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Religion

(1919, überarbeitet 1932)

Die kapitalistische Gesellschaft ruht auf der Voraussetzung, daß der eine Teil der Gesellschaft, nämlich die Kapitalisten, im Besitz der Arbeitsmittel sind und mit diesen die für die Gesellschaft nötigen Dinge durch den andern Teil der Gesellschaft, die Arbeiter, herstellen lassen. Die Arbeiter werden durch einen Geldlohn abgefunden, und die hergestellten notwendigen Dinge erhalten in den Händen der Kapitalisten die Eigenschaft von Waren: sie werden an die ganze Gesellschaft zum Gebrauch verkauft.

Bei dieser Darstellung ist zu bemerken, daß sie auf einer entschiedenen Abziehung ruht; denn erstens ist in den verschiedenen Ländern die kapitalistische Gesellschaft in verschiedenem Maße durchgesetzt, und kann völlig überhaupt nirgends durchgesetzt werden. In Deutschland sind unmittelbar kapitalistisch geordnet gewiß höchstens zwanzig vom Hundert der Bevölkerung; und zweitens würden sich, auch wenn man sich den Kapitalismus ganz durchgesetzt vorstellte, die Klassen doch nie so scharf trennen. Man könnte sich etwa einen Zustand denken, in welchem alle kapitalistischen Unternehmungen Aktiengesellschaften gehörten und die Aktien im Besitz von Leuten aus dem ganzen Volk wären: Arbeitern, Angestellten, Staatsbeamten usf. Damit wäre am Wesen der kapitalistischen Gesellschaft nichts geändert, und es würde doch nicht so sein, wie die sozialdemokratische Lehre es darstellt, daß Ausbeuter und Ausgebeutete sich gegenüberständen. Die gesellschaftlichen Verhältnisse Deutschlands vor dem Kriege näherten sich einem solchen Zustand in hohem Maße.

Die kapitalistische Ordnung der Gesellschaft ist in Wechselwirkung verbunden mit der gegen früher außerordentlich gestiegenen Produktivkraft der Arbeit. Diese hat zur Voraussetzung das Zusammenarbeiten vieler und die Verwendung der Maschinen. Beides ist nur möglich bei Kapitalismus, wenn der Besitzer des Kapitals (Maschinen, Rohstoffe usf.) die Leute für sich arbeiten läßt; oder bei Sozialismus, wenn das Kapital den Arbeitern gehört, die in Produktivgesellschaften zusammengeschlossen sind; oder bei Kommunismus, wenn die Gesamtheit des Volkes, die immer als Staat geordnet sein muß, das Kapital besitzt und nun durch ihre Beauftragten die Arbeiten befiehlt und leitet.

Die Unmöglichkeit des Sozialismus hat Marx in seiner Schrift gegen Proudhon nachgewiesen. Seine Beweisführung ist nicht durchaus ehrlich; es ist wahrscheinlich, daß die Unmöglichkeit auf andre Weise nachzuweisen ist; jedenfalls behauptet niemand heute mehr die Möglichkeit, wir können den Sozialismus deshalb zur Seite lassen.

Den Kommunismus hat man in Rußland einzuführen gesucht. Seine Schwierigkeiten sind erstens, daß die Volksbeauftragten sich sofort in Wirklichkeit zu Herren machen; da diese die politische und wirtschaftliche Leitung zugleich in der Hand haben, so bedeutet das eine Unumschränktheit der Macht, welche notwendig alle andern Menschen zu Sklaven macht. Nur die Unwissenheit und Energielosigkeit des Denkens, wie sie heute stattfindet, hat diesen Umstand verbergen können; denn jeder, der mit den gesellschaftlichen Gesetzen Bescheid weiß, hat gelernt, daß die erste Regel einer gesunden Ordnung die Teilung der Gewalten ist. Die zweite Schwierigkeit ist, daß durch den Mangel des persönlichen Interesses und die bürokratische Bevormundung die Arbeitslust erlahmt und die Produktivkraft der Arbeit deshalb sofort außerordentlich sinkt: womit denn auch die Rechtfertigung der kommunistischen Gesellschaftsordnung fällt.

Man muß der Wirklichkeit nüchtern ins Auge sehen. In diesen Dingen aber lassen die Menschen sich immer durch ihre Wünsche bestimmen. Sie möchten gern das Angenehme einer Sache haben, ohne ihre unangenehmen Seiten mit in Kauf nehmen zu müssen.

