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Vorwort zum Kaiserbuch

(1921)

Ich habe den Plan gefaßt, die deutsche Kaisergeschichte in einem großen Epos darzustellen. Ich meine das Zeitalter der sächsischen, fränkischen und schwäbischen Kaiser.

Bei einem so großen Unternehmen habe ich Recht und Pflicht, meine Gründe und Zwecke darzulegen.

Ungewußt und ungewollt habe ich mich schon von früher Kindheit an zum Dramatiker gebildet; ich habe meinen mir von meiner Natur vorgezeichneten Weg nicht frühzeitig gesehen; aber auch so bin ich ihn immer gegangen, und ich habe der deutschen Dichtung eine Anzahl Dramen gegeben, welche, wie mir wenigstens heute scheint, den Umkreis der dramatischen Möglichkeiten umfassen. Wenn ein Dramatiker in einem Volk zu einer Zeit aufsteht, wo Sittlichkeit und Geist herrschen, wenn er also von den Leuten wenigstens von weitem verstanden wird, so vermögen Begabung und Können sich bei ihm in einer bunten und reichen Fülle von vielen Werken zu äußern. Ich glaube, daß es nur eine ganz kleine Zahl dramatischer Erlebnisse gibt, welche in dem geborenen Dramatiker im Lauf seines Lebens innerlich geschehen, welche auch sein urbildliches Leben ausmachen; er gestaltet jedes Erlebnis; wenn sein Volk nun geistreich und dankbar ist und seine Gabe mit Freuden aufnimmt, so gestaltet er jedes solches Erlebnis vielmals, so oft, bis das notwendig eintretende neue Erlebnis das alte ablöst. Ein solcher Reichtum war mir nicht gegönnt. Ich bekam von meiner Nation nichts, denn ich hatte das Unglück, gerade zu der Zeit ihres tiefsten Standes geboren zu werden, in welcher sogar die Ahnung des Höheren verschwunden war; und so konnte ich nur mit meiner eigenen Kraft arbeiten. Deshalb ist mein dramatisches Werk arm; fast jedes der typischen dramatischen Erlebnisse hat bei mir nur ein einziges Drama erzeugt.

Ob das durchaus nur Nachteil war? Ob nicht ein Vorteil in der Härte und Schärfe der dramatischen Ausprägung liegt, welche dadurch erzeugt wurde, das werden erst spätere Zeiten entscheiden können. Ich bin geneigt, das letztere anzunehmen, denn ich glaube, daß der Weg der Menschheit zu immer klarerem Wissen über sich selber geht – daß Wort Wissen nicht verstandesmäßig genommen – und daß deshalb meine Werke den Menschen in mancher Hinsicht mehr sein können als die Werke älterer Dichter, denen ich im übrigen nur mit der Ehrfurcht nahe, die wir dem Großen schulden.

Ich sagte, daß es mir heute so erscheint, als ob meine Dramen den Umkreis der dramatischen Möglichkeiten umfassen. Ich kann nicht wissen, ob das richtig ist, denn derartiges kann man ja bei keinem alten Dichter oder Denker lesen, man kann es immer nur selber erleben und versteht es dann neu aus dem Alten. Es ist aber an sich möglich, daß mir noch dramatische Erlebnisse aufgespart sind, und daß ich noch neue Dramen dichten werde.

Aber nun hat sich der Plan dieses großen Epos in mein Leben geschoben, und ich glaube, daß das Erleben, welches ihm zugrunde liegt, das dramatische Erleben ablöst.

In solchen Dingen sind wir alle den ärgsten Selbsttäuschungen unterworfen. Keine Besinnung schützt vor ihnen. Es wäre möglich, daß die tiefe Schmach des Vaterlandes mich ohne mein Wissen bestimmt hätte; mit meinem Wissen hat sie es nicht, denn ich bin mir immer klar darüber gewesen, daß der Dichter nur von Gott abhängt und darstellen muß, was in ihm selbst ist, und nicht was durch äußere Dinge bestimmt wird; zu solchen äußeren Dingen gehört aber auch das geschichtliche Schwanken eines Volkes von Glück zu Unglück, von Tugend zu Schändlichkeit, von Begabung zu Albernheit, und umgekehrt.

Aber wenn ich auch hoffe, daß ich mich nicht durch Äußeres habe bestimmen lassen, so muß ich doch wünschen, daß meine Arbeit auf Äußeres wirkt: nämlich auf mein Volk, von dem ich selber ja ein Teil bin, dessen Leben ich ja mitlebe.

Ein Freund erzählte mir ein kleines Erlebnis aus Italien, das mich auf das Tiefste bewegt hat. Er war auf dem Lande in der Familie eines Kleinbauern. Der Sohn war im Marokkanischen Krieg gewesen und wurde zurück erwartet. Er kam; und zur Feier versammelte sich die Familie und las die Göttliche Komödie.

Wir haben den Krieg verloren, weil derartiges bei uns nicht geschieht, nicht möglich ist. Wir haben den Krieg verloren, weil wir keine Nation sind. Nicht die zehnfache Übermacht, nicht die Feindschaft der ganzen Welt hat uns besiegt; sondern wir sind in uns selber zusammengebrochen, weil wir nicht wußten, was wir wollten. Nur der Dichter kann ein Volk zur Nation machen, nur er kann einem Volk sagen, was es will, denn nur in ihm nimmt das dunkle Gefühl, der unbestimmte Trieb des Volkes Form und Gestalt an. Ich werde weiter unten zu erklären suchen, wie es kommt, daß unser Volk eher als die übrigen Völker Europas die Möglichkeit hatte, eine Nation zu werden und kurz vor dem Zusammenschluß, um 1250, zerbrach, und während dann die übrigen Nationen sich bildeten, sein unnationales, rein volkhaftes Leben weiter führte. Ich beklage den Umstand nicht, wie so viele tun, welche nur die Leiden sehen, die sich aus ihm ergeben, Leiden, welche sich ja fast bis zum Unerträglichen steigern können; denn welcher Mann von Ehre wäre nicht bis in das Innerste seines Wesens getroffen heute durch die Gemeinheit und Dummheit im Innern und den Übermut der Franzosen, Engländer, und selbst Polen, die wir doch mit Recht geistig und sittlich tief unter uns sehen! Wir verdanken es diesem Umstand, daß wir ein reiches und junges Volk sind. Alles haben wir noch vor uns, was die andern, wenn sie es je hatten, längst hinter sich ließen, und wir werden der Menschheit schenken, wie nur die edelsten Völker der Welt ihr geschenkt haben, die Griechen und die Inder.

Wenn wir die Geschichte Deutschlands verstehen wollen, dann müssen wir die europäische Geschichte zu verstehen suchen; zur europäischen Geschichte aber gehören auch die Völker und Landschaften Kleinasiens, Mesopotamiens und Persiens, Arabiens, Ägyptens und Nordafrikas. Diese europäische Geschichte müssen wir dann mit der indischen und chinesischen Geschichte vergleichen. Es ist kürzlich ein dilettantisches und oberflächliches Buch erschienen über den Zusammenbruch des Abendlandes; dessen falsche Analogien mögen warnen; man darf eine geschichtliche Gruppe nicht nach Willkür bilden und dann durch die ja in übergeordneten und untergeordneten geschichtlichen Gruppen sich natürlich immer wiederholenden vorbildlichen Geschehnisse sich zu vorschnellen Urteilen bewegen lassen: die gesellschaftlichen Gesetze gelten natürlich für das Große wie für das Kleine, und man kann in der Geschichte der kleinsten Reichsstadt wahrscheinlich das Abbild der römischen Geschichte finden; sondern man muß die geschichtliche Gruppe nehmen, wie der geschichtliche Zusammenhang sie gebildet hat. Da sieht man aber deutlich die drei großen Kulturen und Zivilisationen: die des Mittelmeeres, des Hoangho und Jangtsekiang, wie des Indus und Ganges.

