber die Kirche hat dann doch wieder den alten Offenbarungsglauben für seine Schrift neben den anderen Schriften ihres Testaments angenommen. Hatte sie unrecht? Wenn wir nicht mehr an eine vom betrachtenden Menschen unabhängige Wirklichkeit glauben können; wenn einer, der diesen Glauben nicht aufgeben mag, uns doch zum mindesten zugeben muß, daß eine solche Wirklichkeit uns gänzlich gleichgültig sein würde – was bleibt uns dann noch übrig, als an göttliche Offenbarung in begnadeten Manschen zu glauben?

Nur, wir werden den Begriff wohl wieder so auffassen, wie die alten Zeiten ihn auffaßten, ohne sich dessen bewußt zu sein, nicht, wie ihn die Heutigen auffassen; mit unseren Worten ausgedrückt: dynamisch und nicht statisch; wie wir ja auch nicht mehr die einzelnen Worte Jesu heraussuchen und in ihrer Vereinzelung erfüllen wollen, was nicht möglich ist und nur zu Sündenangst führt, sondern ihm nachzufolgen streben, ein jeder auf seinem eigenen Weg, was jedem möglich ist.


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