Die Sache ist so: bis heute hat noch keine andre Gesellschaftsform als die kapitalistische ihre Fähigkeit erwiesen, die uns heute größtdenkbare Produktivkraft der Arbeit zu erzeugen.

Man würde die Vorgänge, welche wir heute beobachten, ganz falsch verstehen, wenn man versuchte, sie auf vernünftige Beweggründe zurückzuführen. Sie sind rein unvernünftig. Es gilt das von der Politik des Staates ebenso wie von der Politik der Klassen. Deutschland hat neben England im Mittelpunkt der kapitalistischen Weltwirtschaft gestanden; seine Vernichtung muß eine solche Erschütterung dieser Wirtschaft erzeugen, daß auch die andern Staaten zugrunde gehen müssen. Es kommen dazu die Erfindungen, an denen heute gearbeitet wird, welche die Grundlagen des Bestehenden zerstören müssen. Wenn man erst durch drahtlose Strahlen aus der Ferne Sprengstoffe zur Explosion bringen kann, dann ist der ganze heutige Militarismus unmöglich; und wenn man erst den Atomzerfall ausnutzen kann, dann ist ein sehr großer Teil der heutigen Arbeiter überflüssig. Man darf also, was die Menschen heute bewußt wollen, nicht als etwas betrachten, das an und durch sich verständlich ist; sondern man muß es auffassen als einen Teil eines großen Vorgangs der Umbildung der Menschheit zu etwas anderem. Die bewußten Ziele sind unvernünftig. Aber die Ergebnisse werden in derselben Richtung liegen wie die Ergebnisse anderer Bewegungen, die nichts mit ihnen zu tun habe«.

In engem Zusammenhang mit der kapitalistischen Gesellschaftsordnung steht die außerordentliche Entwicklung der Wissenschaft. Sie hat den heutigen Menschen eine Geistesverfassung verliehen, wie sie noch nie auf der Welt war, wie sie auch nie wieder sein wird. Wir leben heute in ihr, deshalb erscheint sie uns als die natürliche Verfassung des menschlichen Geistes; aber indem jetzt vor unsern Augen die alte Welt zusammenbricht, beginnt es uns zugleich klar zu werden, daß diese Verfassung für die neuen Aufgaben nicht mehr genügt, die uns von heute an gestellt werden.

Die Geistesverfassung, von der hier die Rede ist, will sich alles Geschehen durch ursächliche Beziehungen erklären und dadurch beherrschen. Sie hat das bis heute gekonnt. Aber wir sehen, wie heute das Geschehen nicht mehr vernünftig beherrscht wird. Jene Herrschaft des Verstandes, an die wir bis nun geglaubt haben, war nur eine Selbsttäuschung. Die Macht, welche hinter den menschlichen Ereignissen leitend steht, bediente sich des Verstandes für ihre Zwecke; und so lange diese Zwecke die alten waren, konnte man deshalb glauben, daß der Verstand herrschte, konnte man vergessen, daß er nur ein Mittel war, durch welches jene Macht ihre Herrschaft ausübte. War nicht der Krieg schon ein Wahnsinn? Alle Staatsmänner haben gewußt, daß er zum Zusammenbruch der bestehenden Ordnung führen mußte, alle haben sich vor ihm gefürchtet; dennoch ist er gekommen; nicht die Menschen mit ihren verstandesmäßig gewonnenen und bewußten Zielen machen die Geschichte, sondern eine Macht, welche die Menschen mit ihren Zielen nur benutzt für Zwecke, welche die handelnden Menschen nicht kennen.

Bei allen Völkern findet heute eine Abkehr von der bisherigen Betrachtung der Dinge statt und eine Rückkehr zu religiöser Erfassung der Welt. Mag diese religiöse Erfassung oft noch mangelhaft sein es ist ihre Natur, daß sie das sein muß – sie ist ein Zeichen dafür, daß die Zeiten sich ändern.

Ein Vergleich wird am besten deutlich machen, wie wir die Vorgänge auffassen müssen.

Die Larve des Eichenbocks lebt im Baumstamm jahrelang. Sie hat ein sehr hartes Gebiß, durch das sie sich im Holz weiterfrißt. Der Käfer hat nicht die Werkzeuge, um sich durch das Holz zu fressen. Wenn die Larve spürt, daß ihre Verwandlung naht, dann frißt sie sich in die Richtung nach außen und bleibt dann mit einem ganz dünnen Plättchen Holz vor sich. Dieses kann nach der Verwandlung der Käfer mit seinem harten Schädel leicht durchstoßen.