Vergessen wir nun den Aberglauben der heutigen Menschen an irgend eine ziellose Entwicklung. Es gibt eine Anzahl fester Urbilder des gesellschaftlichen Lebens der Menschen, welche in ursächlicher Verbindung miteinander stehen, so, daß innerhalb eines Kulturkreises im Großen, Kleineren und Kleinsten die staatlichen Formen aufeinander folgen müssen. Wie aber die Verschlingungen dieser sich selber lebenden Kreise zu den übergeordneten sind, das ergibt dann das eigentlich geschichtliche Leben, welches deshalb keineswegs zu berechnen und vorherzusagen ist, sondern immer freie geschichtliche Tat bleibt. Ich glaube, daß begrifflich der Vorgang schwer zu fassen ist, man muß ihn in der Anschauung haben: etwa an das Meer denken, dessen Wogenschlag bestimmt und doch immer neu ist, das in kurzen Zeiträumen wechselt, und in langen Zeiträumen und in ganz langen, welche wir nicht einmal schließen, sondern nur glauben können. Nur, daß in diesem Bild für die Würde und Freiheit des einzelnen Menschen kein Raum ist: von einem anderen Standpunkt betrachtet aber ist gerade der einzelne Mensch das Ziel der ganzen Bewegung.

Wer diskursives Denken gewohnt ist, der muß dem Dichter etwas nachsehen, das ihm als Sprunghaftigkeit erscheint. Mir ist ja klar, daß dieses Vorwort ein Mißbrauch ist; aber in einer Zeit, wo die Menschen die Kunst überhaupt nicht mehr verstehen – ich habe es bei meinen Dramen gemerkt; bei Aufführungen machten sie wohl tiefen Eindruck, besonders auf die Ungebildeten; aber nachher waren die Menschen immer ratlos, und sogar ein geistig Höherstehender sagte mir einmal, er wisse gar nicht, ob er sie überhaupt zur Dichtung rechnen dürfe oder ob sie anderes seien – in einer solchen gänzlich dummen Zeit muß auch der Dichter suchen, begrifflich klarzumachen, was er will.

Das deutsche Volk ist seit 1250 bis heute kleinbürgerlich gewesen; es scheint, daß es heute seine Art wieder zu ändern beginnt. Man höre nicht auf das Geschwätz der Sozialdemokratie, welche von Junkertum und Bourgeoisie zu erzählen weiß; was wir Adel nennen, das sind ländliche Unternehmer, Offiziere und Beamte, sämtlich im höchsten Maße kleinbürgerlich; und unsere Bourgeoisie sind Handwerker oder Geschäftsleute, welche zufällig große Betriebe haben. Diese kleinbürgerliche Art aber vereinzelt, sie verhindert den großen Zusammenhalt der Nation, den der Adel schaffen kann und nicht minder die Bourgeoisie. Sie entwickelt deshalb den Verstand stärker als das Gefühl, denn das Gefühl vereint die Menschen, der Verstand trennt sie – man verzeihe die allgemeinen begrifflichen Worte, anders kann man sich diskursiv nicht ausdrücken.

Setzen wir die Zeit vom dreizehnten bis zum sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert in Deutschland einerseits und in England und Frankreichs andererseits gegenüber, so finden wir, daß in Deutschland sich in den Städten das Kleinbürgertum begründet, in England und Frankreich der heutige Staat sich bildet. Im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert mußten beide Bewegungen ihre Früchte tragen: in England und Frankreich war es die große Dichtung, in Deutschland die Reformation.

Die Dichtung war national, die Reformation war übernational; die Dichtung ging vom Franzosen, vom Engländer aus, die Reformation vom Menschen. Natürlich. Vom Deutschen konnte ja nichts ausgehen, es gab den Deutschen ja noch nicht; es gab ein deutsches Volk, eine Anzahl Menschen in verschiedenen Staaten und Kleinstaaten, die deutsch sprachen und sich auf ihre Sprache hin, durch Sitten und Gewohnheiten untereinander verwandt fühlten; aber es gab keine deutsche Nation.

Im protestantischen Deutschland kam das Bibellesen. Dieses schuf so etwas wie eine geistige Einheit aus dem Volk, und die Sprache Luthers breitete sich erst im protestantischen, dann auch – der Vorgang ist höchst merkwürdig; er zeigt den unterirdischen Zwang der Nationalitätsbildung – im katholischen Deutschland aus. Aber die Einheit lag nur in der Sprache; als Religionsbuch war die Bibel übernational, und als Dichtung war sie Dichtung eines fremden Volkes mit einem nur mühsam anzuquälenden Gefühlsgehalt.

Es würde hier zu weit führen, nachzuweisen, wo eigentlich die Schwäche der Reformation lag – wenn man die Zuspitzung nicht falsch, d. h. allzu ernst nehmen will: sie verneinte zwar den Aristoteles, aber sie bejahte nicht den Plato, sie war geistig zu armselig; wie aus dem Nichtzuwortegekommenen, Unterdrückten der Pietismus sich entwickelte, welcher denn solcher Herkunft entsprechend keinen großen Schwung haben konnte; und wie aus diesem unsere klassische Dichtung, der deutsche Idealismus kam.

Ich habe in meinem Buch über seinen Zusammenbruch gezeigt, wo dessen Fehler lag. Hier genügt es, hervorzuheben, daß er ebenso übernational war wie die Reformation, daß er an die Menschheit dachte und nicht an den Deutschen; das war bei ihm aus derselben Ursache.

Das ist aber ein organischer Fehler eines Schrifttums. Wie Gottfried Keller nur deshalb ein Züricher ist, weil er Gottfried Keller ist, in Zürich geboren und erzogen, gleich so vielen anderen Leuten, aber doch immer der bestimmte Gottfried Keller, nicht ein X oder Y, eine Abziehung, die es überhaupt nicht gibt; wie er nur deshalb ein Schweizer ist, weil er Züricher, so ist er auch nur deshalb Deutscher, weil er Schweizer, und Mensch, weil er Deutscher ist. Es gibt nicht den Menschen an sich, sondern es gibt nur den Gottfried Keller, der ein Züricher, als solcher Schweizer, als solcher Deutscher, und als solcher Mensch ist. Nur indem man teil hat an einer Nation, hat man auch teil an der Menschheit.

Wir haben in unserer Dichtung ein großes Werk, den Faust, das wohl ungefähr als gleichwertig mit der Göttlichen Komödie angenommen werden kann. Wahrscheinlich liegt er an sich doch immerhin einem heutigen Bauern noch näher als die Göttliche Komödie. Aber könnten wir uns denken, daß eine deutsche Bauernfamilie die Heimkehr eines Sohnes durch das Lesen des Faust feiern würde?

Der Italiener findet irgendwie sich selber in Dante; der Faust ist gewiß nicht unnational, aber der Deutsche findet doch nicht sich in ihm, er findet den Menschen. Den versteht das Volk aber nicht. Es will sich selber finden. Unsere klassische Dichtung war nicht Ergebnis der Nationalitätsbildung, sie kann auch die Nation nicht zusammenhalten – fast muß man heute angesichts der Arbeiterbewegung fürchten, daß sie die Nation nur noch mehr auseinanderhält.

Wir sind heute ebensowenig eine Nation, wie wir es in unserer klassischen Zeit waren. Als der Reichstag einen Beschluß gegen die Besetzung durch schwarze Truppen, gegen die tiefste Schändung des deutschen Volkes fassen wollte, stimmten die Unabhängigen dagegen. Wir werden diese Schmach, Deutschen von Deutschen angetan, immer trennend fühlen, wir können ja auch hoffen, daß nun bald das Maß der Gemeinheit und Niedertracht voll ist und die betrogenen Massen sich von dem Gesindel abwenden, das sie führt. Aber sicher ist ein solches Vorkommnis doch der klarste Beweis dafür, daß wir noch immer keine Nation sind.

