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Religiöse Dichtung

(1927)

In Zeiten schweren Unglücks besinnen sich die Menschen auf Gott. Bei vielen mag da einfach die Verzweiflung wirken; bei vielen aber wird der Vorgang auch so sein, daß sie durch das Unglück aus ihrer Ruhe aufgerüttelt werden, daß sie einsehen: unser Leben ist nicht so einfach zu deuten, wie sie gedacht hatten, sondern wird von einer unerkennbaren Macht geleitet und geführt zu Zielen, welche wir nicht verstehen können.

Ob die erwachende Religiosität, die wir heute überall bemerken können, Folgen von Bedeutung haben wird, das können wir noch nicht sagen. Das wird wohl dadurch bestimmt werden, ob sich ein Mann findet, der den Menschen ihre dunklen Gefühle und Ahnungen deuten, der die Willigen wirklich zu Gott führen kann. Bei der intellektualistischen Zersetzung der heutigen Menschheit überläßt man das nicht Gottes Führung, sondern man überlegt sich vorher, wie das denn geschehen könne. Dieselbe Krise, wie im religiösen Leben, zeigt sich im gesamten höheren Leben; auch hier bespricht man, was denn nun werden wird. Und so wird denn auch die Frage besprochen, ob eine neue religiöse Dichtung möglich ist.

Unsere klassische deutsche Dichtung war seelisch die Erbin des Pietismus. Der Pietismus hatte die bürgerlich verfeinerte Persönlichkeit in den Mittelpunkt der Betrachtung gestellt. Die Dichtung erschien als Ausdruck dieser Persönlichkeit. Sie merkte wohl, daß das nicht genügte, daß sie anderes ausdrücken mußte. Aber dieses andere zu finden, gelang ihr nicht. So blieb sie wurzellos, auf die Einzelnen gestellt, und konnte wohl Einzelne bilden, aber auf das große Leben der Nation keinen Einfluß ausüben. Es folgte die Romantik, welche in äußerlichem Herübernehmen anderer Gehalte die Lösung zu finden glaubte: sie schloß sich an die geschichtliche Form der Religion an, sie schuf ein Idealbild der Nation; auch ihr glückte keine tiefere Wirkung, und unter ihrer Herrschaft wurde die Dichtung noch mehr zur Seite geschoben. Was seitdem in Europa gekommen ist, das ist nur ein Ablaufen der durch die Romantik gegebenen Antriebe gewesen.

Wenn wir in die Ewigkeit und Unendlichkeit eingebettet sind, unser irdisches Leben nichts ist als das Aufblitzen einer Welle in einem ungeheuren Strom, dann ist offenbar alles unwichtig, was nicht Religion ist, dann ist die Ursache dafür, daß die Dichtung den Menschen heute gleichgültig geworden ist, der Umstand, daß die Dichtung nicht religiös ist, daß sie die suchenden und verzweifelnden Menschen nicht zu dem einzig Wichtigen führen kann, das es gibt. Wenn die Menschen sich heute wieder nach Religion sehnen, so sehnen sie sich auch nach religiöser Dichtung. Aber damit ist nun eben noch nicht gesagt, daß religiöse Dichtung nun kommen wird.

Die heutige allgemeine Verzweiflung ist entstanden durch die zu hoch getriebene Zivilisation, welche die Menschen aushöhlt und ihnen keine Zwecke mehr für ihr Leben läßt. Das ganze Dasein der Menschen ist so geordnet, daß die selbständige Tätigkeit des Einzelnen, Gewissensentscheidung und schöpferische Kraft nicht nur nicht nötig sind, sondern sogar unerwünscht; es ist, wie man es nennt, alles mechanisiert. Der Zweck war, die äußeren Güter zu vermehren. Dieser Zweck ist erreicht. Aber nun stellt es sich heraus, daß die Menschen mit diesen äußeren Gütern nichts anzufangen wissen. Das letztemal, als die Menschheit an einem solchen Punkt angelangt war, war es bei dem Zusammenbruch des Altertums. Damals entstand die tragische Religion des Christentums als Rettung für die Menschheit: der Glaube an den Gott am Kreuz. Diese Religion konnte dem Höchsten geben und dem Niedrigsten, sie wurde Volksreligion und ist dabei von nur wenigen Menschen je in ihren letzten Tiefen verstanden. Es wird heute in aller Welt herumgesucht: aber von allen vorhandenen Religionen ist die christliche bis heute die höchste, und die Kulturmenschheit kann nicht auf niedrigere Formen zurückgehen.