Die Larve weiß nichts vom künftigen Käfer, sie kann also nicht zweckbewußt handeln. Sie handelt instinktmäßig. Aber wie sie diesen Instinkt bekommen hat, das kann kein Mensch erklären, denn der Unsinn der etwaigen darwinistischen Erklärung, daß alle die Larven, die sich nicht nach außenhin fressen, zugrunde gegangen sind, leuchtet doch ein. Unsre Vorfahren sagten: »Gott hat das Tier so geschaffen, daß es diesen Instinkt hat.« Nun, eine Erklärung ist das gewiß nicht; aber es ist doch das einzige, das wir sagen können: Gott hat das Tier so geschaffen.

Wenn vor unsern Augen durch Gier, Dummheit, Feigheit, Gedankenlosigkeit, Lüge und Schurkerei der Menschen die alte Gesellschaftsordnung zusammenbricht, dann können wir auch nichts weiter sagen, als was unsre Vorfahren sagten: »Gott führt die Menschen nach seinem Willen.« Eine Erklärung ist das gewiß nicht. Aber wenigstens sehen wir dann ein, daß die Ziele und Zwecke der gierigen, dummen und feigen Massen von heute Unsinn sind. Wir sehen ein: Keine Wissenschaft kann uns das Furchtbare erklären, das vor unsern Augen geschieht, daß die Menschheit sich selber zerstört; keine Wissenschaft kann uns also einen Rat geben, wie wir der Menschheit in dieser verzweifelten Lage helfen können.

Was bedeutet das nun, wenn wir sagen: Gott führt die Menschen nach seinem Willen?

Wir wissen nichts von Gott. Die Jahrhunderte, in denen die Wissenschaft herrschte, haben nun jedenfalls das eine gelehrt, daß es für die Wissenschaft keinen Gott gibt. Das ist ja nun freilich eine Selbstverständlichkeit, die man nicht so stark zu betonen brauchte: denn da die Wissenschaft nichts ist als das Netz der kausalen Beziehungen, das Wesen Gottes aber gerade darin besteht, daß er außerhalb der kausalen Beziehungen ist, die ja doch durch die Notwendigkeiten unseres Denkens erzeugt werden; so gibt es natürlich in der wissenschaftlich erforschten oder noch zu erforschenden Welt keine Stelle für Gott.

Der Satz ist eine Selbstverständlichkeit. Aber die Feigheit der Menschen bewirkt, daß sie diese Selbstverständlichkeit immer wieder vergessen. Erkennen können wir nur durch unsern Verstand. Unser Verstand kann nur mit seinen angeborenen Formen erkennen. Diese aber sind eben so wenig geeignet, Gott zu sehen, wie unsre Augen geeignet sind, die ultravioletten Streifen des Spektrums zu sehen.

Aber wie wir das Dasein der ultravioletten Streifen wissen können dadurch, daß wir außer unsern Augen noch unsern Verstand haben; so können wir auch wissen, daß eine Macht ist, welche wir mit dem Wort Gott bezeichnen. Ein Mann, der rechtschaffen gelebt hat, so daß er nicht feige sich eine jenseitige Verantwortung seiner Taten hinweglügen muß; der mit klarem Verstand die Dinge des Lebens und der Welt anschaut und mit gesunder Vernunft sich ordnet: ein solcher Mann weiß, daß Gott ist.

Aber als Wissen kann er nicht mehr haben als das eine: Gott ist. Niemals kann er über Gott etwas wissen, denn seine Werkzeuge sind ja nicht dazu geschaffen, Gott zu erkennen. Wenn er ehrlich und rechtschaffen ist, dann wird er diese Werkzeuge zu dem gebrauchen, zu dem sie gebraucht werden können, nämlich zu der wissenschaftlichen Erkenntnis; und in der wissenschaftlichen Erkenntnis gibt es keinen Raum für Gott.

Wir müssen nun unsre Frage von einem andern Standpunkt aus betrachten: vom einzelnen Menschen aus, der wissen will, wie er leben kann.

Was bedeutet es, wenn ein Mensch sagt: »Die Geschicke der Menschheit liegen in Gottes Hand«? Wir brauchen einen solchen Mann nur mit einem Ungläubigen zu vergleichen, um das zu sehen: es bedeutet, daß dieser Mann Zuversicht und Hoffnung hat, daß er nicht verzweifelt ist, sondern der festen Überzeugung an einen guten und vernünftigen Ausgang lebt. Vom Menschen aus betrachtet ist der Glaube an Gott das Zeichen einer gesunden, kräftigen und mutigen Natur. Durch seine Aussage ist nicht bewiesen, daß Gott wirklich ist; es ist aber bewiesen, daß er selber nicht zugrunde gehen will.