Kann also ein Dichter da überhaupt etwas anderes schaffen, als was unsere Klassiker schufen?

Mir scheint doch, daß es möglich ist. Das Ideal unserer Klassiker ist zerbrochen. Wir haben nichts mehr, an das wir uns halten können. Wir sind ein Haufen Sand, den der Wind weht, wie er will. Wir haben keinen Glauben, wir haben keine Dichtung, wir haben kein Vaterland, wir haben kein Volk, wir haben keine Ehre, wir haben nichts mehr. Nur der Einzelne ist noch. Aber dadurch, daß nichts mehr da ist von Göttlichem und Menschlichem, was ihn an die anderen binden könnte, hat er auch eine Freiheit, wie sie wohl selten Menschen früher hatten. Ich habe diese Freiheit stets gefühlt, wenn ich durch die Straßen unserer Großstädte ging, an den Theatern vorbei, in welche sich die Menge drängte, ich habe stets gefühlt: Nichts verbindet mich mit diesem Pack. Heute, wo der erwartete Zusammenbruch gekommen ist und die Gemeinheit sich nackt und ohne Lüge spreizt, die damals wenigstens noch log, ist mir meine Freiheit deutlicher geworden als früher: die deutsche Nation ist in der Wirklichkeit nicht vorhanden, sie ist eine Idee.

Ich möchte auf eine Zeit und auf ein Volk hinweisen, wo alles, wenigstens dem äußeren Anschein nach, noch verzweifelter stand als bei uns, wenn schon vielleicht die Volkskraft freilich nicht so von innen heraus verzehrt war – vielleicht; das kann man ja nicht wissen. Mitte des siebenten Jahrhunderts wurde das persische Reich von den Arabern erobert, ein arisches Volk von einem semitischen unterjocht. Die Perser waren ein Adelsvolk, ihre Nationalität ruhte also im Adel. Die Araber mordeten die vornehmen Perser und nahmen ihre Frauen und Töchter in ihren Harem. Sie verboten die alte Religion und zwangen den Persern den Mohammedanismus auf, sie verboten die persische Sprache und vernichteten die Urkunden der alten persischen Geschichte und Dichtung. Den Persern war also alles genommen, was sie als Volk hielt: Gott, Sprache, Dichtung und Geschichte, und selbst ihr Blut wurde ihnen verfälscht. Nun, um die Mitte des zehnten Jahrhunderts wurde Firdusi geboren. Er hat in seinem Königsbuch den Persern eine Dichtung gegeben, aus welcher die Nation neu erstehen konnte. Das war möglich dadurch, daß er ganz frei stand und sein Volk in sich erlebte.

Nun scheint es wohl ein dreistes Unterfangen, wenn ein Mann, der genau weiß, daß er ein Dramatiker ist, ein Epos dichten will. Denn dramatische und epische Begabung schließen sich aus. Das Wesentliche der Begabung ist das Temperament, und man hat entweder ein episches Temperament oder ein dramatisches.

Aber vielleicht wird hier der Begriff des Epischen zu eng genommen. Wir denken bei Epos immer an Homer und machen uns nicht klar, daß das Homerische Epos nur eine Art Epos ist, und vielleicht noch nicht einmal die klassische.

Ich muß wohl weiter ausholen und an den Anfang setzen, was mir von den Kunstformen scheint. Ich halte sie für ewig und glaube, daß die wirklich vorhandenen Dichtwerke formal größere oder geringere Annäherungen an die ewigen Ideale der Formen sind. Nun muß ich unbestimmt sprechen. Das Epos ist etwas Umfassendes, es stellt eine ganze Welt dar – die ganze Welt. Es kann deshalb nicht Form haben in dem Sinn, wie das Drama oder die Novelle, denn diese stellen nur einen einzelnen Kampf, ein einmaliges Geschehen dar, sie müssen also absondern und abziehen; das Epos muß fließen, und eigentlich dürfte es nicht Anfang und nicht Ende haben, es müßte unendlich sein, unbegrenzt.

Die Heimkehr des Odysseus und der Zorn des Achill sind begrenzte Vorwürfe.

Hat man schon daran gedacht, daß die Begrenzung hier gar keinen Sinn hat? Ein Drama rauscht in zwei Stunden – das ist für den heutigen Menschen die Dauer der Aufnahmefähigkeit – an uns vorbei, es ist ihm wichtig, daß in jedem Augenblick das Ganze vor unseren Augen steht, alle Fäden uns bewußt sind, denn es beabsichtigt ja doch eine bestimmte Bewegung im Zuschauer zu erzeugen, die zuerst in flachem Bogen nach oben geht, dann steiler, dann sich eine kurze Zeit hält, und endlich steil abfällt in einem Bogen und mit Aufenthalten, welche die tiefere Besinnung über den göttlichen Sinn des Geschehens ermöglichen. Das Epos aber hören, oder heute, lesen wir in einer Reihe von Tagen, wir brauchen keine allgemeine Spannung, denn wir fangen immer neu an; wir spüren sie auch gar nicht, wir wollen vom Vergangenen ein allgemeines, etwas verschwommenes Bild, vom Ganzen ein breites, umfassendes Weltgefühl.

Sollte nicht zur Zeit des Pisistratus schon ein anderes Lebensgefühl, damit ein anderer Formwille im griechischen Volk gewesen sein als zur Zeit Homers?

Am finnischen Nationalepos können wir die natürliche Form des Epos besser beobachten als bei Homer. Das Epos besteht aus einer Reihe von Episoden, die in sich eine aus einer leichten, nicht starken, dramatischen Spannung hervorgehende Form haben müssen und eigentlich gar nicht miteinander verbunden sind. Das Epos ist eine Aneinanderreihung von erzählenden Gedichten, die von denselben Menschen handeln oder sonst inhaltlich verbunden sind und aus derselben dichterischen Grundstimmung aufwachsen. Es glückt deshalb auch besonders Zeiten, wo die Menschen noch nicht individualisiert sind, so daß mehrere in gleicher Weise dichten und doch ein einheitliches Werk schaffen können, weil sie gleich fühlen, gleich empfinden und gleich denken.

Das, was man das Tempo der Dichtung nennen kann, wird durch den Inhalt bestimmt. Die Homerischen Epen arbeiten technisch-konstruktiv mit der Verzögerung; in ihr finden sie Zeit, eine heitere künstlerisch-sinnliche Welt auszubreiten; deshalb haben sie ein ruhiges Tempo. Der Deutsche ist nicht ein Mann des ruhigen Tempos, er ist sprunghaft, grüblerisch, leidenschaftlich, wild und unausgeglichen. Das zeigt sich auch in seinen Handlungen, welche den Inhalt des Epos abgeben. Ich glaube nicht, selbst wenn man ein dem Homerischen ähnlich geschlossenes und nicht unendlich flutendes Epos geben wollte, daß man dann die Technik der Verzögerung anwenden dürfte. Aber da das nicht beabsichtigt ist, so ist erst recht das ruhige Tempo nicht möglich und nötig, wird ein dem Geschehen entsprechendes Tempo erfordert, das durchaus in dem Bereich der Fähigkeiten eines dramatischen Temperaments liegt.

Dazu kommt aber noch eins, das den heutigen Epiker dem Dramatiker sehr verwandt machen muß.

