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Das Drama als gesellschaftsbildende Macht

Ein Vortrag

(1929)

Verehrte Anwesende! Wir erleben heute einen allgemeinen Kampf aller Menschen gegeneinander. Die Nationen und Staaten Europas und des eng mit Europa verbundenen nördlichen Amerika sind gegeneinander gezogen, in der ausgesprochenen Absicht, daß die Unterliegenden vernichtet werden sollten. Wir stehen heute inmitten der Vernichtung der Unterlegenen. In den Völkern selber sind Kämpfe entbrannt, deren Absicht die Ausrottung ganzer Klassen ist, und die Absicht wird vor unseren Augen erreicht. Es bereiten sich Kämpfe noch anderer Art innerhalb der Völker vor, indem längst vergessene Rassengegensätze wieder zum Bewußtsein kommen, denn die Völker sind ja nicht einheitlicher Abstammung, sondern sind Rassengemenge. Schon sehen wir nicht nur einen großen Teil des Wohlstandes vernichtet, auf dem die Gesittung Europas ruht, denn proletarisierte Völker können keine Gesittung mehr haben; wir sehen auch schon, wie die Gesittung selber rasch verschwindet, nachdem ihre Grundlage, der Glaube an einen gerechten und gütigen Gott, verschwunden ist, und die Stimme des mahnenden und drängenden Gewissens nicht mehr scheint gehört zu werden. Man hat bereits vom Untergang des Abendlandes gefabelt, und es gibt Manschen, welche alle Errungenschaften der Menschheit, das Ergebnis vieltausendjähriger Arbeit, in Frage gestellt sehen. Es wäre gewiß falsch, wenn wir uns leichtfertig über die furchtbare Not der Zeit hinweglügen wollten mit einem gänzlich ungerechtfertigten Optimismus; aber ebenso falsch wäre es, wenn wir nun sinnlos verzweifelten und uns als wehrloses Opfer einer scheinbar unberechenbaren, mit Naturgewalt hereinbrechenden Not gefangengeben würden. Wir müssen verstehen, was diese Not bedeutet; dann können wir bis zu einem gewissen Grad abmessen, wie weit sie gehen kann, und was auf diese Zeit der Verzweiflung folgen wird.

Die Geschichte der Menschheit ist nicht ein gleichmäßiger, ununterbrochener Fluß, wie es uns aus unserem Erleben wohl scheinen mochte bis zum Beginn des Weltkrieges; sondern sie ist eine Aufeinanderfolge von Perioden, welche sich scharf voneinander absetzen, deren Übergänge also immer unter den schwersten Zuckungen der Menschheit geschehen müssen. Von Periode zu Periode wechselt die Geschichte auch ihren Schauplatz, und Völker, welche in der einen Periode blühten, treten in der nächsten zurück, um anderen Völkern Platz zu machen, um vielleicht später wieder einmal, nach langen Jahrhunderten, in einer neuen Zeit wieder eine geschichtliche Rolle zu spielen. Wir erleben heute den Übergang aus einer Periode der Menschheit, die abgeschlossen hinter uns liegt, zu einer neuen, von der wir noch nichts wissen; alle unsere Leiden, die uns heute so unvernünftig erscheinen, sind notwendig und werden als notwendig erscheinen, wenn erst wieder einige Jahrhunderte vergangen sein werden und das Neue, das wir jetzt noch nicht ahnen können, gebildet vor den Augen der Menschen liegt. Ich will mich deutlicher aussprechen. Wir können eine Geschichtsperiode herausschälen, welche von 1600 bis 1900 geht; sie trat an die Stelle einer Zeit, welche von 1300 bis 1600 führte. Die neuere Geschichtswissenschaft beginnt feste – nicht Gesetze, sondern Formen des geschichtlichen Lebens zu ahnen; wieweit es möglich ist, diese Ahnungen Wissenschaft werden zu lassen, weiß noch niemand; ich möchte Ihnen nur einige Namen von Forschern nennen, welche eine solche Periodizität festzustellen versuchten; es war in der vorigen Generation Lorenz und in der jetzigen Vogel; dieser letztere glaubt, 300jährige Perioden nachweisen zu können; und jedenfalls kann man durch seine Einteilung manches verstehen, was sonst schwer verständlich ist. Die letzten 300 Jahre der Menschheit standen unter der Anschauung, daß Weltall und Menschheit rational geordnet sind und rational verstanden werden können. Am Anfang der Periode erhoben sich die großen mathematischen und physikalischen Denker: die Himmelsmechanik wurde festgestellt; die physikalischen Gesetze wurden gefunden, welche das Geschehen auf unserer Erde bestimmen; es kam eine Religiosität auf, man kann sie die deistische nennen, welche annahm, daß Gott in einem einmaligen Schöpferakt das All geschaffen habe und nun seinen ewigen, ehernen Gesetzen überlasse, und es zeigte sich eine Verwandtschaft mit dem Epikureischen Denken des Altertums; man nahm an, daß auch das gesellschaftliche Leben der Menschen solchen Gesetzen unterliege, und daß eine prästabilierte Harmonie bestehe zwischen dem wohlerkannten Interesse des Einzelnen und dem Interesse der Gesamtheit. Die Aufgabe der Menschen konnte dann nur noch das Erkennen all dieser Gesetze sein und ein dankbar freudiges Annehmen der ungeheuren Weltvernunft, die sich in ihnen aussprach; so erschien als Aufgabe der Philosophie denn, das letzte Irrationale aufzulösen, um in der philosophischen Sprache der Zeit zu sprechen: die Ideen von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit evident zu machen.

