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Kierkegaard

I. Das religiöse Problem

(1910)

Wer das Problem Kierkegaards kennen lernen will, muß sein ganzes Lebenswerk studieren, nicht eine einzelne Schrift, denn es handelt sich bei dem Schriftsteller um das Erlebnis einer Persönlichkeit, nicht um eine Anzahl von einzelnen Abhandlungen. Das Problem Kierkegaards aber ist in fast reiner Darstellung das Problem des religiösen Menschen. Wie bei allen großen geistigen Erscheinungen in der Menschheit, so entsteht auch bei der Religion sehr viel Unklares durch die Vermischung mit Fremdartigem, die Auffassung durch Minderbegabte, die Anpassung an die große Menge; und sehr viel Kämpfe und Streitigkeiten wären nicht nötig, wenn es gelänge, allgemein eine richtige Vorstellung von der Religion zu verbreiten. Kierkegaard selber ist ein merkwürdiges Beispiel dafür: seinen Kampf gegen das offizielle Christentum hätte er nicht gekämpft, wenn ihm klar geworden wäre, daß ganz naturgemäß reine, absolute Religion nur Erlebnis seltener Ausnahmenaturen sein kann, von denen in jeder Hinsicht nur zu wünschen ist, daß sie nicht allzu häufig auftreten, und daß die Religion in der Kirche, als Einrichtung des Staates, notwendig etwas anderes sein muß: das doch denn sein eigenes, großes Recht hat. Ein zusammenfassendes Wort Kierkegaards, in welchem das Wesentliche gesagt wird, was er den Menschen zu sagen hatte, lautet: »Das Paradox des Glaubens ist dieses, daß der Einzelne höher steht als das Allgemeine, daß der Einzelne sein Verhältnis zum Allgemeinen durch sein Verhältnis zum Absoluten, nicht sein Verhältnis zum Absoluten durch sein Verhältnis zum Allgemeinen bestimmt.« Wobei freilich der Einzelne in der glücklichen Lage sein muß, daß er das Absolute hat: und hier entstehen mir persönlich Zweifel an dem ganzen Kierkegaard; ich glaube nicht an die Wirklichkeit dieser glücklichen Lage, sondern nur an die Sehnsucht nach ihr. Den Zweifel empfinde ich auch bei anderen bedeutenden Religiösen: bei Claus Harms und Luther, Pascal und Augustin; und vielleicht könnte ein Skeptiker sagen: Ja, das eben ist die eigentliche Besonderheit, daß Religion nie Besitz ist und das religiöse Erlebnis nie eine unzweifelhafte Tatsache.

2. »Zur Selbstprüfung der Gegenwart empfohlen«

(1920)

Die große soziale und politische Krise der heutigen Kulturwelt ist ein Teil der religiösen Krise. Der Weltkrieg war verursacht durch den gegenseitigen Kampf der nationalen kapitalistischen Kräfte, deren Ausdehnungsbedürfnis notwendig zu einem Punkt führen mußte, wo einer der Mitbewerber, der gefährlichste, ausgeschaltet wurde; die eng mit ihm zusammenhängende sozialistische Revolution ergibt sich als Gegenwirkung. Das innerste Geheimnis des Kapitalismus ist die Auswirkung puritanischer Religiosität, durch welche notwendig alle natürlichen Zwecke des Menschen als nichtig erscheinen mußten und dergestalt das wirtschaftliche Leben von selber Selbstzweck wurde; und das innerste Geheimnis des Sozialismus ist die Gegenwirkung gegen diese Askese: bei welcher denn gleich sinnlos über das Ziel hinaus geschossen wird und platter Materialismus und leere Nützlichkeit erscheint. Kapitalismus und Sozialismus sind die zwei feindlichen Brüder: aber sie sind Brüder, und zwar im Grunde ejusdem farinae, indem sie in gleiche Unnatur, Verlogenheit und Zerstörung führen. Ihr Kritiker muß vom Seelenkundlichen ausgehen, vom Dasein des gesunden menschlichen Empfindens. Wenn die vom Puritanismus, das heißt, dem konsequenten Protestantismus, geschaffene Lebensform heute im tödlichen Kampf mit der ihr – kontradiktorisch, nicht wie sie meint konträr – entgegengesetzten Lebensform liegt, so wird, mag dieser Kampf ausgehen, wie er will, von einer lebensgefährlichen Krise des Protestantismus gesprochen werden müssen, die ja denn wohl sich auch in den anderen Ausgestaltungen des Protestantismus zeigt. In einer solchen Zeit ist es sehr lehrreich, die Schriften von Sören Kierkegaard zu studieren. Ihre Lektüre kann zu allerhand Nachdenken darüber führen, wie zu erklären ist, was geschah in der Zeit, als die deutsche Gesamtausgabe zu erscheinen begann – das war vor etwa zehn Jahren – und heute.

Kierkegaard ist der letzte ernsthafte Denker des Protestantismus. Ist er noch Christ, das heißt nicht nur: glaubt er an die Erlösung, sondern weiß er überhaupt, was Erlösung ist? Sein Gott hat eine merkwürdige Ähnlichkeit mit dem independentistischen Gott, der so gern in alttestamentarischen Wendungen sprach, an den man nicht mit Dankbarkeit und Freude denkt, sondern mit Furcht und Zittern, und dessen Bekenner den Andersgläubigen so leicht als Heuchler und Selbstbetrüger erscheinen. Muß das nicht so sein? Wenn die Gewähr meiner Errettung nicht in einer Macht außer mir liegt, sondern nur in mir selber, habe ich dann auch nur einen Augenblick ihre Gewißheit? Und wenn nicht äußere Gesetze maßgebend sind, sondern innere Zustände, muß es dann nicht mit Notwendigkeit geschehen, daß gedankliche Vortäuschungen an die Stelle so schwer zu beurteilender Gefühle treten, gedankliche Vortäuschungen, die je nach dem geistigen Stand des Mannes bis auf die tiefste Ebene innerer Unwahrheit hinabgehen können? Und damit das Dritte nicht fehlt, muß nicht diese beständige Beschäftigung mit dem eigenen Innern eine üble Eitelkeit erzeugen? Wir haben uns wohl allgemein von dem früheren Glauben freigemacht, daß Religion unter allen Umständen die Menschen zum Göttlichen führen muß; oder, wenn wir es anders ausdrücken: Religion verknüpft ja wohl den Menschen mit dem Jenseits, aber dieses Jenseits muß nicht notwendig göttlicher Natur sein. Kierkegaard ist eine wirklich religiöse Natur, und wer wissen will, was Religion ist, der kann es heute von ihm am leichtesten lernen, weil er unsere Sprache spricht und nicht die Sprache vergangener Zeiten. Insofern kann er auch Menschen erwecken: aber die müßten dann wohl suchen, seinen äußersten religiösen Gegensatz zu finden.


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