Die alten Epiker, auch die uns noch am modernsten anmutenden, wie Firdusi und die Mahabharata-Dichter, kennen fast immer nur den Menschen und haben noch nicht die eigentümliche Verbindung von Willen und Schicksal durchschaut, welche zuerst dem Dramatiker aufgegangen ist. Wir aber heute sind nach dem Drama. Ich will, was ich meine, an einem kurzen Beispiel zeigen. Achill zürnt, weil ihm ein Unrecht geschehen ist. Das Unrecht wirkt unmittelbar auf ein starkes und rücksichtsloses Temperament, und von dem aus geht dann die Folge der Wirkungen weiter. Der Ursprung ist ein zufälliges Unrecht, die Mitte ein zufälliges Temperament, die Folgen sind die rein menschlichen, welche sich aus beidem ergeben müssen. Denken wir an den Kohlhaas, da liegt dasselbe vor. Der Kohlhaas erscheint uns mit Recht als ein krankhaftes Werk, wir werden Goethes Urteil über ihn beistimmen. Der Grund ist die Unvernunft, welche darin liegt, daß Kohlhaas die gesellschaftliche Verbindung aller Menschen nicht beachtet. Kleist selber aber hat sie genügend erlebt, und er ließ aus ihr sich den Zusammenhang bewirken. Die Ilias erscheint uns mit Recht als ein gesundes Werk, trotzdem auch Achill diese gesellschaftliche Verbindung aller Menschen nicht beachtet. Der Dichter kannte diese Verbindung überhaupt noch nicht; so läßt er aus ihrer Nichtachtung nichts erfolgen, und so entsteht denn eine dichterische Welt ohne sie, in der uns gar nichts als krankhaft erscheint, sondern alles als Natur. Aber dadurch dürfen wir uns nicht täuschen lassen: die Welt Homers ist nicht mehr die unsere; wir können den Menschen nicht mehr einzeln und unbedingt empfinden, sondern sehen ihn immer nur im gesellschaftlichen Zusammenhang. Achill hat kein Schicksal; er lebt und stirbt wie eine schöne Blume; Kohlhaas hat ein Schicksal; wir können heute den Helden immer nur mit Schicksal empfinden; und wenn ein Dichter heute einen Helden gestalten wollte, der so handelte wie Achill, so wirkte er krankhaft.

Stellen wir uns Gott vor, wie er gegen sich selber Schach spielt: so erscheint uns heute die Welt.

Wir können uns heute das Leben eines Menschen nur denken als bestimmt durch seine Aufgabe, die ihm durch seine äußeren Verhältnisse gesetzt ist und durch die Art, wie er seine Aufgabe erfüllt oder nicht erfüllt. Damit ist das alte Epos unmöglich geworden, muß unser Epos, wenn wir ein Epos versuchen wollen, aus der Gefühlswelt des Dramatikers heraus gedichtet sein.

Vielleicht kann man nun die schwer verständliche Gestalt des großen Ariost richtig einfügen. Er hat den Riß zwischen der alten epischen Welt und unserer Zeit gefühlt, und in seiner Art, als sehr großer Dichter, hat er nun mit ihm seine Arbeit gemacht, indem er die alte Welt komisch nahm. Wenn man Homer nicht so versteht, wie ihn seine Zeit verstanden hat, indem man sich in die alte Weltauffassung mit dem Gefühl und der Vorstellung versetzt, dann muß man doch ein hoffnungsloser Schulmeister sein, wenn man Achill nicht so komisch findet wie den Rasenden Roland: er ist doch die reine Unvernunft, der sich an der Wirklichkeit den Kopf einstößt. Was der freie und große Ariost komisch erlebte, das erlebte der gebundene, ganz in seinem Gefühl ruhende Shakespeare tragisch: sein Lear, sein Othello haben dieselbe Unvernunft; wir heute, wenn wir Shakespeare wirklich verstehen und uns nicht bloß etwas vorklingeln lassen, müssen die beiden Helden doch komisch finden, wenn wir nicht eine Erklärung in einer Kohlhaasischen Krankhaftigkeit suchen wollen. Als äußerstes, nun schon undichterisches, Beispiel denken wir an Don Quixote: er ist bereits als Verrückter gedichtet.

Die Germanen haben in ihrer Geschichte eine Zeit gehabt, wo sie die Möglichkeit des Homerischen Epos hatten. Bei den Südgermanen scheint sich das Heidentum ja nicht voll ausgelebt zu haben, es wurde durch das Christentum vorher abgeschnitten; bei den Nordgermanen hat es sich ausgelebt zu der Form, welche das Homerische Heidentum hat. Auch die Dichter gab es, welche den Homerischen Dichtern entsprachen, es waren die Skalden. Sie haben auch Heldengesänge gedichtet; und mag man unseren Homer im wesentlichen in der Homerischen Zeit gedichtet sein lassen, mag man seine Gestaltung zu dem, was wir heute haben, in die Zeit des Pisistratus legen: beides wäre doch auch bei den Nordgermanen möglich gewesen. Ich glaube, daß die rohe Form des Stabreims das verhindert hat. Schon bei Homer finden wir sehr viel Formelhaftes. Aber das ist in einer beweglichen Sprache, in einem beweglichen Vers, bei welchem in einer Weise, die wir heute gar nicht empfinden können, das quantitierende Metrum über den in natürlicher Betonung gesprochenen Worten schwebt. (Durch die Art, wie die griechischen Verse in unseren Schulen gelesen werden, wird unseren Knaben der Sinn für den Vers in Grund und Boden vernichtet: so ist auch den Männern, welche über diese Dinge geschrieben haben, doch noch nicht einmal der Unterschied zwischen lyrischem, epischem und dramatischem Vers klar geworden.)

Die Germanen stießen das Wesentliche leidenschaftlich hervor, und vergaßen das Unwesentliche, indem sie die betonte Silbe durch den Stabreim noch heraushoben, indem womöglich die Zuhörerschaft diesen Stabreim mitbrüllte. Eine solche Dichtung ist nur in der allerhöchsten Erregung, also nur ganz kurze Zeit natürlich, sie ist fast selber Naturlaut und nicht Dichtung; und wenn da nun etwas Längeres gedichtet wird, dann kommt ganz notwendig Formel, Leere und Meistersingertum. Es ist doch kein Zufall, daß unsere Vorfahren den Stabreim aufgaben.

Homer hat das griechische Volk geschaffen; ohne ihn wären nur Dorer, Ionier und Äolier gewesen. Wenn unsere Vorfahren eine Homerische Dichtung gehabt hätten, dann wäre das Schicksal des deutschen Volkes anders gekommen. Es lag an der Sprache. Aber in der Sprache ist zuletzt immer das Schicksal eines Volkes beschlossen. Ich habe nun eine Erklärung dafür gegeben, daß ich als Dramatiker mich an eine epische Dichtung wage, und an eine epische Dichtung, die solche Absichten hat, wie ich andeutete. Dabei bin ich schon auf die Fragen von Sprache und Vers gekommen.

Am Anfang unserer klassischen Dichtung steht Klopstocks Messias. Wir geben heute zu, daß Klopstock wohl eine bedeutende Persönlichkeit war, aber von fragwürdiger dichterischer Begabung. Der Hexameter ist nach ihm von allen unseren großen Dichtern angewendet, in höchster Meisterschaft zuletzt von Mörike in seinem Idyll vom Bodensee. Mörike hat in der Tat das Unglaubliche fertiggebracht, daß der Hexameter fast wie ein deutscher Vers klingt: aber wer ganz genau zuhört, der wird selbst bei Mörike doch immer noch etwas Unorganisches spüren. Mag es davon kommen, daß der Hexameter berechnet ist auf den Gegensatz von Betonung und Maß, so oder so ist der deutsche Hexameter ein Unding. Wer deutschen Gefühlsgehalt in ihm ausdrücken will, wird sich nie wahr, leidenschaftlich, tief, streng, auch nicht leicht und spielend ausdrücken können, er wird stets dahinwandeln wie der gutgedrillte Soldat mit der hänfenen Halsbinde.