Gegen das Ende des 18. Jahrhunderts war die Zeit so weit gekommen, daß sie diese philosophische Aufgabe mit Ernst erfassen konnte. Sie mußte an ihr scheitern; dieses Scheitern aber mußte den Zusammenbruch des ganzen geistigen Gebäudes nach sich ziehen, das seit 1600 errichtet war.

Meine verehrten Anwesenden, Sie erwarten eine Auseinandersetzung über das heutige Drama und werden verwundert gewesen sein, daß Sie vom Drama noch kein Wort gehört haben. Uneingestanden bildet der Kampf um das Drama den Mittelpunkt der geistigen und äußeren Kämpfe; wollen wir das heutige Drama verstehen, so müssen wir diesen Kampf verstehen. Wir verstehen dann aber nicht nur das Drama, sondern auch alle anderen Erscheinungen der heutigen Zeit; und alles Zufällige und durch sein Zufälliges Fürchterliche ordnet sich dann vernünftig und klar zu einem ruhigen Verstehen.

Stellen Sie sich jene Geistesverfassung, von der ich Ihnen sprach, recht lebendig vor: ein wunderbar geordnetes All, das nach unabänderlichen Gesetzen sich sicher bewegt, in das der Einzelne mit seinen Leidenschaften und Ansichten verständig eingeordnet ist; und dieses ungeheure, vernünftig eingerichtete Gebäude ist bis in den letzten Winkel, das feinste Rädchen, erkennbar für uns; die Wissenschaft darf uns restlose Einsicht versprechen, und wenn sie erst ihre Aufgabe gelöst hat, dann wird es nichts mehr in der Welt geben, was nicht wissenschaftlich erkennbar ist.

Mit dieser Geistesverfassung von froher, überschäumender Kraft ging man an die Lösung der letzten Aufgabe, die Ideen von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit so evident zu machen, wie es ein mathematischer Lehrsatz war, denn alles war ja mathematisch erkennbar.

In der Kantischen Philosophie zeigte sich die Unlösbarkeit der Aufgabe. Nimmt man sie zusammen mit der Französischen Revolution, die als geschichtliche Erscheinung ganz etwas anderes war als die rationale englische Revolution, die zum ersten Male wieder eine unheimliche Unvernunft an die Oberfläche des geschichtlichen Geschehens brachte, so kann man sagen, daß im letzten Viertel des achtzehnten Jahrhunderts die Unhaltbarkeit der Idee, welche diese Periode beherrschte und bildete, sich zum erstenmal erschreckend zeigte: den Menschen damals muß zumute gewesen sein, wie Menschen bei einem Erdbeben zumute ist, wenn plötzlich alles, was fest und unverrückbar erschien, beweglich, gleitend, und fallend wird, und kein Punkt mehr zu sein scheint, auf dem einer fest stehen kann.