Denken wir nun daran, daß wir nur wissen: Gott ist; aber nicht wissen: was ist Gott. Wir werden dann sofort verstehen, daß Gott für jeden ein anderes ist; daß jeder aus seinen geistigen Kräften, die er außer den Kräften seines Verstandes hat, sich selber ein Bild von Gott macht, an das er nun glaubt; ein Bild, das natürlich ihm und seinen Fähigkeiten angemessen ist.

Die Wissenschaft zeigt uns, daß die Menschen sich immer ihre Götter gemacht haben nach ihrem eignen Bilde: von dem rohesten Wilden an bis zum höchsten Geist der Menschheit. Natürlich muß das so sein. Es ist nichts anderes, als wie sie sich ein Bild vom Himmel machen nach ihren Fähigkeiten: als gespanntes Zelt, als Aufenthalt der Seligen, als Weltunendlichkeit. Der Himmel wird ewig derselbe sein; so ist auch Gott ewig derselbe. Aber das Bild, das der Mensch sich macht, wechselt immer nach dem Menschen. Mit andern Worten: immer wird dem Menschen das als Gott erscheinen, was er als Höchstes will – wie Meister Eckehart sagt, daß der Mensch sich vergotten muß. Das ist der Zustand, vom einzelnen Wünschen aus gesehen.

Das meiste Unglück geschieht durch das unrichtige Denken der Menschen. Das hat aber seinen letzten Grund in Faulheit, Feigheit und Kraftlosigkeit. Weil sie faul, feig und kraftlos sind, deshalb denken die Menschen, es müsse irgendwo und irgendwie eine feste Wahrheit geben, die in Worte gefaßt werden und ihnen übergeben werden kann; sie brauchen sie dann nur anzuhören, und dann ist alles gut. Das ist eine ähnliche Vorstellung, wie sie der Kranke hat, daß es für seine Krankheit irgendeine Medizin gibt, die ihm der Arzt verschreibt, und die er dann nur einzunehmen braucht, um gesund zu werden. Aber Gesundheit gewinnt man nicht durch einen Trank; sie ist das Ergebnis eines sittlichen und vernünftigen Lebens bei einem Menschen von guter Anlage. So gibt es auch keine Wahrheit, die einem mitgeteilt werden kann; sondern es ist nur ein sittliches und vernünftiges Leben bei Menschen von guter Anlage möglich.

Das ist eine Einsicht, die jeder hat, der das, was wir Wahrheit nennen, wirklich erlebt. Jesus sagt: »Folget mir nach, so werdet ihr gerettet werden«; er sagt also ausdrücklich, daß er nicht eine Wahrheit mitteilt, sondern daß er sein Leben lebt, welches nun eben für die andern Menschen vorbildlich werden kann. Aber sobald auf ihn eine Kirche gegründet wurde, da wurde auch eine feste Wahrheit gefunden, die einem gelehrt wurde, außer der es nur Lüge gab, und welche den, der an sie glaubte, selig machen sollte. Die Faulheit, Feigheit und Kraftlosigkeit der Menschen hat also das genaue Gegenteil von dem erzeugt, was Jesus wollte.

Wir müssen festhalten: Gott ist. Aber niemals werden wir wissen, wie und wer Gott ist; denn all unser Wissen ist notwendig eingespannt in die Formen unserer Vernunft. Wir wissen ebenso, daß die Welt ist. Aber wie und was die Welt ist, das werden wir aus demselben Grunde nie wissen. Licht, Schall und Elektrizität sind Schwingungen, die sich nur durch ihre Zahlen unterscheiden. Was ich als strahlende und tönende Welt wahrnehme, das kommt mir nur zum Bewußtsein als solche, das ist nicht die Welt. Aber wenn ich nun glaubte, daß die wahre Welt die Schwingungen sind, dann würde ich mich ebenso täuschen. Meine Vernunft kann sich kein Geschehen vorstellen ohne ein Subjekt; wir müssen zu den Schwingungen notwendig uns den Äther vorstellen, der schwingt; und die Welt, die wir bilden als Ätherschwingungen, ist nicht wahrer als die Welt, in welcher Baum und Strauch, Sonne und Meer, Blitz und Donner sind. Wir können immer nur sagen: Die Welt ist – wir sind uns klar dabei, daß wir auch in diesem Satz schon nicht eine Wahrheit ausdrücken, wie wir es nennen, denn »Welt« und »Sein« sind nur Schöpfungen unserer menschlichen Vernunft – aber wir können nie sagen, wie und was die Welt ist. So können wir auch immer nur sagen: Gott ist. Und auch bei diesem Satz sind wir uns schon klar, daß »Gott« und »Sein« Schöpfungen unserer menschlichen Vernunft sind, daß wir mit den Worten nicht Dinge ausdrücken, wie der kindliche Mensch meint; auch nicht einmal dinglose Beziehungen, wie der Denker annimmt, sondern nur eine Ahnung mitteilen.