Der deutsche Knittelvers ist unserer Sprache angemessen und aus ihr entstanden. Er hat sich aus dem Vers der Nibelungenstrophe entwickelt. Aber er ist sehr selten von guten Dichtern behandelt und hat von der bänkelsängerischen Gemeinheit, zu welcher er herabgesunken war, zu viel beibehalten. Er scheint mir auch zu kurz, wie mir andererseits der Nibelungenvers, dessen Hälfte er ja ist, zu lang scheint. Nun hat sich der fünffüßige Jambus vom Drama her immer mehr Raum in unserer Dichtung erobert, ganz von selber, wahrscheinlich doch, weil er uns natürlich ist; und gleichfalls von selber hat er durch freiere Behandlung sich zu etwas entwickelt, was man als fünffüßigen veredelten Knittelvers bezeichnen könnte. Dieser Vers schien mir für meine Aufgabe sehr geeignet zu sein; er schmiegt sich von selber dem Inhalt an, er geht in jedem Tempo, er drückt Gefühlsbewegungen in sehr feiner Weise aus, er ist mannigfaltig, und er betont gerade hinreichend, nicht zu viel (wie etwa der Alexandriner) und nicht zu wenig (wie mir die Sloka scheint) das Versmäßige, Höhere und Jenseitige; er muß für uns ähnlich wirken, wie für die Griechen (nicht für uns) der Hexameter; wenn wenigstens noch der Reim dazukommt.

Ohne Reim würde er sich zu wenig von einer sogenannten gehobenen Prosa unterscheiden.

Hier nun muß man bedenken, daß bei einem sehr langen Gedicht leicht eine Ermüdung durch Reimgeklapper eintritt; ich wenigstens kann Gottfried und Wolfram, selbst Hartmann ihres Reimgeklappers wegen nur bedingt schätzen. Das bestimmte offenbar manche Dichter, einen strophischen Bau zu wählen.

In Frage stehen hauptsächlich Nibelungenstrophe, Oktave und Terzine. Alle drei sind lyrische Strophen, alle drei bringen etwas Fremdes, Lyrisches in das Epos. Am geringsten ist das noch der Fall bei der Oktave, die wenigstens nicht so zum Epigrammatischen neigt, wie die beiden anderen. Aber auch die Oktave versteht man eigentlich erst, wenn man die Strambotti kennt, und man wird nicht leugnen können, daß sie den epischen Fluß hindert und kleine abgeschlossene Gebilde hintereinander stellen will.

Ich habe mir eine Strophe zurechtgemacht, von der ich glaube, daß sie einerseits das Reimgeklapper verhütet, indem sie Mannigfaltigkeit der Reimverschlingungen erzeugt, andererseits doch nicht das Epos in einzelne kleine Stücke zerreißt.

So viel über den Vers. Auch die Sprache wird vielleicht zunächst Anstoß erregen.

Es gibt zwei Möglichkeiten für die Behandlung der Sprache im Vers: Entweder man behält die Wortstellung der Prosasprache möglichst bei, oder man stellt die Worte so, daß man jedem Wort möglichst eine ihm in diesem Satz eigentümliche Geltung durch die Stellung verschafft. Welche der beiden Möglichkeiten gewählt wird, das entscheidet das Temperament des Dichters.

Unsere Prosasprache hat die logische Stellung der Worte. Der Dichter aber denkt nicht, sondern schaut; und es ist die Sache seines Temperaments, wie weit er sein Schauen gedanklich darstellen will, wie weit er die Kraft, durch welche er seine Bilder faßt, dem Hörer mitzuteilen versucht. Denn es ist unsinnig, Verse still zu lesen.

Absicht der Dichtung ist es doch, im Hörer selbst wieder ein Anschauungsbild zu erzeugen, das irgendwie mit bewegenden Kräften seiner Seele in Verbindung steht.

Ein Dichter mit einem liebenswürdigen, gleichmütigen und ruhigen Temperament wird stets nach Möglichkeit die Prosastellung beibehalten, ja, ganze Prosakonstruktionen. Seinem Temperament stellt sich nicht eine einzelne abgerissene Anschauung dar; er kann den ganzen Vorgang im Zusammenhang berichten, in der logischen Ordnung, welche die Sprache ihm auferlegt. Man höre Gellert:

Ein kluger Maler in Athen,
Der, minder, weil man ihn bezahlte,
Als weil er Ehre suchte, malte,
Ließ einen Kenner einst den Mars im Bilde sehn
Und bat sich seine Meinung aus.

Man beachte die Schalkhaftigkeit, welche sich in diesen anmutigen Versen ausdrückt. Sie kommt durch die Wortstellung und den Satzbau zustande. Der Dichter ist seinem Maler überlegen: er wird nicht durch die leidenschaftliche Anschauung eines Mannes vor seinem Bild hingerissen.

Damit vergleiche man Hölderlin:

Dort, wo am schroffen Ufer
Hingehet der Steg, und in den Strom
Tief fällt der Bach, darüber aber
Hinschauet ein edel Paar
Von Eichen und Silberpappeln.

Der leidenschaftliche Dichter denkt nicht eine Landschaftsbeschreibung: »Dort, wo der Steg am schroffen Ufer hingeht und der Bach tief in den Strom fällt, überhängt durch eine Eiche und eine Silberpappel«; sondern er schaut die Punkte einer Landschaft, in welchen sich sein eigener Seelenzustand ausdrückt: erst das schroffe Ufer, dann den an ihm hingehenden Steg; den Sturz in den Strom des Bachs; über der Leidenschaft die Besonnenheit: »hinschauet« kommt zuerst; dann die allgemeine Vorstellung: »ein edel Paar«, dann das Bestimmte: Eiche und Silberpappel (man beachte den Gegensatz der Bäume). Das alles aber drückt sich gleichzeitig auch im Tempo aus:

Dort, wo am schroffen Ufer
Hingehet der Steg, und in den Strom
Tief fällt der Bach, darüber aber
Hinschauet ein edel Paar
Von Eichen und Silberpappeln.

Man lese nun etwa die Verse aus dem Abschnitt »Ottos Tod«:

Es zieht vor ihm vorbei ein jedes Land,
Da er gelebt.

Er liegt auf seinem Lager: langsam zieht es vor seinem geistigen Auge.

Das Kinderfüßchen stand
Auf seiner Ahnen Heimatboden.

Das Kinderfüßchen hat ein anderes Tempo, seine Unruhe steht im Gegensatz zu der Ahnen Heimatboden.

Sachsen
Sieht langsam er hinein in Deutschland wachsen.

Das Bild wird auch in der Prosasprache gebraucht und ist da abgegriffen. Das Wort »Sachsen« beginnt eine neue Vorstellungsreihe, abgerissen. Dann, wie Moos in eine Wiese wachst, langsames Hineinwachsen in Deutschland. Der Reim ist absichtlich selten, das Tempo der Reimworte anders, dieser Vers soll gedanklich auffallen.

Nun zieht sich's über Slawiens Sumpf und Wald;
Langsam, zäh, geduldig.
Der Boden hebt sich, gelb der Roggen weht.

Ein anderes Tempo. Die erste Anschauung ist auf dem trockenen Hügel das Gelbe des Roggens, im Wind wehend.

Und klingend froh der Schlag der Axt erschallt.

Noch schneller, an das Sehbild schließt sich das Hörbild: wieder aber erst der sinnliche Eindruck »klingend«, die seelische Verbindung »froh«, dann erst die Deutung, der Schlag der Axt ist ja nicht gesehen, er wird nur erschlossen aus dem Geräusch.

Die Art Gellerts (ich spreche vom Vers, nicht vom Wert der Dichter) und die Art Hölderlins ist berechtigt: jeder Dichter drückt sich aus, wie es seinem Wesen angenehm ist. Dem heutigen Gefühl stehen die Verse von der Art Gellerts näher – es hängt das damit zusammen, daß der Wille bei den heutigen Menschen geschwächt ist – aber das ist durchaus nicht etwa eine Entwicklung des Verses, sondern nur eine zeitlich bedingte Erscheinung.

Nur eine zeitlich bedingte Erscheinung: denn unsere Sprache müßte ja immer mehr verarmen, bis sie den Punkt erreichte, auf dem heute die fast schon tote französische Sprache steht, wenn ihr die Beweglichkeit und Ausdrucksfähigkeit genommen werden sollte, welche sie in der freien Wortstellung hat.