Bis dahin war die Idee dieser Periode ohne Kampf immer siegreich vorgeschritten. Nun beginnt von allen Seiten der Angriff, und ihm entspricht die Verteidigung. Der Ausgang des achtzehnten Jahrhunderts und das ganze neunzehnte Jahrhundert war eine Zeit der heftigsten geistigen Kämpfe. Man versucht eine Neubegründung des zuversichtlichen Glaubens an die Möglichkeit allgemeiner wissenschaftlicher Erkenntnis: hier ordnet sich die idealistische deutsche Philosophie bis auf Hegel ein. Man versucht dichterisch ein Kompromiß zwischen der als erkennbar gedachten Welt und der neuen Anschauung, die sich immer weniger abweisen läßt, daß die Welt durch Mächte bestimmt wird, die jenseits jeder Erkenntnismöglichkeit sind: das ist die klassische deutsche Dichtung.

Sehen wir ab von den Dramen, wie Götz von Berlichingen, die eigentlich in Szenen geteilte und dialogisierte Erzählungen sind, so haben wir bei Goethe vornehmlich zwei Werke zu betrachten: Tasso und Iphigenie. In beiden drängt jenes Lebensgefühl zum Ausdruck, welches religiös dem deutschen Idealismus zugrunde liegt, das pietistische. Die Beziehungen der Menschen sind nicht unlöslich, sondern sie sind durch die Menschen selber in die gewollte Ordnung zu bringen. Es ist in den Menschen eine äußerst feine Kraft des Gemütes, welche alle ihre Handlungen bestimmt und dem Gegenspieler von selber den Willen des Handelnden aufzwingt. Denken wir daran, wie Iphigenie durch ihre menschliche Hoheit und die Schönheit ihres sittlichen Wesens den scheinbar unlösbaren Knoten auflöst. Die Probleme sind also aus dem metaphysisch-religiösen Gebiet, wo sie tragisch sind, auf das sittlich-menschliche, diesseitige Gebiet verschoben, wo es keine Tragödie mehr gibt, wo das menschliche Verstehen jedes Verzeihen ermöglicht. Goethe ist eine rein sittliche Natur, wie es auch Kant war. In ihnen zeigt es sich, daß der Pietismus nicht eine Erfüllung der Religion ist, wie er meint, sondern daß er die Religion in Sittlichkeit auflöst. Wie so oft hat Goethe auch hier keine selbständige Form gefunden. Er nimmt die Form Racines herüber. Auch Racine ist kein Tragiker. Er steht innerhalb der bedeutenden französischen Geistesbewegung, welche die gesellschaftliche Konvention an die Stelle der furchtbaren jenseitigen Verknüpfung setzt. Man hat die Formel für Goethes dramatische Hauptwerke gefunden, wenn man sagt, daß er die französische Gesellschaftskonvention verinnerlicht hat: sie war ursprünglich Sittlichkeit gewesen, er hat sie wieder als Sittlichkeit aufgefaßt. Schiller ist schon ein wahrer Tragiker. Vergleichen Sie sein ganz unvollkommenes Jugendwerk, die Räuber, mit dem Götz, so sehen Sie sofort, daß hier ein unlösbarer Konflikt vorliegt. Zwar erscheint er auch noch als rein sittlicher Konflikt, als der notwendig unbesonnene Kampf eines rein sittlichen Jünglings gegen eine verkommene Welt, in der er notwendig untergehen muß. Aber diese Sittlichkeit ist schon nicht mehr freier Ausfluß überlegener geistiger Naturen, wie bei Goethe, sondern blinder Trieb. Sie ist nicht mehr Ergebnis des Menschen, sondern der Mensch ist ihr Ergebnis.

In rascher Aufgipfelung ersteigt Schiller die Höhe des Tragikers im Don Carlos. Aber er kann sich auf ihr nicht halten. Im Don Carlos sind Szenen – ich erinnere an die zwischen Philipp und dem Großinquisitor, zwischen Posa und der Königin – die zu den größten dramatischen Szenen der Weltliteratur gehören. Hier kämpfen schon nicht mehr zufällige Menschen miteinander, sondern Willensenergien, die im Jenseitigen wurzeln. Posa ist der Typus des revolutionären Idealisten, der gleichgültig die ganze Welt zerstört, um seine Idee durchzusetzen. Der Großinquisitor ist der Typus des konservativen Staatsmannes, der kaltblütig Menschen und Menschenglück opfert, um die Möglichkeit der menschlichen Gesellschaft zu erhalten. Den großen Geist Schillers, einen der größten, welche die Menschheit je hervorbrachte, zeigt es, daß er damals schon als ganz junger Mann durchschaute, daß beide Gestalten im Grunde eins sind, daß der Großinquisitor nur der alt gewordene Posa ist.