Wir müssen auf der anderen Seite festhalten: Gott wird von jedem Menschen im Lauf seines Lebens – eines sittlichen und vernünftigen Lebens – geschaffen; geschaffen nicht als ein außerhalb dieses Menschen stehendes Wesen; sondern wenn ein solcher Mensch nun am Ende seines Lebens steht, dann sieht er ein: Gott war eben das Wesentliche dieses Lebens selber.

Dieses zweite ist wohl viel schwerer zu verstehen als das erste. Wir müssen vergessen, daß Gott ein Ding ist, wie etwa der Mensch: denn die Dingheit ist ja nur eine Form unserer Vernunft, unter der wir uns vorstellen. Wir müssen auch nicht glauben wollen, daß wir klüger sind, wenn wir die Dinge in Beziehungen auflösen; nur: wir können nicht anders sprechen. Wir müssen sagen: Gott ist ein Vorgang an uns; und wir müssen wissen, daß wir da ebenso in den Grenzen unserer Vernunft etwas ausdrücken, das jenseits dieser Grenzen liegt, als wenn wir sagen: Gott ist.

Also einerseits: Gott ist; andererseits: Gott ist ein Vorgang an uns. Das eine ist von der Welt aus gesehen, das andere vom einzelnen Menschen aus. Dies Einerseits und Andererseits muß nun zusammenkommen.

Daß das zusammenkommt, ist für uns schwerer, wie für unsere Vorfahren; denn bei denen geschah das unbewußt, mythisch, bei uns muß es bewußt geschehen. Aber wenn bei uns das Zusammenkommen geschieht – nicht für einen Einzelnen: denn der bedeutende Einzelne findet immer Gott; nur dadurch ist er ja ein bedeutender Mensch, daß er Gott findet – bei einem größeren Kreis von Menschen, welcher dadurch aus der Dichtigkeit und Verzweiflung des heutigen Lebens gerettet wird; dann ist der Vorteil, daß hier etwas Dauerndes geschaffen ist.

Ein solches Zusammenkommen war etwa die christliche Kirche. Aber in ihr geschah es mythisch; das heißt, was nicht verstandesmäßig ausgedrückt werden kann, weil es über die Grenzen unserer Vernunft geht, das wurde durch Bilder ausgedrückt, die nun aber nicht als Bilder gemeint waren, sondern als glatte Wahrheiten angenommen wurden. Dadurch war es auf der einen Seite zwar möglich, daß die große Menge, welche immer faul, feig und kraftlos ist, Religion bekam, freilich nur Religion, die ihr angemessen war, indem sie diese Bilder von Gott, Auferstehung, Jüngstem Gericht und anderem als Wahrheiten auffaßte, von deren gläubiger Annahme ihre Seligkeit abhinge; und gewiß ist ein solcher Zustand für die große Menge besser gewesen, als wenn sie gar nichts gehabt hatte, an das sie sich halten kann, wie das heute der Fall ist. Aber indem der fortschreitende Verstand die Widersprüche in diesen Bildern aufwies und endlich zeigte, daß sie überhaupt nur Erdichtungen sind und nicht Wahrheiten, wie man früher glaubte, wurden die Menschen nun mißtrauisch gegen die Religion überhaupt, und es kam der fürchterliche Zustand von heute: daß nur noch der allerhöchste Geist an Gott glauben kann und alle anderen Menschen, auch viele Gute, nicht mehr glauben. Denn wenn unsere Vernunft auch nur ein kleines Licht ist in dem ungeheuren Raum der Welt, das kaum einen Kreis erhellt, der nur etwas über unsere Füße hinausgeht: sie ist das einzige, das wir haben, um von der einen Seite unser Leben zu bewältigen; Gott ist über die Vernunft, aber nie ist er gegen die Vernunft.

