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Die deutsche Kunst des Mittelalters

(1923)

Es ist die Wahrscheinlichkeit, daß der deutsche Geist für lange Zeit, vielleicht für Jahrhunderte, aus der Menschheit verschwindet. Er hat seit etwa 1830 keine überragenden Leistungen aufzuweisen, dennoch wird sich sein Fehlen in der Welt sehr bemerklich machen, und der allgemeine Zusammenbruch der Welt, von dem wir nur erst den Anfang erlebt haben, muß mit diesem Fehlen unmittelbar zusammenhängen.

Das Unglück Deutschlands – wenn man das bewertende Wort anwenden will – kommt nicht von dem verlorenen Krieg. Daß der Krieg verloren ging, ist vielmehr selbst nur eine Folge; die letzte Ursache war das Erlöschen des selbständigen geistigen Lebens in Deutschland, das die übermäßige Entwicklung von Industrie und Technik und die Vermehrung der Bevölkerung um wertlose Bestandteile verursachte als Ergebnis der immer noch vorhandenen Volkskraft, Ein Volk aber, das die geographische Lage der Deutschen hat, kann die Ruhezeiten seines Geistes nicht in unbeachteter Stille verleben, sondern es muß bei den Nachbarn sofort das Streben auf seine Vernichtung erzeugen, wenn es nicht seine sämtlichen geistigen Kräfte angespannt hält. Man versteht das, wenn man die Geschichte Deutschlands genauer betrachtet. Und da das Glück und Unglück Deutschlands durch seine geographische Lage und die geistige Bedeutung des Volkes zugleich das Geschick des übrigen Europas auf das stärkste beeinflußt, so hat dieses gewiß eine Veranlassung dazu, den Mechanismus der deutschen Geschichte zu verstehen.

Das deutsche Volk hat einmal Europa beherrscht, in der Kaiserzeit, die man von 950 bis 1250 ansetzen kann, denn Karl der Große mit seiner Dynastie war eine französische Erscheinung, und sein Wirken ist nur eine Episode gewesen. Die Zeit liegt weit zurück. Die Überlieferung ist sehr schlecht, denn die Zeit war nicht schriftstellerisch gerichtet. So kommt es, daß selbst die Deutschen kein zutreffendes Bild von ihr haben, geschweige denn die anderen Völker. Will man sie verstehen, so muß man alle heutigen politischen Vorstellungen und Anschauungen vergessen.

Diese Zeit hat auch eine bedeutende deutsche Kultur erzeugt, wie denn immer politische und kulturelle Taten in Wechselwirkung stehen. Auch sie ist nicht genügend bekannt: sie ist gleichfalls uns Heutigen ganz fremdartig, und der weitaus größte Teil ihrer Denkmäler ist zerstört. Die heutige Menschheit bereitet sich vielleicht darauf vor, die großen Kulturgebiete einander näherzubringen, so daß für uns Europäer die Mittelmeerkultur nicht mehr die einzige ist. Vielleicht durch das Verständnis der großen Leistungen außereuropäischer Völker ist in den allerletzten Jahrzehnten und letzten Jahren auch das Verständnis für die geistigen Leistungen des deutschen Volkes dieser früheren Zeiten gestiegen; heute ist es bei uns so, daß fast Woche für Woche neue Erkenntnisse auf diesem Gebiet gewonnen werden.

Wenn ein Volk im Unglück ist, so sucht es ja gewöhnlich sentimentalen Trost zu finden in seiner Vergangenheit, wo es ihm einmal besser ging. Ich hoffe, daß man unser Bemühen nicht so auffassen wird. Die Guten unter uns – und nur auf die Guten kommt es an, nicht auf die Masse, mögen sie an Zahl geringer sein selbst als die Finger der beiden Hände – brauchen keinen Trost, weil sie die Notwendigkeit, ja, den Vorteil des Unglücks eingesehen haben. Sie wollen das Unglück benutzen, um das Volk zu erneuern.