Die christliche Religion gibt die einzige Lösung für die Fragen, welche uns bewegen, indem sie den tragischen Charakter des bewußten Lebens darstellt. Unser bewußtes Leben ist ein kleiner Teil des allgemeinen Lebens, das uns ewig unerkennbar sein wird. Nur in diesem allgemeinen Leben lösen sich die Widersprüche unseres persönlichen, einzelnen Lebens. Diese Lösung wird uns also nie zugänglich. Aber wir leben nun einmal bewußt und vereinzelt, müssen in diesem Leben unsere Fragen stellen: es ist nichts anderes möglich, als daß wir einsehen, daß dieses Einzelleben tragisch ist. Haben wir das eingesehen, so können wir es auch ertragen.

In früheren Zeiten gingen solche Erkenntnisse vor sich durch mythische Anschauungen, welche den Menschen nicht als mythisch klar wurden, sondern als Metaphysik erschienen. Die religiöse Metaphysik können wir heute nicht mehr annehmen. Aber da gerade wäre eine Aufgabe für die Dichtung.

Die Dichtung hat für die Menschen schon oft Religion geschaffen. Das bekannteste Beispiel ist die Bildung eines großen Teils der griechischen Vorstellungen von den Göttern durch die homerischen Dichter. In einer Zeit, wo man sich darüber klar ist, daß eine Metaphysik nicht möglich ist, müßten die Dichter als Gestalter der religiösen Vorstellungen eintreten: die Menschheit würde also heute religiöse Dichtung erwarten; und wenn sie geschaffen würde, so würden die Menschen sie mit Begeisterung aufnehmen – es würde ihnen mit einem Male klar werden, daß sie jetzt etwas als Dichtung betrachten, was sehr wenig mit der Dichtung zu tun hat.

Nun müssen wir noch etwas anderes in Betracht ziehen.

Wir alle, Katholiken und Protestanten, haben heute die Vorstellung von Religion, welche seit der Reformation auf der Welt ist, wonach Religion ein Verhältnis des Einzelnen zu Gott ist. Zwar hat die katholische Kirche aus den mittelalterlichen Zeiten her noch alle Einrichtungen und auch alle Sätze, welche auf Religion als Beziehung der Gesellschaft zu Gott gehen, und gewiß ist noch manches lebendig wirkend in dieser Richtung. Aber im wesentlichen ist auch bei den Katholiken heute die Vorstellung, daß es sich in der Religion um den Einzelmenschen handele.

Nun ist aber Religion ganz im Gegenteil Gemeinschaftssache. Schließlich kann der geistig und seelisch hochstehende Einzelne ohne Religion auskommen, eine Gesellschaft geht zugrunde, wenn sie keine Religion hat. Die Religion hält den Einzelnen wie die Gesellschaft am Leben. Diese Tätigkeit für den Einzelnen kann durch anderes ersetzt werden, für die Gesellschaft nie.

Es ist auch nie so gewesen, wie wir heute denken, wo wir notwendig solche Vorgänge uns individualistisch vorstellen, daß Religion von Einzelnen geschaffen ist, etwa von sogenannten Religionsstiftern. Religion ist immer Schöpfung einer Gesamtheit gewesen – menschlich-wissenschaftlich aufgefaßt –, von der anderen Seite her ausgedrückt: Offenbarung an die Menschheit. Wenn religiöse Dichtung heute erstehen würde, so wäre das also eine Dichtung, welche sich an eine Gemeinschaft wendet.

Das einzige, was von solchen Formen der Dichtung heute noch lebendig ist, ist das Drama. Der religiöse Ursprung der tragischen Dichtung bei den Griechen, das Schauspiel als Tragödie, ist nicht eine geschichtliche Zufälligkeit, sondern es hat sich da etwas Notwendiges als geschichtliche Tatsache herausgestellt; und die griechische Tragödie steht denn auch im innigsten Zusammenhang mit der Entwicklung des Christentums.