Schiller hat die Höhe des Tragikers erreicht, für wenige Augenblicke. Er konnte sich nicht auf ihr halten, denn er konnte nicht von Kant loskommen. So stehen seine späteren Werke unter dem Don Carlos, und verirrt er sich immer mehr ins bloß Theatralische, statt höher ins Dramatische zu gelangen. Er hat sich nicht rein als Verkünder jenseitiger Schauungen gefühlt, wie Aischylos und Sophokles; sondern er wollte ein Kompromiß schaffen mit diesseitiger Dichtung, mit Darstellung des sogenannten wirklichen Lebens, wie sie nach der Meinung der Zeit bei Shakespeare vorlag.

Kleist nimmt diese Aufgabe auf. Er spricht es einmal naiv aus, er wolle die Vorzüge Shakespeares mit denen des Sophokles vereinigen. Er mußte scheitern, wie Schiller scheiterte. Nur, daß er einen Schritt weiter in das unerforschliche Gebiet des Jenseits gegangen ist. Im Käthchen ist die Liebe eine jenseitige Schauung, in der Penthesilea ist ein ganz irrationaler Konflikt dargestellt. Aber Kleist kommt immer nicht los davon, daß er nun, wie man es dachte, wirkliche Menschen bilden müsse; dadurch kommt ein Widerspruch in seine Gestalten, der sich nur so lösen kann, daß diese Gestalten nicht als einfach natürlich, sondern als pathologisch erscheinen.

Dieser Weg zum Pathologischen war der einzig mögliche. Hebbel ging ihn weiter. Denken Sie an seinen Gyges, an seinen Herodes. Die Voraussetzung für den tragischen Konflikt erscheint hier als bloße Schrulle. Es gehört die große dichterische Kraft Hebbels dazu, um diesen Eindruck für den unbefangenen Zuschauer nicht aufkommen zu lassen, und doch noch als Natur zu wirken.

Vielleicht verstehen Sie in diesem Zusammenhang Ibsen. Ibsen kommt her aus dem französischen Konversationsstück, das nie an die tragischen Aufgaben gerührt hat, wie auch das französische Drama der Romantik diese Aufgabe sich nie gestellt hatte. Er war außerdem durch Sören Kierkegaard beeinflußt, welcher den Versuch machte, aus dem Pietismus und aus der Hegelschen Philosophie zu eigentlicher Religion durchzudringen, und wenigstens verstandesmäßig das Problem der Religion gefaßt hat. Aber Ibsen konnte als Dichter nicht aus dem Bannkreis der bürgerlichen Welt herauskommen – auch in seinen romantischen Jugendwerken kann er es nicht, seine Wikinger, sein Julian, sind nur kostümierte Bürger – und in der bürgerlichen Gesellschaft, die ja eben auf der Sittlichkeit ruht und nicht auf der Religion, ist nicht Raum für die Tragödie. Immer klarer wird es in seinen späteren Werken, daß er in Wirklichkeit nur Lustspielmotive behandelt hat, als seien es tragische Motive. Vom naturalistischen Drama ist überhaupt nicht zu sprechen, es ist ein theoretisches Mißverständnis. Ich habe diesen kurzen Blick auf die Entwicklung des Dramas geworfen, weil unser Thema die Voraussetzungen des modernen Dramas verlangt. Die Zeit versuchte auf allen Gebieten Auswege und Kompromisse wie beim Drama. Man wollte etwa die Augen vor der Aufgabe überhaupt verschließen, indem man auf die klare Einsicht verzichtete, und aus mißverstandenen Erinnerungen an die Vergangenheit, aus einer falschen Vorstellung vom Volk, und aus unbestimmten Gefühlserregungen sich eine künstliche Welt bildete, in der man lebte, die romantische Welt. Zu dieser romantischen Welt gehört auch der europäische Naturalismus in der Dichtung, zu ihr gehören noch die großen russischen Dichter Tolstoi und Dostojewskij, die letzten bedeutenden Persönlichkeiten in der europäischen Literatur. Auch die Plattheiten des philosophischen Materialismus muß man hier einordnen: es wird in ihm der Zweifel abgeschnitten durch eine apodiktisch hingestellte Behauptung und auf ihr ein Weltbild gebaut, wie es dem Belieben und Behagen des durchschnittlichen Menschen entspricht.