Die Künste des deutschen Mittelalters sind Baukunst, Bildhauerei und Malerei. Von der Dichtung ist nicht viel zu sagen, man hat sie wohl sehr überschätzt. Am klarsten steht man wohl heute in der Plastik. Die Deutschen sind einmal ein Volk von Künstlern gewesen. Im vierzehnten Jahrhundert lebten in jedem Städtchen von tausend Einwohnern mehrere Bildhauer, die immer lohnend beschäftigt waren, und als Enea Silvio, der spätere Papst, der ein Italiener war und inmitten des italienischen Kunstreichtums aufgewachsen war, Deutschland durchreiste, da fand er einen solchen Schatz von Kunstwerken, daß es ihm schwer möglich schien, seinen Landsleuten davon einen Begriff zu geben. Aus den paar Trümmern, die erhalten sind, kann man sich heute ungefähr ein Bild machen.

Durch die Renaissance hatte die europäische Menschheit das klassizistische Ideal bekommen: die Nachahmung des mißverstandenen Altertums, noch dazu des späteren Altertums. In mühsamer Arbeit ging man zurück, entdeckte das wirkliche, das griechische Altertum und fand, daß auch diese als klassisch bezeichnete Zeit nicht berechtigt war, unbedingte Gesetze für die Spätergeborenen aufzustellen, ja man fühlte sich gestimmt, Werke der vorklassischen Kunst, die man ausgegraben, echten Werken der klassischen Zeit, die man nun gleichfalls fand, vorzuziehen. Man kam vom Absolutismus der Kunstbetrachtung auf den Relativitätsgrundsatz: jede Kunstzeit hat ihren eigenen Willen und ihr eigenes Ziel; diese muß man erkennen, bevor man urteilt. Die Gefahr einer bloßen Geschichtlichkeit lag nahe und wurde auch nicht überwunden: daß man überhaupt nicht mehr wertete. Aber jedenfalls waren nun die Scheuklappen gefallen, welche bis dahin verhindert hatten, daß die Menschen die ganze Kunstwelt sahen.

Man darf die deutsche Bildnerei als das Gegenstück gegen die griechische Bildnerei nehmen. Als die Griechen über Kunst zu denken begannen, erklärten sie die Kunst für Nachahmung der Natur. Das war eine späte Zeit, und sie haben damals ihre frühere Zeit mißverstanden – das Mißverständnis ist durch die Jahrtausende gegangen und lebt noch heute, gebärdet sich womöglich als revolutionäre Innigkeit – aber etwas davon haben sie von Anfang an gehabt; man verzeihe den schlechten Ausdruck, bestimmter kann man nicht sprechen. Die Griechen lebten natürlich ganz anders in der Natur, wie ein nordisches Volk je kann, sie standen deshalb von Anfang an, schon ganz kindlich, unter ihrem Eindruck; dann suchten sie sie zu verstehen, dann suchten sie aus ihr heraus ihr Bild des Göttlichen zu schaffen, das Beweggrund und Ziel jeder Kunst ist. Dabei kam denn eine Konvention heraus, die notwendig eng sein mußte, die notwendig auch die Natur zerstören mußte. So könnte ich mir vorstellen, daß eine Zeit käme, die den Hermes des Praxiteles als unwahr empfände, wie wir heute schon längst den Laokoon als unwahr empfinden. Ein nordisches Volk – man denke immer an die Bildnerei, welche den menschlichen Körper als Gegenstand hat – sah immer nur Gesicht und Hände, der übrige Körper war durch entstellende Trachten unkenntlich gemacht, Trachten, welche nicht einmal ein Eigenleben hatten, wie die weiten und weichstoffigen Gewänder der Griechen, sondern aus harten Stoffen waren, aus Leder und dicker Wolle, und eng anlagen. Die nordische Bildnerei konnte nicht von der Natur ausgehen und die Natur nicht vergöttlichen wollen, sie mußte einen anderen Ausgang und ein anderes Ziel haben.

