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Glaube und Staatskunst

(1919)

Die Landbevölkerung betet noch heute, daß Gott möge die Saat gedeihen lassen und günstiges Wetter schicke für die Ernte. Wohl weiß jeder, daß Regen und Sonnenschein von natürlichen Ursachen abhängt; aber dieses Wissen hat keinen Einfluß auf das Gefühl, welches an eine göttliche Weltordnung glaubt, und an Liebe und Güte, die für die Wünschen sorgen.

Die städtische Bevölkerung ist in ihrem Erwerb auf Zusammenhänge angewiesen, welche ebenso entfernt und der Macht des Einzelnen unerreichbar sind wie Wind und Wetter. Die Preise werden auf dem Weltmarkt bestimmt durch Mächte, welche zum Teil unbekannt sind, und von den Preisen hängt es ab, ob der Unternehmer seinen Betrieb fortführen kann, der Arbeiter bei ihm Arbeit findet. Aber das Wissen um die mechanischen Zusammenhänge des Geschehens ist in der städtischen Bevölkerung so groß, daß ein Gefühl bei den meisten nicht mehr möglich ist, welches ihn und sein Wohlergehen unter einen unmittelbaren göttlichen Schutz stellt. Der Industriearbeiter betet nicht mehr um sein tägliches Brot, wie es der Landarbeiter tut; er hat die Vorstellung, daß er an jedem Sonnabend seinen Lohn bekommt, nachdem er die Woche hindurch gearbeitet hat.

Die Vorstellung des Landbewohners von der unmittelbaren Einwirkung Gottes auf den Erfolg seiner Arbeit braucht nicht in eine höhere und geistigere Auffassung der Religion einzumünden; und es ist nicht unmöglich, daß der Industriearbeiter eine solche höhere Religion bei sich herausbildet. Aber wenn wir im politischen und gesellschaftlichen Sinn von diesen Dingen sprechen, dann sprechen wir nicht von Ausnahmenaturen und von der höchsten Geistigkeit, sondern wir sprechen vom Durchschnitt der Menschen und ihrer mehr oder weniger selbstsüchtigen Befangenheit; und für den Durchschnitt gilt es, daß der Landbewohner sich enger mit dem Göttlichen – sei es auch das Göttliche, wie er es versteht – verknüpft fühlt, wie der Städter.

Alle Menschen, welche regiert haben, mochten es nun angestammte Herrscher sein oder Tyrannen, welche den Thron durch eigene Kraft errungen, gewählte Häupter demokratischer Republiken oder altehrwurdige aristokratische Herren: sie alle, wenn sie nur lange genug die Regierung führten, haben die Einsicht gewonnen, daß die Herrschaft nur möglich ist, wenn das Volk Religion hat; wir wissen aus schauerlichen Beispielen der Geschichte, wie revolutionäre Regierungen, die auf dem allgemeinen Umsturz aufgebaut sind, zuletzt sich zu dem Versuch genötigt sehen, eine künstliche Religion zu schaffen; wir sehen auch täglich, wie revolutionäre Bewegungen, solange sie noch nicht zur Herrschaft gelangt sind, die Religion als ihren gefährlichen Feind betrachten.

Die Tatsache der Verbindung von »Thron und Altar«, wie sie mit einem Schlagwort bezeichnet wird, hat also offenbar keine inhaltliche Bedeutung, sondern eine formale; mit anderen Worten: daß die Menschen ein göttliches Wesen über sich fühlen, das sie scheuen und von dem sie sich abhängig glauben, hat dieselben Wurzeln in ihrer Seele, wie daß sie ihre kleine Selbstsucht vergessen, sich zu einem größeren Verband zusammenschließen und unter Aufopferung vereint erreichen, was dem Einzelnen unerreichbar wäre.

Wenn nun der heutige Stadtbewohner durch seine Lebensgestaltung den religiösen Gefühlen weniger zugänglich ist wie der Landbewohner, so wird er offenbar in geringerem Maße fähig sein, einen Staat zu stützen: ganz einerlei, ob dieser Staat der heutige oder irgendein beliebiger Zukunftsstaat ist – so lange wenigstens die geistige Verfassung von Stadt und Land die gleiche bleiben – denn in anderen Zeiten, im Mittelalter etwa, war die höhere Religiosität gerade in den Städten. Aber es muß ja auch die Mächte geben, welche das Bestehende auflösen: diese auflösenden Mächte werden heute in der Stadt sein. Von der höchsten Höhe aus betrachtet, sind für die Entwicklung der Menschheit beide Mächte aber gleich wichtig: der Glaube und der Zweifel; beide sind in einer gesunden Gesellschaft auch gleich mächtig, denn durch ihren Kampf entsteht die Geschichte der Menschheit; in der Gegenwart hat sicher der Zweifel die größere Kraft; und die leichtere Beweglichkeit des Geistes, die er verursacht, triumphiert über das tiefere Lebensgefühl, welches Ergebnis und Ursache des Glaubens ist. Ein Zeichen dafür ist schon, daß die Vertreter des Glaubens sich im Verteidigungszustand befinden und der Fortschritt von den Vertretern des Zweifels ausgeht: daß das nicht notwendig so sein muß, sieht man leicht ein, wenn man etwa an die Zeiten denkt, wo ein Protagoras und ein Plato lebten.

Indessen sind für unsere politische Entwicklung die unbekannten und namenlosen Mächte ja viel wichtiger als der bewußte Wille der Staatsmänner. Wir sind offenbar heute im Beginn einer neuen Zeit, wir erleben den Zerfall einer alten. Die Welt bis zum Krieg war so wundervoll mechanisiert: wer die genügende Höhe der Beobachtung hatte, der konnte alle Fäden und Drähte sehen, an denen sie sich bewegte; und ein philosophierender Staatsmann hätte damals ein ähnliches Wort aussprechen können, wie man es Laplace zuschreibt: »Ich habe alle Zusammenhänge der Menschheit untersucht, aber ich habe keinen Ort gefunden, wo sich ein Wesen aufhalten könnte, das man Gott nennt.«

In diese im menschlichen Sinn so verständige und klare Ordnung kam plötzlich der Krieg, der im menschlichen Sinn gänzlich unvernünftig war. Vernünftige Leute hatten vorher gesagt, daß ein Krieg heute ganz unmöglich sei. Die Beziehungen der Völker waren so eng, die Verbindungen so notwendig, daß gar keine Unterbrechung stattfinden konnte; niemand konnte durch einen Krieg etwas gewinnen, jeder nur verlieren; alle Gründe früherer Kriege waren fortgefallen.

Dennoch kam der Krieg, und er kam so furchtbar, wie noch nie ein Krieg gewesen war. Er kam gänzlich unvernünftig im menschlichen Sinn; denn wenn er jetzt zu Ende ist, so wird sich doch jeder Staat in ganz Europa erschreckt fragen: »Was habe ich gewonnen?« Jeder hat verloren.

Es gibt nur eine Erklärung: daß die menschliche Vernünftigkeit nicht ausreicht, daß die Mechanisierung der Menschheit nur scheinbar ist und die Möglichkeit, alles zu berechnen, trügerisch; daß wir uns in Demut vor dem Gott beugen müssen, der Krieg und Frieden schickt, wie sich der einfache Landmann vor dem Gott beugt, von dem Sonnenschein und Regen kommt.


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