Die Engländer haben etwas wie ein Nationalepos in den Shakespearischen Königsdramen. Unsere Romantiker fühlten, wie an anderen Stellen, so auch im Nationalen die Schwäche unserer klassischen Dichtung. Aber sie hatten keine großen Dichter unter sich. So haben denn in der romantischen Zeit einige armselige Schächer versucht, aus unseren Kaisern etwas zu machen, das den Shakespearischen Königsdramen ähnlich war. Es konnte nicht glücken, abgesehen von der dichterischen Unzulänglichkeit der Männer von Raupach über Grabbe bis zu den letzten Nachzüglern in der Oberlehrerdichtung der achtziger Jahre, weil man sich die Aufgabe ganz falsch gestellt hatte, weil man die Form der Shakespearischen »Historien« gar nicht verstanden hatte. Aus jener Zeit aber stammt das Vorurteil, daß die deutsche Kaisergeschichte dichterisch nicht verwendbar sei.

Sie ist die dichterisch bedeutendste Geschichte, die es im Mittelmeerkulturkreis überhaupt gibt, denn in ihr gehen alle Kämpfe und alle großen Ideen der Menschheit vor sich, sofern sie sich im geschichtlichen Leben äußern. Die englischen Könige sind nichts als eine Horde roher Menschen, welche durch ihre mehr oder weniger niedrigen Leidenschaften hin- und hergezogen werden; die deutschen Kaiser sind in einer geschichtlichen Lage, daß selbst ein Niedriger unter ihnen immer um die höchsten Dinge kämpfen mußte.

Das Deutschland, welches heute zusammengebrochen ist, wurde ja durch mittelmäßige Menschen dargestellt. Aber es gehört doch die Gemeinheit der heutigen Führer unseres unglücklichen Volkes dazu, um nicht zu sehen, daß dieses Deutschland in seiner Mittelmäßigkeit etwas wollte, wollen mußte, das irgendwie mit den höchsten Gütern der Menschheit zusammenhing. Irgendwie zusammenhing mit den höchsten Gütern: das ist sehr unbestimmt gesagt; Deutschland war zu geistlos, um Klareres zu sehen; und wenn es gesiegt hätte, dann hätte die Gemeinheit der Bourgeoisie es überflutet wie heute die des Proletariats, und es wäre zunächst nicht viel Besseres herausgekommen als aus dem Sieg der Westvölker. Die Erneuerung der Welt wird heute von Rußland versucht; und man kann dem russischen Volk und seinen Führern – mögen diese sittlich auch nicht höher stehen als die deutschen Führer – die höchste Achtung nicht versagen, daß sie die Aufgabe übernommen haben; gelöst werden kann sie, das ist meine tiefste Überzeugung, nur durch Deutschland; und vielleicht ist unsere Ehrlosigkeit und Schmach von heute nötig, um das Geschlecht in uns zu erziehen, welches die Aufgabe vollführt.

Wir können heute in Deutschland die Auflösung des Staates beobachten; ein sterbender Staat vergiftet sein ganzes Volk. Ähnlich wie bei uns heute in Deutschland, geschah es im untergehenden römischen Reich: der Staat erfüllte keine seiner Aufgaben; weder gewährte er Schutz gegen den auswärtigen Feind, noch Schutz des Eigentums, noch Ordnung im Innern, sondern er schmarotzte auf Kosten des Volkes, verzehrte sinnlos das Volksvermögen, legte alle schöpferischen Kräfte brach, unterdrückte den Geist und entfesselte, ja beförderte das niedrigste Schieber- und Wucherwesen. Die sittlichen Menschen wandten sich vom Staat ab, den sie als Teufelswerk betrachteten, und verloren dadurch den Einfluß auf die große Masse; und die große Masse verkam durch das Fehlen seiner eigentlichen Führer und die Einwirkung des Staats in Gemeinheit und Niedertracht. Wie heute manche die Bolschewiken ins Land rufen möchten, auch von den zur Verzweiflung gebrachten Besitzenden, so wurden damals die Germanen ins Land gerufen. Sie zertrümmerten den Staat und in Wechselwirkung mit dem staatlichen Zusammenbruch brach auch der größte Teil dessen zusammen, was sich an Geldwirtschaft und wirtschaftlicher Zusammenfassung größerer Gebiete gebildet hatte. Aber keinem von den germanischen Völkern gelang es, eine neue Ordnung der Verhältnisse zu schaffen. Man kann die Entwicklung der Dinge bis zum Ende der Karolinger durchaus betrachten als eine fortschreitende Zersetzung des römischen Reiches, bei welcher die scheinbaren Neubildungen lediglich Erscheinungen des Zersetzungsvorganges sind.

Unter dem Einfluß der Lehren von Marx, weiterhin der klassischen Nationalökonomie, deren Ideen Marx ja nur folgerichtig ausgeführt hat, hat man heute der Bewegung der wirtschaftlichen Zustände und der gesellschaftlichen Verhältnisse eine Bedeutung zuerkannt, von der man früher nichts wußte. Ich möchte sagen, daß man heute eine wissenschaftliche Betrachtung der Geschichte versucht, während man früher eine mythisch-dichterische Betrachtung hatte: man sucht die bewegenden Kräfte aufzuspüren. Aber wir müssen bedenken, daß uns die Wissenschaft viel leichter in Irrtümer verwickelt, als die frühere Art der Anschauung, der Mythos und die Dichtung. Mit jener Zersetzung ging etwa eine Entwicklung von Sklaverei zu Hörigkeit Hand in Hand. Der wissenschaftliche Betrachter verliert seinen Instinkt. Er ist geneigt, in solchen Bewegungen Zukunftskräfte zu sehen und kommt dadurch zu einem falschen Bild der Zustände, wie wir ja deutlich genug sehen; kommen noch demagogische Beweggründe dazu, indem man etwa aus dem heutigen Proletariat ein herrlich-sittliches Zukunftsvolk herauszubilden hofft, so wird der Blick der Menschen für die Vergangenheit immer mehr getrübt. Es ist ähnlich mit den Vorstellungen, die aus nationalistischem Wahn kommen, als ob die Blutauffrischung der alten Völker durch die Germanen eine Erneuerung gebracht hätte. Die Germanen im römischen Reich, also auch die Franken in Gallien, wurden in Wirklichkeit mit in den Strudel des Verderbens gerissen. Gegen den Untergang der Völker gibt es eben nur ein Mittel: daß die Guten herrschen und nicht die Feigen, Schlechten und Dummen.

Von den deutschen Völkern waren am meisten unberührt von dem römischen Verderben die Sachsen geblieben; erst durch Karl den Großen wurden sie in die untergehende Welt einbezogen; aber glücklicherweise hatten sie damals bereits genügende innere staatliche Festigkeit, vielleicht nützten ihnen auch die beständigen Slavenkriege, die sie nicht zur Ruhe kommen ließen. Die Sachsen lebten bäuerlich einfach in drei Ständen: den Adligen, den gewöhnlichen kleineren Bauern, und den Hörigen. Der Adlige war wirtschaftlich nur ein Großbauer, sein Vorrang ruhte im Sittlichen, das sich, wie das Sittliche im Staatlichen ja eine äußerliche Form haben muß, in der Abstammung äußerlich kundgab. Mit anderen Worten: die Sachsen hatten einen wirklichen Adel.

Die Tätigkeit des wirklichen Adels ist immer in der Hauptsache hausväterlich, in der Hauptsache ist er also bäuerlich. Nur, daß er mehr Zeit, mehr Freiheit äußerer und innerer Art hat für die beiden anderen bäuerlichen Betätigungen – die kriegerische Verteidigung des Landes und auch das Nehmen neuen Gebietes für die Siedlung, und die Verwaltung und Rechtsprechung.