Die Ziele der Kunst werden durch das Weltgefühl gesetzt. Das Weltgefühl der Deutschen war durch das mit großer Innigkeit aufgenommene Christentum bestimmt. Aber was war das Ziel der damaligen Deutschen? Ich denke, man muß es als eine staatlich-patriarchalische Ordnung der Welt bezeichnen, deren Absicht die Heiligkeit, das heißt möglichste Loslösung von den irdischen Bedürfnissen, einer kleinen Zahl war und die Leitung des Volkes durch diese Heiligen, welche für ihre Zwecke die Ordnung der Kirche hatten. Es war die Beherrschung des täglichen Lebens durch einen gewissermaßen staatlich geschlossenen Kreis von Männern, welche innerlich über ihm standen; man denke etwa an den platonischen Staat; man denke, daß der Kaiser eine religiöse Gestalt war, wie er ja überhaupt kaum eine tatsächliche Macht besaß und diese durch politische Geschicklichkeit ersetzten mußte. Wir können uns heute, wo wir seit Jahrhunderten durch wirtschaftliche Mächte bestimmt werden, den Zustand schwer vorstellen.

Herrschaft und Heiligkeit mußte die Kunst ausdrücken wollen. Wie konnte sie das?

Aus Byzanz kamen handwerksmäßige Elfenbeinschnitzereien, in denen sich das greisenhafte Weltgefühl der byzantinischen Gesellschaft in den angepaßten Formen des hellenistischen Altertums ausdrückte. Die Figuren, welche man da sah, gaben die Form ab, in welche nun der neue Inhalt gegossen wurde. Nach einigen Geschlechtern entstand dann eine Gestalt wie der Johannes unter dem Kreuz aus Brunneck, der jetzt im Schnütgenmuseum zu Köln ist, von etwa 1170. Er erinnert an ostasiatische Werke, die unter frühbuddhistischem Einfluß gebildet sind: ein ähnliches Lebensgefühl hat hier einen ähnlichen Kunststil erzeugt. Der Ausgangspunkt ist dieses Lebensgefühl gewesen, das sich in die byzantinische Konvention ergoß: der Bildner wollte einen Johannes bilden, wie ihn ein Byzantiner gebildet hätte, aber es war ihm schon klar, daß der Byzantiner ja diesen Johannes überhaupt nicht bilden konnte. Um seiner Aufgabe gerecht zu werden, mußte er die Natur ansehen; nicht sie studieren, sondern nur sie ansehen mit den für seinen Zweck scharfen Augen des noch wenig verbildeten Menschen. Das einzelne des Neuen ist hier nicht zu beschreiben: das Gesamtergebnis ist, daß an die Stelle des mürrischen Ausdrucks im kränklichen Gesicht und der stockähnlichen Haltung der Gestalt eine Innigkeit getreten ist, welche das gesunde Gesicht verschönt und der ganzen Gestalt den Ausdruck gibt, mag sie auch immerhin noch nicht fest auf ihren Beinen stehen: es ist plötzlich ein künstlerisches Erleben da, und an die Stelle des Handwerks ist wieder Kunst getreten.

Es folgen eine Anzahl Werke, welche bereits fast oder ganz frei vom byzantinischen Urbild sind. Ich möchte aus ihnen einen Christus am Kreuz aus Bronze im Dom zu Minden hervorheben, der um 1200 angesetzt wird.

Man denke an den herrlichen Thron der Aphrodite, welcher im Thermenmuseum zu Rom aufbewahrt wird. Es drückt sich in ihm das große, heiter unbarmherzige Religionsgefühl eines Volkes aus, dessen Gottheit noch ganz naturgebunden ist. Dieses Gefühl wird restlos dargestellt, vielleicht im letzten Augenblick seines geschichtlichen Daseins; und vielleicht kommt unser Mißbehagen vor den Werken der klassischen Zeit Griechenlands daher, daß die Künstler bereits ein anderes, höheres Religonsgefühl hatten, das nach Ausdruck strebt und doch nur die alte Form vorfindet, welche dem früheren Gefühl angemessen war, wo denn ein Ausweg gefunden wurde in einer Vergewaltigung des Körpers nach Übersteigerung der Natur hin und einer dazu nicht passenden Durchseelung des Gesichts.