Mit anderen Worten: das neunzehnte Jahrhundert ist gewiß bedeutend gewesen darin, daß es die wirtschaftlichen Ergebnisse der wissenschaftlichen Leistungen der Periode sich aneignete und dadurch einen ungeheuren Reichtum erzeugte, indem es die wissenschaftlichen Leistungen selber auch immer weiter trieb. Aber es war völlig ratlos in bezug auf die Grundlagen dieses Daseins; auf die Hauptfragen des Lebens wußte es keine Antworten, und es begnügte sich mit dem bloßen Leben, statt die Grundlagen des Lebens zu verstehen. Es gab ja wohl noch die Kirchen, die aus früherer Zeit übriggeblieben waren, die ihre Worte sagten, welche vorzeiten die Menschen geleitet hatten; aber das waren nicht mehr lebendige Lebensmächte. Die lebendige Lebensmacht war die Wissenschaft, die seit 1600 es unternommen hatte, an die Stelle der Religion zu treten und die Kunst überflüssig zu machen, und diese antwortete jetzt ausweichend, wenn an sie die Anfrage nach den letzten Dingen des Lebens gestellt wurde. Wozu lebe ich? Was ist der Tod? Was ist meine Freiheit? – Das waren Fragen, auf die es keine Antwort mehr gab.

Die Antwort auf diese Fragen – die Antwort, welche die Menschen fassen können, also nicht eine wissenschaftliche Wahrheit, sondern etwas anderes; ich möchte es nennen: das Ermöglichen des Lebens; diese Antwort kann nur durch die jenseitigen Mächte gegeben werden, durch Gott, in dem wir leben und sind, der allein also Zweck und Sinn unseres Lebens und Seins kennen kann. Sie wird uns zuteil durch Religion und Dichtung, denn durch Religion und Dichtung spricht Gott zu uns, sie sind seine Sprache. Wenn die Menschen erst wieder die Sprache Gottes verstehen werden, dann wird sich der Wirrwarr lösen, in dem wir heute alle leben, dann werden sich neue Mächte bilden, welche die Herrschaft über die Menschen antreten; denn daß die Menschen heute keine Herrscher mehr haben, welche sie führen, das ist ja der unmittelbare Grund für all das heutige Unglück, für den allgemeinen Kampf aller gegen alle.

Ich habe hier nicht von der Religion zu reden, sondern von ihrer Zwillingsschwester, der Dichtung. Im Mittelpunkt der Dichtung wird immer das Drama stehen; denn Kunst ist Form, und die strengste Form bedeutet das höchste Kunstwerk; wenn ein Drama vollendet ist, dann muß jedes Wort in ihm, jede Silbe ihre Beziehung, ihre drei- und vierfache Bedeutung haben, muß ein gegenseitiges Heben, Halten und Tragen sein, wie, um ein einfaches Bild zu gebrauchen, das wenigstens eine Vorstellung gibt, bei der Eisenkonstruktion einer Brücke, wo bis auf Zoll und Gramm alles ausgerechnet ist. Daß dieser Begriff von Drama verschwunden ist, das ist eines der Anzeichen für die völlige Ratlosigkeit unserer Zeit.

Meine verehrten Anwesenden, wenn Sie in einen gotischen Dom treten, dann spüren Sie das Gefühl des mittelalterlichen Christentums. Sie haben einen künstlerischen Eindruck, Sie erhalten also nichts Gedankliches und auch nichts Wirkliches, sondern es wird die Verfassung Ihrer Seele dergestalt geändert, daß sie aufnahmefähig wird für jene Gedanken und Gefühle, welche zusammen den mittelalterlichen Glauben darstellen.