Freilich wird unser heutiges Theater schwerlich den Boden abgeben, auf dem die religiöse Dichtung für die Gemeinschaft gebaut wird. Dieses Theater ist eine Schöpfung unserer klassischen Zeit, welche dachte, daß man eine Stätte für das Unterhaltungsbedürfnis der großen Menge veredeln könne zu einer Stätte für ihre Erhebung.

Handlungen, auch verkehrte, bedeutender Menschen wirken immer lange nach. So werden denn auch heute immer noch die Versuche gemacht, wirkliche Dichtung auf den Bühnen darzubieten. Sie können keinen Erfolg haben, man schädigt nur die Theater und schleppt die alte Verwirrung der Begriffe immer weiter; nur sehr selten wird es bei den höchsten Anstrengungen gelingen, einigen wenigen Menschen unter den Zuschauern etwas Wesentliches zu geben.

Die Blüte der Tragödie in Athen hat nur eine ganz kurze Zeit gedauert. Nachher hat man sogar das Bewußtsein dessen, was tragisch ist, verloren. Schon Aristoteles hat es gänzlich mißverstanden. Aus gleicher Not: aus dem Suchen nach Religion, aus dem Verlangen der Menschen, sich dem Göttlichen gegenüber in Gemeinschaft zu fühlen, könnte auch heute wieder tragische Dichtung entstehen. Das wäre religiöse Dichtung, welche mit den Konfessionen nichts zu tun hat, welche sogar vielleicht scheinbar nicht einmal ausgesprochen christlich ist. Die Spanier haben in der Zeit ihrer geistigen Blüte religiöse Dramen gehabt. Aber das war etwas anderes, als hier gemeint ist. Damals herrschte dort die Religiosität der Gegenreformation: sie hatte noch die alten, festen Formen, in denen die Menschen aufgewachsen waren, sie konnte ihren Gefühlsgehalt in bekannte Begriffe und Vorstellungen gießen. Der neuere Dichter hat es nicht so gut. Er findet nichts Altfeststehendes mehr vor, er muß einen religiösen Gehalt in Bildern ausdrücken, welche er neu schaffen muß. Auch seine Zuhörer haben es schwerer. Sie müssen ungewohnte Vorstellungen sich zu eigen machen und haben in der Dichtung nichts Altgewohntes, an welches das Gefühl sich anknüpfen kann.

Die heute beliebten Formen der Dichtung sind die Lyrik und der Roman. Sie entsprechen der Vereinzelung der Menschen von heute. Und wenn man nach der Möglichkeit religiöser Dichtung fragt, so wird man zunächst an fromme Romane und Gedichte denken.

Solche Dichtungen sind zu allen Zeiten möglich: zu allen Zeiten kann es den frommen einzelnen Dichter und die einzelnen Frommen geben, welche seine Werke annehmen; es wird auf den geistigen Stand der Personen ankommen, ob es sich da bloß um geistige Dürftigkeit handelt oder um ein großes Gefühl. Aber Frömmigkeit ist noch nicht Religion. Wenn Religion sich an die Gemeinschaft wendet und nicht an den Einzelnen, dann muß religiöse Dichtung in den Formen sein, welche sich an eine Gemeinde wenden, wie es etwa außer dem Drama die antike Chorlyrik war.

Die äußere Möglichkeit für das Drama ist heute das Theater. Wir sahen, daß es der Aufgabe nicht gewachsen ist. Eine neue religiöse Dichtung hätte also auch zur Voraussetzung, daß sich neue äußere Möglichkeiten für das Drama böten.

Und da sieht man nun merkwürdige Versuche. Sie sind von zweierlei Art. Ein Mann studiert mit einigen Darstellern ein religiöses Drama ein und gibt Wandervorstellungen in verschiedenen Städten; und es bilden sich mehr oder weniger bewußt religiöse Vereinigungen, welche für sich Aufführungen veranstalten.

Noch ist beides in seinen ersten Anfängen. Vielleicht verkümmern diese wieder, sie sind noch sehr zart. Aber vielleicht entwickeln sie sich weiter, und so könnte vor unseren Augen denn eine neue Dichtung von bedeutendem Gehalt entstehen, von welcher diejenigen Männer, die sich heute berufsmäßig mit der Beobachtung und Beurteilung der Dichtung befassen, wenig oder nichts merken.


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