Diesem Thron der Aphrodite entspricht der Christus am Kreuz in Minden. Wie im altsächsischen Heilandsgedicht ist Christus als der Herr aufgefaßt. Gegen alle physikalische Möglichkeit hängt er mit geraden Armen und geradem Körper am Kreuz: er hat seinen Körper in Zucht durch feste Sehnen und Knochen. Der schwermütig verachtungsvoll gepreßte Mund, welcher überwundenen Schmerz ausdrückt, die scharfe Linie von den Nasenflügeln abwärts, die großen, hart begrenzten Flächen von Wangen und Schläfen, das geschlossene Auge in seiner wundervoll vornehmen Höhle, stellen einen Zustand dar, welcher zwischen den Worten liegt: »Herr, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun« und: »Es ist vollbracht«.

Ich habe die Vorstellung, daß das Christentum ursprünglich ein Mysteriendienst einer Herrenklasse in Griechenland war und nur durch wunderliche Verkettungen und Mißverständnisse eine Religion für die untersten Schichten und dann eine allgemeine und Volksreligion wurde. In seinen Aktenstücken sind Spuren aller Wandlungen geblieben, die es durchgemacht hat von einem Adelsglauben zu Pöbelbegehrlichkeit, von bürgerlicher Bravheit zu bürgerlicher Empfindsamkeit und unruhiger Unsicherheit. Jede Zeit nimmt aus dem Christentum, was ihr angemessen ist: die Zeit der deutschen Kaiser hat als einzige aus ihnen den herrschaftlichen Glauben genommen, daß Herrschen stolze Heiligkeit und freiwilliges Leiden ist.

Die Bedeutung eines Kunstwerks wird bestimmt durch seinen Gefühlsgehalt, der mit den ihm angemessenen Mitteln dargestellt sein muß. Dieses adlige Gefühl ist gewiß das Höchste, was bis heute in der Menschheit gewesen ist: Kunstwerke, welche es ausdrücken, müssen also wohl die höchsten Kunstwerke sein. Nur eine ganz kurze Zeit, man möchte sagen, Minuten, war die Kaiserzeit Wirklichkeit. Auf die höchste Höhe der Idee können auch nicht alle großen Werke der Zeit führen, denn eine solche Idee braucht auch Träger, welche in der Wirklichkeit ihren Unterbau stützen: vornehme Diener, edle und reine Frauen, die einzelnen Tugenden, welche sich in diesem und jenem Menschen vereinzelt verkörpern. Es gehören in den Kreis die berühmten Figuren in Naumburg und Bamberg und der durch bekümmerte Bürger aus der mutwilligen Zerstörung durch die Franzosen gerettete kleine Rest der Straßburger Figuren dieser Zeit.