Sie würden aber sehr im Irrtum sein, wenn Sie glaubten, der alte Dombaumeister habe nun in einem Überschwang von Gefühlen gearbeitet und habe, indessen er seine Pläne entwarf und seine Steinmetzen anleitete, beständig in einer Gemütsstimmung gelebt, welche der ähnlich ist, die Sie haben, wenn Sie seinen Dom betreten. Der Mann war ein Handwerker und er behandelte alle Fragen seiner Tätigkeit als rein technische Fragen.

Jeder Künstler ist ein Handwerker. Auch der Dichter ist es; und was ihm bei seiner Arbeit wichtig ist, das sind die technischen Fragen. Wenn er sein Handwerk versteht, dann wird sein Werk gut; versteht er es nicht, dann wird es verfehlt.

Gleichzeitig mit der Herrschaft der Wissenschaft im geistigen Leben ging eine damals neue Vorstellung von der künstlerischen, insbesondere der dichterischen Tätigkeit. Man betrachtete sie als Ergebnis der Genialität, als einer besonderen geistigen Verfassung bestimmter Menschen, und kam so dazu, das Kunstwerk, die Dichtung, als Lebensäußerung bedeutender Menschen zu betrachten. Scheinbar war das eine außerordentliche Hochschätzung von Dichtung und Dichter. In Wirklichkeit wurden Dichtung und Dichter in der allgemeinen Achtung herabgesetzt. Früher hatte man die Vorstellung von der göttlichen Eingebung; diese Vorstellung war verschieden, je nach dem allgemeinen Stand der Begriffe. So bedeutete etwa die Muse, welche Homer den Mann nennen soll, der vielgewandt ist, nicht das, was wir heute Inspiration nennen; die Muse gibt dem Dichter nur die Tatsachen, welche er dann in ein Gedicht zu fassen hat mit jener τεχμη, jener handwerksmäßigen Fertigkeit, die er von seinen Lehrern überkommen hat, wie der Tischler etwa mit seiner gelernten Ausdrucksfertigkeit aus einem Baum ein Werk herstellt. Das ist ganz nüchtern gedacht – wie das geistig Bedeutende immer nüchtern gedacht ist –, aber es wäre ganz falsch, wenn wir annähmen, daß das herabsetzend wäre. Man konnte damals noch nicht Stoff, Weltbild und Gefühlsgehalt unterscheiden; und wenn die Muse etwa dem Dichter die Namen des Schiffskatalogs angibt, so ist damit in Wirklichkeit das allgemeine Bild der homerischen Welt gemeint, die völlig dichterische Schöpfung ist, eine Märchenwelt, wie es sie nie gab und nie geben konnte. Was die Muse dem Dichter gab, das war dasselbe, was nach der christlichen Anschauung der heilige Geist den heiligen Schriftstellern gab: nicht ein Diktat, sondern den ganzen Umfang der darzustellenden Masse, der nun vom Menschen nach seinen Kräften, angeborenen und namentlich erworbenen, in Worte gefaßt werden mußte. In dem Augenblick, wo man den Begriff der Genialität faßt, verschwindet der Begriff der Inspiration und des damit eng verbundenen handwerklichen Könnens und tritt an die Stelle die Virtuosität, die gesteigerte Kraft der Persönlichkeit, der Persönlichkeit, die aber doch eben immer innerhalb der menschlichen Grenzen beschlossen ist; bei der es denn schließlich auch gar nicht so darauf ankommt, was sie eigentlich leistet, ob man mit einem Tanzmeister zu tun hat, oder mit einem Dichter; bei der denn also die Gefahr der persönlichen Eitelkeit zuletzt immer naheliegen wird. In den großen Zeiten der Kunst tritt der Künstler hinter seinem Werk zurück; von den homerischen Dichtern wissen wir nicht einmal die Namen, die homerischen Gedichte sind Erzeugnisse der Dichterschulen oder besser Dichterzünfte; nun tritt der Name hervor; die Persönlichkeit – es ist ja nun wohl eben jeder Mensch eine Persönlichkeit – will sich in ihren Zufälligkeiten bemerkbar machen und ihre Eitelkeit befriedigen, indem sie sich der Mit- und Nachwelt einprägt.