In dem zusammengebrochenen Deutschland hatten wir im Beamten- und Offizierstand, so verdummt, verspießert und vermickert er auch war, doch noch den letzten Rest dieser Zustände: nur war die Trennung von der hausväterlich-bäuerlichen Tätigkeit schon eingetreten, es bestanden nur noch Familienzusammenhänge. Wohin der Staat kommt, wenn er das Demagogengesindel an die Stelle setzt, haben wir ja recht schnell erfahren.

Solcher bäuerlicher Adel gibt die beste Schule für einen wirklichen Staatsmann ab: der Wille wird gestählt im wirtschaftlichen Kampf mit einer kargen Natur und freiheitlich gesinnten Dienern; der Verstand durch die Bauernarbeit, die ehrenamtliche Verwaltung und Rechtsprechung; damit wird auch das nötige Wissen, nämlich Kenntnis der Menschen und Fähigkeit, sie zu behandeln, erworben; und in den jahrhundertealten Verhältnissen, deren Andenken sich lebend erhält, wird adelige Gesinnung erzeugt: auf Rechtschaffenheit ruhende Vornehmheit und edle, vernünftige Ruhmbegier. Die Ludolfinger muß man sich aus solchen Verhältnissen emporgewachsen denken. Durch Höherzüchtung von Jahrhunderten hatte sich hier ein edles Geschlecht bilden können, das seiner Aufgabe gewachsen war, als die Zeit es verlangte. Die Vorherrschaft des Geschlechtes unter den Sachsen muß auf dem großen Eigenbesitz geruht haben; wie denn kluge Völker sich nie werden von schwätzenden Habenichtsen leiten lassen, sondern als Befähigungsnachweis von ihren Herrschern verlangen, daß sie Eigenes haben und verständig verwalten. Als Heinrich der Vogler zum König gewählt wurde, da war die Lage des christlichen Westeuropas verzweifelt. Außer den heidnischen Reichen des Nordens war nur Sachsen in Ordnung. In Bayern und Schwaben kämpfte die weltliche Gewalt mit der geistlichen, das Lothringische Reich, unglücklich gebildet – noch heute erleben wir am deutschen Elsaß, das die Franzosenherrschaft der Freiheit vorzog, an schurkischen Landesverrätereien am Rhein die letzten Folgen dieser Bildung – schwankte unentschieden zwischen Frankreich und Deutschland. In Frankreich drängten und drückten die Normannen, in der Provence die Araber; in Italien machten die Araber Fortschritte, indessen die einheimischen Fürsten den Bürgerkrieg zum politischen System erhoben hatten; das Papsttum war tief gesunken, mit ihm die Kirche überall, außer in Sachsen und außer dem kleinen Punkt von Cluny; es war ebenso unsittlich wie die weltlichen Gewalten; und diese Völker alle mußten dann noch die beständigen Raubzüge der Ungarn erdulden, welche noch ganz in der Art des Dschinghis-Khan vor sich gingen.

Als Otto der Große starb, war Deutschland national geeinigt und war der Anfang zu der Begründung eines deutschen Nationalgefühls gemacht; gehörten Oberitalien zu Deutschland und verschiedene slavische Länder, die sich eindeutschten; und war der deutsche Kaiser als der sittliche oberste Herr Westeuropas anerkannt, der das Papsttum und die Kirche zum Besten der gesamten Christenheit leitete. In der Folge kamen noch Süditalien und Sizilien dazu, dehnte sich Deutschland im slavischen Osten weiter aus. Dann brach in der Mitte des dreizehnten Jahrhunderts dieses Gebäude zusammen. Wir müssen nicht Schuld und Fehler suchen wollen, wie die Menschen ja so leicht tun. Wer Geschichte verstehen will, der soll nicht schulmeistern und sich einbilden, daß er in seiner Studierstube es besser gemacht hatte als der König auf seinem Thron. Wir haben in jenen Jahrhunderten eine Reihe großer Männer gehabt, wie selten ein Volk hatte; diese Jahrhunderte stellen ein natürliches geschichtliches Geschehen dar, das selten so klar und ruhig ablief, selten so bedeutende und edle Männer zu Trägern hatte. Wir wollen die philisterhafte Wissenschaftlichkeit unserer Zeit vergessen, die nicht werten will und doch immer Spießermaßstäbe anlegt: wir wollen den urbildlichen geschichtlichen Verlauf zu verstehen suchen, uns in die großen und reichen Gestalten der Kaiser hinein leben, und stolz darauf sein, daß wir der Welt ihre Bilder schenken durften – als ein Versprechen für künftige Zeiten.

Wie von einem Dichter gedichtet erscheint uns die Reihe der Kaiser von Heinrich dem Ersten bis zu Friedrich dem Zweiten; die dichterische Aufgabe ist die Auseinandersetzung des Mannes vom weltlichen Schwert, des Mannes, der die Kirche, also die Organisation der Religion schuf, mit dem Führer, den er der Kirche gegeben hatte. Heinrich ist der verständig nüchterne Herzog von Sachsen. Er hat gesehen, daß Konrad an der Kirche zusammengebrochen ist, daß die anderen Herzöge die Hand auf die Kirche legen; er läßt sich nicht salben und erklärt lächelnd, er fühle sich zu unwürdig dazu. Otto ist gleich von Anfang an der deutsche König, er sieht die weitere Notwendigkeit, die Welt in Ordnung zu bringen, er fühlt die Verpflichtung, die ein jeder große Mann fühlt, daß er für alles in der Welt verantwortlich ist. Er begründet das Papsttum – scheinbar nur neu; in Wirklichkeit gibt er ihm zuerst seine eigentliche Bedeutung, wie er auch dem Kaisertum seine Bedeutung gab, denn bis dahin war es nur barbarische Fortführung der römischen Weltherrschaft gewesen. Seine Nachfolger leben schon nicht mehr innerlich als die Gesetzgeber und Herren des Papsttums, sie sind schon in den Bann ihrer eigenen Idee geraten, deren Gegenidee ihnen im Papst verkörpert gegenübertritt; sie steigern sich in Romantik bis zu dem Heiligen, der glaubt, das Reich Gottes auf Erden gründen zu können. Die fränkischen Kaiser spüren, daß dadurch die Wurzel ihrer eigenen Macht vernichtet wird, der Papst ihr Herr ist, und sie kommen in den Kampf mit den Päpsten. In diesem Kampf gelangen nun auf der Gegenseite zwei große Männer zur Herrschaft, welche die Idee des Papsttums rein verkörpern. Damit reinigt sich das Kaisertum von den ihm noch anhaftenden priesterlichen Ideen, es wird ganz weltlich, und zuletzt, in Friedrich dem Zweiten, ungläubig. Wer die Bedeutung, die menschliche und geschichtliche, der Kaiser dieser drei Jahrhunderte verstanden hat, der hat ein Geschichtsbild in seiner Seele, wie es größer nie ein Volk geschaffen hat. Es ist das deutsche Geschichtsbild.

Wie war der geschichtliche Vorgang?

Die sächsischen Kaiser konnten sich auf den sächsischen Adel verlassen, natürlich bevorzugten sie ihn im Reich. Dadurch entrissen sie ihn den Verhältnissen, in denen er seine Kraft gewonnen hatte, trieben ihn in die Höhe, verbrauchten aber auch seine Kraft. Sie zerstörten die alten Verhältnisse, indem sich eine Kluft zwischen Adel und Bauern auftat. Der Bauer war den Ansprüchen des Reichs nicht gewachsen; wie immer, geht er zurück mit der Ausdehnung des Gebiets; er kann seine Gemeinfreiheit und alte Gleichheit nur bewahren im kleinen Gebiet.

