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Der Dichter in Gemeinschaft und Einsamkeit

(1932)

Jedes Leben bewegt sich zwischen gegensätzlichen Anforderungen. Das Leben des Dichters, welches das höchste menschliche Leben ist, muß einen Ausgleich zwischen den gegensätzlichsten Anforderungen finden. Man denke nur das eine: daß der Dichter sich völlig an die Wirklichkeit verlieren muß, denn sonst erfährt er sie nicht tief genug, um sie darstellen zu können, und andererseits sie doch immer nur als bloßes Gleichnis verstehen darf, bei welchem Verständnis er denn so hoch über der Wirklichkeit steht, daß er sich unmöglich in ihr verlieren kann.

So ist in ihm auch das Verhältnis von Gemeinschaft und Einsamkeit.

Nachdem wir etwa drei Jahrhunderte lang ein Weltgefühl hatten, in welchem der Einzelmensch das Wesentliche war, beginnt jetzt ein Zeitalter, in welchem das Gemeinschaftliche wieder stark empfunden wird, bis zu einem solchen Grade, daß das Leben des Einzelnen oft nur als ein Teil des gesellschaftlichen Geschehens aufgefaßt wird. Nachdem man zunächst damit begonnen hat, in der materialistischen Geschichtsauffassung als das erste Bewegende des gesellschaftlichen Lebens die äußeren Umstände anzunehmen, wird man schließlich einsehen, daß das erste Bewegende in bestimmten Persönlichkeiten liegt, die man die schöpferischen Persönlichkeiten nennt, Menschen, in denen durch einen geheimnisvollen Vorgang zuerst der dunkle Weg der Entwicklung zum Bewußtsein kommt; das sind vor allem die Dichter. Die Dichter sind stets die Verkünder der neuen Zeiten gewesen.

Dieser Umstand ist heute schwer zu erkennen, weil heute so sehr viel geschrieben und gedruckt wird, was in früheren Zeiten in den unteren Schichten sich bewegte. Diese Masse hat im allgemeinen Bewußtsein die Dichtung überwuchert. Ob die Dichtung in früheren Zeiten, vor dieser Überwucherung schneller wirkte, mag zweifelhaft sein; schon nach hundert Jahren, wenn das Gestrüpp verschwunden ist, wird man in diesem Punkt klarer sehen. Die überwuchernde Masse ist Darstellung des Bestehenden, nicht Verkündigung des Künftigen, das heißt, in einer Zeit der Zerstörung und unbewußten Neubildung, Darstellung der Zersetzung, die sich für Neubildung ausgibt.

Die schöpferische Persönlichkeit verkündigt die Zukunft und hilft sie dadurch mit heraufführen. Sie kann also mit demselben Recht oder Unrecht, wie man sie als »schöpferisch« bezeichnet, auch als »Führerpersönlichkeit« bezeichnet werden – in Wirklichkeit ist sie nur Werkzeug eines Höheren. Zum Bewußtsein kommt ihr das als Verantwortlichkeit für die Gemeinschaft des Volkes, für die Menschheit, und für beider Zukunft.

Jeder Führer ist einsam. Man denke, um sich das bildmäßig klar zu machen, an Heer und Feldherrn. Der einzelne Krieger denkt an sich und seine Aufgabe, die er mit Leidenschaft erfaßt, in die er vielleicht noch die Aufgabe des nächsten Mitkämpfers einbezieht; der Feldherr denkt an das Ganze, und er muß, damit er das überhaupt kann, von dem Einzelnen entfernt stehen. Wenn er jede mutige oder feige Tat, jedes Schicksal, jeden Kämpfer in sein Gefühl aufnehmen wollte, so könnte er ja seine Aufgabe gar nicht erfüllen; ihm wird alles zu einem Gesamtgeschehen. Im Heerwesen sind diese Beziehungen durch die Disziplin geordnet, weil das Heer ein Körper ist. In der Gesellschaft, die kein Körper ist, sondern etwas anderes, gibt es keine ordnende Macht für diese Beziehungen, muß der Führer sich durch sein Wirken durchsetzen und stößt deshalb auf Widerstand und Feindseligkeit; das bewirkt, daß er noch mehr in die Einsamkeit gedrängt wird als etwa der Heerführer.

Um das größte Beispiel zu nehmen: die Griechen wußten, daß Homer ihre Götter geschaffen hatte. Sie wußten vielleicht nicht so deutlich, daß sie selber auch die Geschöpfe Homers waren. Zu der Zeit, als Homer dichtete, waren sie also nicht die, welche sie nach und durch Homer waren – selbstverständlich mußte Homer als ein blinder Bettler leben: Die Einsamkeit, ja, die Feindschaft der Menschen war die Voraussetzung für seine schöpferische Tätigkeit.


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