Auch die Virtuosenkunst, die Kunst, welche dem heutigen Menschen eigentlich allein vertraut ist, und nach welcher er alle ältere Kunst versteht, ist ja schließlich göttlichen Ursprungs, wie es ja jeder Mensch ist, und der begabte natürlich mehr als der unbegabte. Aber das ist doch etwas wesentlich Verschiedenes von jener alten Kunst, welche das handwerksmäßige Formen eines von Gott dem Künstler in die Seele gelegten Stoffes war.

Was Gott einem in die Seele gelegt hat, das entzieht sich jeder Kritik und jeder verständigen Überlegung. Das erscheint als eine gegebene Tatsache. Der eigenen Tätigkeit unterliegt nur das Formen der Stoffe, das Handwerk, das natürliche Begabung voraussetzt, aber doch immer gelernt werden muß.

Wir haben durch die Papyrusfunde einen griechischen Dichter bekommen, einen Mann, welcher dasselbe erstrebte wie Pindar, namens Bakchylides. Dieser kann uns am besten zeigen, was mit dem Handwerk gemeint ist, denn er ist fast nur Handwerker. Er hatte seine Kunst bei einem sehr guten Meister gelernt, bei Simonides, der sein Oheim war, und er übte sie aus, wie er sie gelernt hatte; aber Pindar ist ein großer Dichter und Bakchylides nicht, denn bei Pindar kommt eben zu dem Handwerk und dem gegebenen Stoff noch die große Dichterpersönlichkeit hinzu: die ist nun aber nicht der Virtuose, der geniale Mensch, sondern der große Mensch. Nicht Genialität, sondern menschliche Größe drückt sich in den festen handwerksmäßigen Formen seiner Dichtung aus: menschliche Größe, welche imstande ist, den ihm göttlich gegebenen Stoff in ganz anderer Weise, mit gewaltigerer Kraft, zu formen als Bakchylides, der gleichfalls ein tüchtiger Handwerker war wie Pindar, aber nicht mehr.

Wenn wir uns diesen alten Begriff von Dichtung und Dichter klarmachen, dann werden wir verstehen, inwiefern die Dichtung nun neben die Religion treten kann als die Verkünderin von Zweck und Sinn des menschlichen Daseins.

Wir haben den Stoff der Dichtung, das Wort im weitesten Sinn genommen: also den Inhalt, den Gehalt, das gesamte Weltbild, die Leidenschaften, Triebe und Gedanken der dargestellten Menschen. Er wird dem Dichter durch Gott in die Seele gelegt. Sie verstehen, daß wir hier an das tiefste Geheimnis des künstlerischen Schaffens rühren, das nicht zu erklären und nicht mitzuteilen ist. Wir erinnerten uns an die alten theologischen Inspirationstheoretiker, die ausdrücklich betonen, man dürfe sich die Inspiration nicht vorstellen, als ob der heilige Geist gewissermaßen diktiere; sondern es handelt sich darum, daß die Männer ganz in Gott gelebt haben. So flüstert auch die Muse nicht dem Dichter Verse ins Ohr: die Verse hat er nach seiner Kunstfertigkeit selber zu machen; aber seine Sinne, seine Gefühle, sein Erleben, sein Denken sind so, daß in ihm sich eine neue Weit bildet, eine Welt, die nichts zu tun hat mit der bisherigen Welt, die ihm selber zunächst vielleicht unverständlich ist, die bewirkt, daß er sich von den anderen Menschen trennen muß, weil er mit ihnen nichts mehr gemein hat, die ihm erst allmählich klar wird als eine göttliche Offenbarung, als eine Verpflichtung, vielleicht sogar als eine Last. Jedes Bild ist trügerisch, wie ja auch die alten Bilder vom dichterischen Schaffen viele falsche Vorstellungen erzeugt haben; ich muß aber ein solches Bild gebrauchen, um mich annähernd klarzumachen: der ganze Mensch, der Mensch in seiner Gesamtheit, mit seinem sinnlichen Wesen von Sehen und Hören, von Rhythmus und Gefühl, mit seinem geistigen Wesen von Verstehen und Bilden, und mit seinem seelischen Wesen von Sehnsucht und Liebe – dieser ganze Mansch ist von der Hand Gottes geformt ausdrücklich zu dem Zweck, mit sich und aus sich neue reine Werke zu schaffen; was das letztere bedeutet, werden Sie verstehen, wenn Sie etwa bedenken, daß jeder Dichter seinen eigenen Rhythmus hat, daß der Jambus Goethes anders ist als der Jambus Kleists oder Hölderlins, und daß dieser Rhythmus wahrscheinlich durch das Klopfen des Blutes bestimmt wird.