Ich möchte an den Schluß der Zeit die Verkündigung aus der Regensburger Gegend setzen, die man kürzlich durch einen Zufall auffand und in das Münchner Nationalmuseum brachte. In ihr ist noch die alte Formgebung der vornehmen Zeit, aber bereits das seelische Gefühl der bürgerlichen Zeit, welche folgt; hier ist kein störender Widerspruch, denn die Innigkeit ist nicht bürgerlich, sondern allgemein menschlich: die Jungfrau, welche den Sohn Gottes in sich aufnimmt. Die ungebrochen vornehme Zeit hatte das nie dargestellt – vielleicht handwerksmäßig, wenn es etwa aus äußeren Gründen notwendig war; es löst hier die Mystik, die persönlich innerliche Religion schon die herrschaftliche, formgebende, kirchliche Religion ab. Aber indem die zwei Welten sich in diesem einen Vorgang der Verkündigung treffen können, ohne sich gegenseitig zu kränken, ist wieder ein Werk entstanden, das zu den ganz großen Werken der Menschheit gerechnet werden muß. Einige der Figuren in Naumburg haben Verwandtschaft mit der antiken Formgebung und lenkten aus diesem Grunde zuerst die Aufmerksamkeit auf sich. Man konnte sich damals nicht erklären, woher plötzlich in der Wüste, wie man dachte, eine solche Blüte komme und suchte überall nach Zusammenhängen. Endlich fand man stilistische Übereinstimmungen mit Figuren in Reims; man erinnerte sich an die Wanderungen der damaligen Steinmetzen; man fand noch mehr Beziehungen, und es wurde eine Abhängigkeit der deutschen Bildner von den nordfranzösischen festgestellt. Die nordfranzösische Bildnerei ist noch sehr wenig untersucht. Dennoch kann man wohl heute schon sagen, daß hier nicht ein einziges Werk von der Bedeutung der deutschen Figuren vorhanden ist. Es haben deutsche Steinmetzen in Nordfrankreich auf der Wanderschaft gearbeitet und sehr viel gelernt. Aber was sie lernten, das war nicht mehr, als was die Franzosen den in ihrem Lande erhaltenen Resten aus der spätrömischen Zeit abgesehen hatten und nun mit Geschicklichkeit und Eleganz anwendeten: die Franzosen sind immer Klassizisten und Rhetoriker. Man soll auch den Wert der Beeinflussung nicht überschätzen. Wenn eine Kunst einmal auf der richtigen Bahn ist, dann findet sie schon von selbst weiter, und weil das Wahre überall das Gleiche ist, kommt sie dann notwendig von selber auf dieselben Formen, die frühere Zeiten auch gefunden hatten. Man muß sich klar machen: es gibt für jeden Gefühlsgehalt die absolute Form, die Idee. Alle Kunst ist nichts als Hinstreben danach, diese Idee in der Wirklichkeit zu gestalten. Es ist eine unendliche Annäherung möglich, nie die Erfüllung; der Punkt der größten Höhe ist die Klassizität, die also nichts Absolutes ist. So ist auch jeder Glaube nur eine Annäherung an Gott und nicht die Vereinigung mit ihm, wie die bürgerliche Unbescheidenheit der Mystik annimmt. Wenn der Gefühlsgehalt sich etwa in einer stehenden Gewandfigur ausdrückt, so muß jede Kunst, die richtig angefangen hat, zu Ähnlichkeit mit etwa den Parthenonjungfrauen kommen, deren mittelmäßige Ableitung spätrömische Kunstwerke sind.

Es ist schon angedeutet, daß ein neuer Stil der deutschen Bildnerei kommt, der mit einer tiefen Wandlung des politischen deutschen Wesens zusammenhängt, von der kaiserlichen zur bürgerlichen Zeit. 1250 ist das Kaisertum äußerlich zu Ende. Es hat ja innerlich eigentlich wohl schon früher aufgehört, nur muß doch durch einen äußeren Anlaß ein Jahr gesetzt werden. Aber das Gefühl läßt sich nicht so begrenzen. Schon vorher zeigt sich bürgerliches Gefühl, und noch nach 1300, wenn schon immer leerer werdend, zeigt sich noch Formgebung der alten Art.

Wir suchen ja immer Ursachenreihen und glauben, etwas zu erklären, wenn wir sie gefunden haben. Wir sollten mehr beschreiben und weniger erklären wollen. Die großen Persönlichkeiten verschwinden, es tritt an ihre Stelle die Menge, aber eine tüchtige, begabte und wohlgesinnte Menge, die natürlich und sittlich lebt. Der mittelalterliche Bürger ist nicht eine Entartungserscheinung, wie heute Bourgeois und Proletarier, sondern er ist eine natürliche, menschliche Form. Wir müssen sagen: an die Stelle des herrschaftlichen Lebensgefühls tritt das bürgerliche.

