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Ein Brief

(1926)

Sehr geehrter Herr, Sie wollen ein Stück aus meinen Erinnerungen, um es Ihren Lesern an meinem sechzigsten Geburtstag zu drucken. Ich habe früher immer den Wunsch gehabt, einmal aus meinem Leben zu erzählen, das sehr reich gewesen ist und sehr glücklich, denn ich durfte es fast immer so führen, daß ich von der Außenwelt und ihren Zufällen unabhängig war. Aber nun Ihr Brief mich zwingt, einmal eine sorgfältigere Rückschau zu halten und das Erzählenswerte von dem übrigen zu sondern, da geschieht mir etwas Merkwürdiges: Was ich erlebte, das scheint immer weiter vor mir zurückzufliehen, so, daß ich es ganz anders sehe, als ich es früher sah. Die Einzelheiten verschwinden, nur die großen Linien sind geblieben. Und das geschieht nicht etwa dadurch, daß ich ungenauer sehe; wenn ich will, kann ich heute schärfer sehen, als früher; sondern dadurch, daß mir das eigne Erleben fremd geworden ist. Selbst dem, was mir vor einem Jahre geschehen, stehe ich heute so gegenüber, als sei nicht ich es, dem es geschehen, sondern ein fremder Mansch, den ich beobachte. Wenn ich aus meinem Arbeitszimmer durch das Fenster schaue, dann überblicke ich ein weites Tal, in dessen Hintergrund zwei schön geformte Berge sich erheben, bis oben bewaldet. Hinter diesen zieht sich eine Alpenkette. Es ist Winter, der Schnee liegt und hat alles ausgeebnet. Eine Reihe entlaubter Erlen und Weiden zieht sich an einem Flüßchen entlang. Die hintere Bergreihe verschwindet im Dunst. Die beiden vordern Berge erheben sich zum weißlichen und hellblauen Himmel, in halber Höhe schwimmt vor ihnen eine schmale Wolke, durch welche sie hindurchragen. Ich weiß: in dieser Ebene wird Mais und Weizen gebaut, die Wälder auf jenen Bergen gehören verschiednen Eigentümern und werden von ihnen bewirtschaftet. Ein altes Städtchen schmiegt sich an den Fuß des einen Berges, der Kirchturm erhebt sich an seinem Rand und steht schlank gegen den hellen Himmel. Das sehe ich und weiß es. Aber ich sehe etwas Unwirkliches, ich denke nicht an Saat und Ernte, an die Wälder und an die Handwerker und Beamten in dem Städtchen; ich sehe ein Bild, das noch von keinem Maler gemalt ist, von keinem Maler gemalt werden kann. Und vor diesem Bild stehe ich selber staunend und glücklich – nicht ein wirklicher Mensch, sondern nur ein Zubehör des Bildes, das ja in meinem Hirn gestaltet und aus meinen Augen in das, was wir die Außenwelt nennen, gesetzt werden muß.

Ich bin in einem kleinen Städtchen im Oberharz aufgewachsen, das auf einer Hochebene in seinen Wiesen liegt, umgeben von weiten und stillen Wäldern. An breiten und saubern Straßen reihten sich einstöckige Häuser, meistens aus dem ersten Viertel des neunzehnten Jahrhunderts stammend, sehr einfach und schlicht, aber in guten Verhältnissen und in einem Farbenton, der in die Landschaft gehörte. Wenn ich mir heute die Bilder zurückrufe, dann habe ich nicht den Wunsch, einzelnes herauszugreifen, um es besonders zu betrachten; ich spüre, daß es alles zusammen gehörte: die stillen Straßen, die schwere und ruhige Natur, die ehrbaren Menschen, die ihr rechtschaffnes Leben führten. In der Umgebung des Städtchens lagen die Gruben, welche den Männern Arbeit gaben. Wenn Schichtwechsel war, dann gingen in den Straßen die Bergleute, schweigsam, in ihrer alten Tracht: mit Schachthut und Hinterleder, im schwarzen Kittel und das Grubenlicht in der Hand. Meine eignen Eltern, Großvater und Großmutter, ich selber, wir alle gehörten in dieses Bild, auch der Gang zur Schule, das mühsame Erlernen der alten Sprachen, der Schulschluß und das Herausströmen der Knaben, und das Glück des Lesens. Ich bekam damals Lessing und Lichtenberg, Hölderlin und Schiller: da öffneten sich weite Welten hinter den dunklen Wäldern, welche weit uns umgaben: Laokoon gab es da und London, Kupferstiche und den griechischen Archipel, wie ihn Hölderlin sich träumte, Wallenstein und Don Carlos.