Gott ist außerweltlich. Wenn wir sagen: er wirkt in der Welt, so wenden wir bereits die Form der Kausalität, die diesseits ist, auf ein jenseitiges Verhältnis an. Hier ist alles Geheimnis, jede Erklärung unzulänglich. Ich muß Ihnen aber zu erklären suchen: Stellen Sie sich vor, daß ja die ganze geschichtliche Bewegung der Menschheit die Bewegung Gottes ist; daß sie von gewissen Kraftzentren ausgeht; daß eines dieser Kraftzentren der Dichter ist.

Wir stehen im Tor zu einer neuen Zeit. Diese wird ein neues Weltbild haben, ganz verschieden von dem Weltbild der Zeit von 1600 bis 1900. Dieses Weltbild ist zunächst beschlossen in der Seele des Dichters, es muß von ihm durch handwerkliche Kunst gestaltet werden, und nun wirkt es auf die Bildung der Zeit. Vielleicht darf ich mich so ausdrücken, daß das noch unklare Zeitwollen zum ersten Male im Dichter zu Selbstbewußtsein und zu Form kommt.

Die Form gibt das Handwerk. Dieses Handwerk unterliegt nun selber ewigen Gesetzen. Schon die Tätigkeit des einfachsten Gewerbsmannes unterliegt ihnen. Wenn ein Tischler einen Tisch baut, so erzeugt er einen Gegenstand, welcher bewirkt, daß auf ihn gelegte Dinge in Handhöhe bleiben und nicht zu Boden fallen. Der Tisch wird immer Platte und Fuß haben; Platte und Fuß sind die ewigen Formen des Tisches; und keine subjektive Genialität kann es dahin bringen, daß ein Tisch je etwas anderes ist als eine Verbindung von Fuß und Platte. So ist es auch im Höchsten des geistigen Lebens. Die Formen der Dichtkunst sind ewig; sie müssen von jeder Zeit, von jedem Dichter neu erlebt werden; aber wie jeder Frühling doch immer nur wieder Blätter und Blüten bringen kann wie jeder andere Frühling vorher, so kann auch jede Zeit immer nur neue Dichtungen bringen von der Form, wie sie von allem Anfang war.

Die Form des Dramas wird bestimmt durch den Umstand, daß eine versammelte große Menschenmenge gespielten menschlichen Vorgängen auf der Bühne lauscht, durch welche eine Massenerregung erzeugt wird. Diese Massenerregung steht in innigster Verbindung mit den religiösen und sittlichen Richtungen der Zeit.

Diese religiösen und sittlichen Richtungen aber bestimmen das Wesen der Zeit. Wenn die Geschichtsperiode von 1600 bis 1900 jetzt zu Ende ist, so ist die Zeit zu Ende, in welcher die Welt als rational zu bewältigend aufgefaßt wurde, und es beginnt eine Zeit, in welcher man eine neue Auffassung der Welt haben wird. Im Drama muß diese sich zuerst kundgeben, und wenn das neue Drama von der Menge im Schauspielhaus zuerst aufgenommen wird, dann geschieht der erste Schritt zur Neubildung der Menschheit. Die Zeit ist gekommen. Unter Blut und Tränen bricht die alte Welt zusammen. Von der neuen Welt ist noch nichts zu sehen: aber sie wird gefühlt von den Dichtern und wird dargestellt in den Dichtungen, und wenn die Dichtungen erst auf das Leben wirken werden, dann werden die ersten Grundsteine gelegt werden zu dem neuen Bau, der dann nun wieder für Jahrhunderte die Menschheit schützend umschließen wird, bis auch er zerbröckelt und in neuen Stürmen der Welt, in neuem Ringen der Dichter wieder neu gebaut werden muß – gebaut werden darf; denn unser Leben ist ja nicht ein feiges Ruhen und Genießen, es ist ein hartes Kämpfen und Arbeiten, und glücklich der Mensch, glücklich die Zeit, die am härtesten kämpfen und arbeiten dürfen.


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