Nun kommt eine zweite Blüte der bildenden Kunst; wenn man vom verschiedenen Wert der Lebensgefühle absieht, ebenso bedeutend wie die erste; und da nun nicht nur die Gipfel des Volkes im geschichtlichen Leben stehen, sondern das ganze Volk, soweit es sich über den dumpf bäuerlichen, naturgebundenen Zustand erhoben hat, so ist diese neue Kunst in ganz anderem Maße im Gesamtvolk verbreitet. Es kam eine Zeit, in welcher jeder im Volk Kunst fühlte, etwa wie in der heutigen Zeit jeder irgendeinen dumpfen Begriff von der Wissenschaft hat.

Der Unterschied des Lebensgefühls der vornehmen und der Volkskunst ist, daß das eine Lebensgefühl auf das Geben geht und das andere auf das Habenwollen, das eine auf Besitz, das andere auf Erwerb. So geht die vornehme Zeit zu Ende, wo nicht mehr die »milte« gepriesen wird, die Gebefreudigkeit, sondern Fleiß und Ehrbarkeit, die Tugenden des Erwerbslebens. Die Aufgaben, welche die Religion der Kunst stellt, werden auch äußerlich anders. Im Christentum kommt ein ganz anderer Gefühls- und Gedankenkreis in den Vordergrund. An die Stelle der Weltherrschaft und Weltordnung tritt die Welterlösung; und an die Stelle eines Zustandes, in welchem alles besteht, tritt einer, in welchem alles erworben wird. Der vornehme Mann denkt nicht an sein Seelenheil; er lebt in einer Welt, in welcher durch die Ordnung der Kirche vorgesorgt ist; der Bürger denkt beständig an sein Seelenheil, er traut den äußeren kirchlichen Einrichtungen nicht mehr allein, er will selber tätig sein, er will sich unmittelbar an Gott wenden, der Erlösung durch den Opfertod Christi gewiß werden. Was man als protestantische Gesinnung bezeichnen kann, das beginnt jetzt. Es fängt an in der Cluniacensischen Bewegung, welche die Kirche verinnerlichen will; wird von den Kaisern unterstützt, die als Herren wollen, daß die Vertreter der Kirche und sie selber innerlich den Glauben durcherlebt haben; und ergreift dann die Kirche selber, die dann sofort sich von der kaiserlichen Macht muß befreien wollen; der Kampf beginnt mit Gregor VII., der in Italien die bürgerlich-volkstümliche Bewegung der Patarener zu Hilfe ruft.

Es tritt in den Vordergrund das Leiden Jesu, die Geburt, die Madonna. Die neue Gesellschaft wird ihrer Erlösung gewiß, indem sie beständig die Erlösungsgeschichte vor Augen hat: wie Gott als Mensch geboren wird, wie die Mutter Gottes eine Menschenmutter ist, und wie Gott als Mensch am Kreuz stirbt.

Man vergleiche den Christus am Kreuz, von dem wir sprachen, mit einem Christus in St. Severin in Köln aus der ersten Hälfte des vierzehnten Jahrhunderts.

Der Körper hängt als physische Masse am Kreuz, die Knie werden dadurch spitz vorgetrieben. Der körperliche Schmerz ist in seinem höchsten Ausdruck dargestellt: der Bauch ist eingezogen, das Brustbein steht spitz heraus. Der Kopf hängt schlaff nach vorn. In diesem selbst, der von der edelsten Form ist, wird der Schmerz mit unerhörter Kühnheit durch drei parallele Falten ausgedrückt, die quer über das ganze Gesicht laufen. Der Körper ist bemalt: die Striemen und Dornenstiche, das aus den Wunden tropfende Blut sind auf der leichenfarbenen Haut in schauerlichem Gegensatz dargestellt. Ein alter Scholiast erzählt von der ersten Aufführung der Eumeniden des Aischylos, daß der Dichter als Schauspielleiter die Eumeniden so fürchterlich habe auftreten lassen, daß Frauen in Ohnmacht gefallen seien. Eine solche Wirkung erstrebt dieser Christus in St. Severin.