Die Herzöge von Sachsen waren die Herren ihrer Geistlichkeit gewesen, und die sächsische Geistlichkeit war gut. Sie hatten die Aufgabe, das deutsche Reich und die übrige Welt in Ordnung zu bringen, und sie konnten das nur, wenn sie die Geistlichkeit sittlich hoben. Eine Weile ging das. Aber notwendig muß die geistliche Macht, wenn sie wirklich das ist, was sie sein soll, Freiheit vom Staat erstreben, muß der Papst sich als den eigentlichen Herrn der Christenheit betrachten und den Kaiser nur als seinen Diener. Notwendig muß dadurch der Kampf zwischen Kaiser und Papst ausbrechen; der ist kein Zufall, er geht in die letzten Tiefen des gottgewollten Menschen hinein. An diesem Kampf ist das Kaisertum zerbrochen. Wir wissen, es tauchte der Gedanke auf, daß der Kaiser sich zum Papst machte; er mußte auftauchen. Weshalb er nicht durchzuführen war, können wir wissenschaftlich natürlich nie feststellen; aber es ist göttliche Fügung, daß der Plan scheiterte: wir wären in die Verdumpfung und Versklavung der Russen durch ihn verfallen. Nur, wenn die notwendigen Kämpfe wirklich ausgekämpft werden, werden die Menschen frei; sie sind um so freier, je mehr notwendige Kämpfe sie ehrlich auskämpfen; und jeder Versuch, solche Kämpfe zu verhüten, erzeugt sittliche Verderbnis.

Weshalb strebten die Kaiser nach Italien? Deutschland, vor allem Sachsen, war ganz naturalwirtschaftlich. In Italien war noch und schon Geldwirtschaft; ein Reich, wie es Heinrich begründet hatte, braucht aber Geld. Die Hohenstaufen mußten suchen, das Normannenreich zu bekommen, das damals geldwirtschaftlich das entwickeltste war. Aber jedes Mittel wirkt zurück auf den, der es gebraucht. Sizilien zog notwendig die Kraft des Kaisertums an sich. Gleichzeitig mußte die alte sächsische Tendenz selbständig werden, das war die Ausdehnung nach Osten und die Angliederung und Andeutschung der Slaven; sie mußte selbständig werden, denn der Kaiser hatte anderes zu tun. Die Tendenzen der Kaiser auf das Reich, der Sachsen auf den Osten mußten zu einem Riß führen, der durch Deutschland ging.

Der französische, der englische König mußten ihr Geldbedürfnis im Land decken. Dadurch entwickelten sich hier die Parlamente, in denen Adel, Geistlichkeit und Bürger zusammen berieten. In diesen Parlamenten schlossen sich damals aus den Ständen das Volk, aus den Territorien der Staat zusammen. In Frankreich und England bildete sich die Nationalität. Die deutschen Kaiser bekamen ihr Geld aus Italien, und das deutsche Volk schloß sich nicht zu einer Einheit zusammen, bildete keine Nation: es hatte nichts Gemeinsames als den Kaiser; aber der war nur zum geringeren Teil deutscher König, zum größten Teil war er Kaiser, eine übernationale Macht wie der Papst. Auch der Papst hat ja doch kein Nationalgefühl erzeugen können.

Es wäre zu denken: wenn nicht Otto der Große den Schritt nach Italien getan hätte, und auch seine Nachfolger wären in Deutschland geblieben, dann hätte das Papsttum nicht wieder aufgerichtet werden können; oder wenn es wieder aufgerichtet wurde, dann wäre der Kampf mit ihm anders ausgefallen, wie er in Frankreich und England ausfiel, jedenfalls hätten sich die deutschen Könige nicht an ihm verblutet. Deutschland hätte dann alle Kraft nach Osten gewendet, dann wären heute Böhmen, Polen deutsche Länder, die Ostseeländer wären deutsch, die nordgermanischen Länder, und deutschsprechende Menschen säßen bis tief in das heutige Rußland hinein, vielleicht wäre auch Neurußland deutsch.

Aber stand es Otto frei, den Schritt nicht zu tun? Die fränkischen Kaiser haben versucht, ein Königtum zu begründen, wie es später die französischen und englischen Könige begründeten, sie sind damit gescheitert. Vielleicht nur, weil Deutschland naturalwirtschaftlicher war als Frankreich und England und dadurch der Druck auf die Sachsen unerträglich wurde? Was ist Schicksal, was ist Charakter? Vielleicht auch deshalb, weil die Deutschen keine Einheit in westlicher Art wollten? Es wäre töricht, das als ihre Absicht aufzufassen. Aber wenn wir einmal die Geschichte statt kausal teleologisch betrachten, mit dem Bewußtsein, daß wir dann mythisch denken: dann kommen wir auf solche Erklärungen.

Nicht nur die Geschichte, sondern auch der Charakter Deutschlands; und nicht nur Deutschlands, sondern Europas wäre ganz anders, wenn die Dinge anders gekommen wären, hatten anders kommen können. Das europäische Mittelalter wäre ideenlos gewesen. So hatte es die beiden großen Ideen des Papsttums und des Kaisertums. Noch heute aber lebt die europäische Menschheit von diesen Ideen. Das deutsche Volk wäre heute das größte Volk der westlichen Erde; es ist möglich, daß es eine Anziehungskraft ausübte wie das chinesisch Volk, mit dem Abstand natürlich der jungen und geringeren Kultur. Aber man stelle sich das tüchtige, brave norddeutsche Volk vor; dazu das kräftige, verständige preußische Volk; so würde dann das deutsche Volk aussehen. Seine Weite, seine geistige Freiheit, seine Beweglichkeit hat es nur dadurch bekommen, daß es seine mittelalterliche Geschichte hatte.

Aber mehr noch. Die anderen Völker haben erreicht, was sie erreichen konnten. England hat heute ein Weltreich, wie es das römische war. Ist das ein Glück? Ein Volk, das erreicht hat, was es will, stirbt.

Schon heute ist England tot. Lloyd George ist kein Nachkömmling des herrschenden englischen Adels, er ist ein Walliser, die man früher in England verachtete, ein früherer Schmiedegeselle. Wer denkt dabei nicht an die Ähnlichkeit der römischen Kaiser? Das englische Reich ist heute nur noch ein Machtgebilde und hat mit der englischen Nation nur insofern zu tun, als es sie verbraucht.

Als das deutsche Reich drei Jahrhunderte nach seiner Bildung zusammenbrach, folgten andere drei Jahrhunderte, in denen das deutsche Volk seinen Charakter völlig verändert hat und eine neue, eigenartige Gestaltung seiner staatlichen Zustände suchte. Sie zeigen nicht mehr große Herrschernaturen, sie haben ein Bürgertum geschaffen, das einzig in seiner Art ist, das selbst heute noch, wo es von oben und unten und innen zerfressen ist, doch das Wertvollste von Menschenklasse im heutigen Europa vorstellt. In diesem Bürgertum aber schlummern auch die Möglichkeiten der Kaiserzeit; denn alles, was im Volk einmal war, lebt noch in ihm. Der Kaiserzeit, versteht sich, vom tüchtigen, nüchternen Begründer zum großen Schöpfer, dem begeisterten Heiligen, den tragischen Kämpfern, den heiteren Dichtern bis zum freiesten Ungläubigen. Alles schlummert im Deutschen von heute. So ist der heutige Deutsche vielleicht der reichste Mansch, den die Welt je gesehen hat – versteht sich, der Möglichkeit nach. Der Möglichkeit nach sind wir methodisch und leidenschaftlich, wissenschaftlich und tragisch, lenkbar und wild, friedlich und kriegerisch, dumm bis zur Unmöglichkeit und klüger als alle die Völker, die sich so viel klüger benehmen als wir; wir sind vor allen Dingen dem übrigen Europa unheimlich, und noch jetzt, in unserer Ohnmacht, gefesselt an Händen und Füßen, sind wir den Franzosen schrecklich. Jetzt, in unserer Schmach, werden wir noch einiges lernen, das unserer Vielseitigkeit noch fehlte, vor allem die heilige Unbedenklichkeit.

Wir werden schon wieder aufstehen; unsere Zeit war noch nicht, sie wird erst noch kommen.


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