Meine Heimat lag ab vom Weltverkehr. Erst als ich Tertianer war, bekamen wir eine Eisenbahnlinie. Als der erste Zug anlangte, da standen wir Knaben auf dem Bahnsteig mit den andern Leuten aus dem Städtchen; die meisten von uns hatten noch keinen Eisenbahnzug gesehen. Vorher waren wir so abgeschnitten gewesen, daß im Winter, wenn tiefer Schnee lag, oft eine halbe Woche lang keine Postverbindung gewesen war. Damals wurde das Getreide, das in der Woche auf der Windmühle vermählen wurde, jeden Donnerstag durch Maultiere gebracht, die jedes seinen Sack auf dem Rücken trugen, und andere notwendige Waren von draußen, welche etwa die Kaufleute bestellten, kamen auf großen Frachtwagen mit gewölbter Plane über Reifen, unten die Schoßkelle, in welcher der wachsame Hund lag, und vorn die schweren Pferde mit geflochtnen Mähnen, die Kummete mit blanken Messingzieraten und klingelnden Schellen. So waren denn die Zustände unseres Städtchens auch noch wie in früheren Zeiten: es gab keinen Reichtum und gab keine hoffnungslose Armut; in überkommenen Anschauungen und Begriffen ging das Leben ruhig hin; alle Leute fühlten sich bekannt und befreundet; von Vergehen oder gar von Verbrechen hörte man nichts; die Eltern erzogen die Kinder, wie sie es für richtig hielten, und die Kinder wußten, daß man den Eltern gehorchen muß. Mein Vater erzählte, daß in seiner Jugend einmal ein Bergmann im Wirtshaus den Stock eines Fremden mitgenommen hatte, der ihm gefallen; er wurde ertappt und schwer bestraft; die andern Bergleute weigerten sich, wieder mit ihm zusammen zu arbeiten, und so mußte er denn sein und seiner Familie Leben als verachteter Gelegenheitsarbeiter fristen. Vor einem Menschenalter war ein Wilderer gewesen, der in der Verteidigung einen Förster erschossen hatte. Er wurde vor dem Walde hingerichtet, und ältere Leute zeigten noch die Stelle, wo das Blutgerüst gestanden hatte.

Meine Eltern bestimmten mich zum Theologen. So kam ich nach Berlin auf die Universität.

Damals war Berlin noch viel kleiner als heute, es lebte in Straßen, an welche man heute kaum noch denkt. Aber der Gegensatz zu meiner Heimat war doch so groß, daß ich lange wie krank gewesen bin. Die großen und hohen Häuser, in denen viele Familien und Einzelmenschen wohnten, die voneinander nichts wußten, die langen Straßen, das Geräusch der Wagen und Pferdebahnen, das Gedräng der Menschen, die Hast und Unruhe des Lebens, die jede Besinnung unmöglich machten, das fiel mir alles schwer auf das Herz, und ich konnte mich in die neuen Zustände nicht finden. Ein alter Mann in meiner Heimat, unser Schuldiener, hatte einen Sohn in Hannover, zu dem er gezogen war, um nicht ganz allein zu leben. Nach einigen Wochen kam er wieder zurück und nahm sich ein Stäbchen, um seine letzten Jahre in der Heimat zu leben. Ich begegnete ihm auf der Straße und fragte ihn. Er antwortete: »Da sitzt man am Fenster und sieht auf die Straße. Die Menschen gehen vorüber, keinen kennt man, keinen kennt man.« Dabei rollten dem alten Mann die Tränen in den weißen Bart. So, wie es dem zumute war, ging es auch mir. Ich könnte das Gefühl nicht beschreiben, ich kann nur die kleine Geschichte von dem alten Mann erzählen.

Mir wurde das fürchterliche Leben der heutigen Menschheit damals klar, ich fühlte damals, daß die Menschen ja so nicht leben können, wie ich sie leben sah. Aber wie das anders werden konnte, das wußte ich nicht. Es war in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Die Sozialdemokratie war unterdrückt, sie lebte geheimnisvoll in den unteren Schichten des Volks als eine Hoffnung eines möglichen besseren Daseins. Ich wurde mit ihren Lehren bekannt, verließ die Theologie und wurde Redner in sozialdemokratischen Versammlungen und Schriftsteller für sozialdemokratische Zeitungen.

Seitdem habe ich nun einen weiten Weg gemacht: die Sozialdemokratie selber wurde mir klar als Auflösungsergebnis einer untergehenden Gesellschaft. Ich suchte mich in wissenschaftliche Arbeit zu retten; es begann damals bei uns die neue Wissenschaft der Soziologie einige Geister zu locken, ich wurde mit Gleichstrebenden bekannt und befreundet, die seitdem sich als die Führer dieser neuen Wissenschaft zeigten. Aber früh wurde mir klar, daß auch hier kein Weg war, und daß diese Wissenschaft die Versprechungen nicht halten konnte, die sie uns jungen Leuten damals machte. So wendete ich mich der Dichtung zu, für welche ich von der Natur bestimmt war, von der mich nur die heillosen Zustände einer zerstörten Gesellschaft ferngehalten hatten. Ich bin nun gewandert und habe an verschiedenen Orten gelebt und manche Länder kennengelernt. Lange mußte ich noch suchen in der allgemeinen Zerstörung; ich wunderte mich immer – noch heute wundere ich mich – daß die Menschen nicht sehen, in welch fürchterlicher Welt sie leben; und so bin ich fast vierzig Jahre alt geworden, bis ich mir selber die Möglichkeit geschaffen hatte, in der Dichtung das zu sagen, was mich bewegte. Es war den Menschen zuerst fremdartig. Aber dann kam das große Unglück des Weltkrieges, das doch viele wach gemacht hat, und seitdem spüre ich, daß immer mehr Menschen verstehen, was ich fühle und gestalte. Selbst auf der Bühne, wo Neues am schwersten durchdringt, bekamen meine Dichtungen nun Zungen, mit denen sie zu den Menschen reden, und ich habe nun als Sechzigjähriger die glückliche Aussicht, daß das, was ich gefühlt und gedacht, noch lange Zeit Menschen bewegen und vielleicht auch formen wird.


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