Wir verstehen heute nicht mehr das adelige Christentum des Mittelalters, denn was wir vom Christentum noch sehen, das ist diese volkstümliche Religiosität. Jenes adelige Christentum setzte die Tugend voraus – »Tugend« im alten, adeligen Sinn gebraucht als allgemeine adelige Tüchtigkeit, als »virtus« und »ἀρετή«, wie sie ursprünglich gemeint waren – denn es galt für Menschen, welche herrschten. Es mußte verschwinden, als die Herrschaft aus der Welt verschwand und die demokratischen Zeiten aufkamen, in denen die Menschen überall nach Ersatz für die Herrschaft suchen. Jenes adelige Christentum kommt uns heute kaum noch als Religion vor, eher als eine Art rituellen Aberglaubens: wir verstehen ja heute auch die Sakramente nicht mehr, die damals im Mittelpunkt waren, die Kirche als Heilsanstalt ist ein leerer Begriff für uns geworden.

Es muß nun der Altar eine neue Bedeutung erhalten. Früher war in der Kirche Gottesdienst. Nun geschieht in der Kirche etwas für die Gemeinde, und das Abendmahl geht am Altar vor sich. Auf den Altar wenden sich nun die Blicke der Gemeinde. Der Raum der Kirche war für die Zwecke des Gottesdienstes ausgebildet; wie die hintere Altarwand mit der zunehmenden Wichtigkeit des Altars immer größer und wichtiger wird, wird etwas architektonisch Fremdes in die Kirche gebracht, das nicht mehr mit der Kirche zu einer Einheit zusammengeht. Noch mehr: die Altarwand hat sich aus dem tragbaren Schrein entwickelt, der überall aufgestellt werden konnte; trotzdem das gar keinen Sinn hatte, wurde der Charakter des Schreins beibehalten: die bürgerliche Gesellschaft hat in der Baukunst, welche im vorigen Zeitabschnitt die Königin der Künste gewesen war, keine stilbildende Kraft, sie kann nur die überkommenen Formen benutzen, ihren Zwecken äußerlich anpassen, in ihnen, so gut es geht, ihre neue Innerlichkeit ausdrücken; aber offenbar muß einmal eine Zeit kommen, da der Widerstreit der für anderen Gebrauch bestimmten Formen und ihre jetzige Benutzung klar wird. Das war die Reformationszeit.

Man mache sich klar: die bürgerliche Bildnerei hat keinen organischen Raum, in dem sie stehen kann. Man hat viel verstanden, wenn man das eingesehen hat.

Im Chor sind Fenster an Fenster. Vor diesem Raum steht der Altar mit der großen Rückwand, auf der nun die Bildnerei vor allem sich entfalten soll; die Bildwerke stehen also gegen das Licht.

Einen großen Teil der Werke betrachten wir heute in Museen, also in falschem Licht. Die ursprüngliche Bemalung ist vielfach beschädigt, oft abgelaugt. Die Figuren sind oft getrennt. Man mache sich klar, daß man bei solcher Barbarei nicht viel mehr von dem ursprünglichen Werk hat, daß es weniger aussagen wird über seine Wirkung als über seinen Künstler: und freilich, diese Aussage über den Künstler ist ja für unsere wissenschaftlich und ganz unkünstlerisch denkende Zeit die wichtigste.

Vor allem kann man die Vergoldung der Figuren erst verstehen, wenn man an ihren Platz denkt. Im hellen vorderen und seitlichen Licht zerstört sie natürlich alle bildnerische Wirkung. Auch die Faltengebung muß man verstehen aus dem Bedürfnis nach scharfen Ecken, welche das wenige Licht fangen, und schmalen Tiefen, welche durch größere Dunkelheit sich in dem allgemeinen Düster abheben.

Die Künstler der vornehmen Zeit waren namenlos: sie waren Männer, welche für das Bedürfnis der vornehmen Gesellschaft arbeiteten, und niemand dachte daran, daß sie wichtige Persönlichkeiten sein könnten. Sie waren es auch nicht, sie drückten aus, was in ihren Herrn lebendig war. Die Künstler dieser bürgerlichen Zeit waren ebenso namenlos. Sie waren Handwerker, die im Volk lebten und fühlten, und ihr Gefühl war das allgemeine Volksgefühl. Auch sie waren keine Persönlichkeiten.

Mit der Renaissance und in Italien entstand der persönliche Künstler. Er ist religionslos, wenigstens ist seine Kunst nicht mehr Ausdruck seines religiösen Lebens; er arbeitet noch für die Kirche; aber die Kirche ist nur Bestellerin für ihn. Und für sich selber ist die Kirche weder das, was sie im früheren Mittelalter war, noch das, was sie später war, sondern eine überkommene Form, die noch besteht, aber nun fremden, teilweise gar keinen Inhalt hat.

Damit hat denn der Künstler gar keine Verbindung mehr mit dem Volk und ist gänzlich allein gestellt. Eine Weile geht es noch so, daß sich aus den früheren Zeiten eine Anteilnahme an seinem Können gehalten hat, so wird der Virtuos. Dann arbeitet er nur für den engeren Kreis der Künstler selber, es entwickelt sich »die Kunst für die Kunst«. Daraus bildet sich dann einerseits das leere Ästhetentum, das engste Fühlung hat mit der Befriedigung der Aufreizungsbedürfnisse der Masse, andererseits der Künstler, der als der Feind empfunden wird, weil sein Dasein den Menschen die Nichtigkeit ihres Leben zeigt. Die deutsche bildende Kunst wurde durch die Reformation vernichtet, und was sich nachher unter fremden Einflüssen bildete, das hatte nie ein starkes und eigenes Leben. Aber es kann immer nur vernichtet werden, was vernichtenswert ist; die Volkskunst war am Ende ihrer Ausdrucksmöglichkeiten für ihren Gehalt angekommen, und wenn sie weiter bestanden hätte, dann wäre geschehen, was im Orient so oft geschieht, daß die einmal gewonnenen Formen handwerksmäßig und geistlos und immer schlechter neu wiederholt werden.

Große Kunst kann immer nur Ausdruck der Religion sein. Eine Zeit, die keinen Glauben hat, kann auch keine Kunst haben. Wenn heute ein Künstler geboren wird – und Künstler werden immer geboren, auch in den kümmerlichsten Zeiten – dann kann er nur als Einsamer und Feind der Gesellschaft leben, oder er kann versuchen, die kleinen Gefühle des persönlichen Lebens zu gestalten. Beide Arten von Menschen sind ehrenwert, sie gehören zu den wenigen Ehrenwerten, die in solchen Zeiten möglich sind. Die erste muß notwendig tragisch werden, die zweite wahrscheinlich: denn jeder wirkliche Künstler fühlt, daß es sich für ihn ja nicht nm diese kleinen Gefühle des persönlichen Lebens handelt, sondern daß er das große Weltgefühl darstellen muß; das ist das religiöse Gefühl.

Durch den Weltkrieg und seine Folgen tritt die Menschheit aus einem Zeitalter barbarischer Zivilisation in ein Zeitalter reiner Barbarei. Wenn erst die schweren Zeiten des Übergangs mit ihren Kriegen, Hungersnöten und Krankheiten vorüber sein werden, dann kann sich diese Barbarei vielleicht als fruchtbar erweisen: mein Traum ist, daß Deutschland dann der Welt eine neue Kunst schenken könnte.


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