In derselben Lage, in welcher sich heute die Völker der europäischen Kultur und Zivilisation befinden, waren die Inder, als der Buddhismus Wurzel faßte. Der ist nicht Religion, ist aber eine Lebensbetrachtung, welche die Religion für viele hochstehende Menschen ersetzt und verträglich ist mit religiösem Glauben, in welchem niedriger begabte Manschen bildmäßig und mißverstanden das Höchste aufnehmen. Er kann dadurch Religion ersetzen, daß er den Wünschen die Wertlosigkeit der Welt klar macht, indem er sie als bloße Erscheinung nachweist. Wer das begriffen und in sein Wesen aufgenommen hat, der ist gegen die Verführung gefeit, als ob den Freuden der Welt eine Bedeutung zukomme; der unterliegt vor allem nicht mehr der Gier, welche heute die Menschen beherrscht und sie unglücklich macht, und in den heutigen politischen Theorien eine Fassung erlangt hat, die zum Weltzusammenbruch führen kann. Der Buddhist macht also seine Seele frei. Aber mehr als ein Ersatz der Religion ist das nicht, denn in die freigewordene Seele müssen nun die neuen, göttlichen Inhalte kommen. Die können aber bei ihm nicht kommen, denn er hat zwar eingesehen, daß alles ursächlich verbunden ist; er weiß aber nicht, daß auch diese Einsicht wieder nur eine Form unserer Vernunft ist, neben der andere Formen ebenso berechtigt sind, wie etwa die Einsicht, daß alles zweckmäßig geordnet ist. Er ist auf dem halben Wege zur Religion stehen geblieben.

Die Aufgabe, welche der Menschheit heute gestellt ist, lautet: Wie kann man einer großen Gemeinschaft das übermitteln, was Jesus gelebt hat, was die Wenigen in den Jahrhunderten, die ihm nachfolgten, erreicht haben; ohne daß eine Leichtgläubigkeit oder ein Aberglauben wichtige Kräfte der Menschen unterdrückt; aber auch ohne daß Menschen, welche glauben, daß sie ein Wissen von den höheren Dingen haben, das in diesen Bemerkungen als unmöglich behauptet ist, zurückgestoßen werden? Denn wir müssen immer wissen, daß unsere Vernunft nie über ihre Grenzen gehen kann, daß von niemandem also verlangt werden darf, er soll Dinge für wahr halten, die jenseits dieser Grenzen liegen oder gar der Vernunft widersprechen; daß unsere Vernunft aber nicht notwendig unsere einzige Erkenntnisquelle sein muß, und daß es also nicht unmöglich ist, wenn Menschen von jenseitigen Dingen Wissenschaft zu haben behaupten durch andere Kräfte.

Mit anderen Worten: die jenseitige Welt ist vorhanden. Sie ist sogar sicherer als die diesseitige Welt, die nur Erscheinung ist, von uns selber geformt. Wir selber sind ein Teil der jenseitigen Welt. Wir leben tatsächlich in ihr, und unser Leben im Diesseits ist nur Schein. Es wäre merkwürdig, wenn nicht immer und überall das Jenseits das Diesseits durchbrechen würde. Es ist denkbar, daß es Menschen gibt, bei denen gewisse Fähigkeiten, die alle Menschen haben, besonders ausgebildet sind, so daß sie von diesem Durchbrechen mehr verspüren als andere. Deshalb wäre es unfromm, wenn man solche Menschen abwiese. Aber allgemein menschlich haben wir nur unsere Vernunft; was viele Menschen einen soll, das muß innerhalb der Grenzen des allgemein Menschlichen liegen, das darf nicht widervernünftig sein, das darf auch nicht Übervernünftiges als allgemein gültig hinstellen.

Ein Einzelner erlebt das, daß für ihn zusammenfällt: Gott ist, und: Gott ist ein Vorgang an uns. Nie kann das eine Gemeinschaft aus sich heraus erleben. Das ist, wie wenn ein großer Künstler ein Kunstwerk schafft, ein Herrscher einen Staat oder eine Kirche gründet. Nie kann eine Gemeinschaft das: aber wenn das Kunstwerk da ist, wenn der Staat oder die Kirche geschaffen ist, dann kann sie es miterleben. Religion ist zunächst das Erleben eines gottbegnadeten Einzelnen: unsere Vorfahren sagten, daß sich Dem Gott offenbare, daß er selber Gott sei. Nichts weiter ist sie zunächst. Aber eine Gemeinschaft kann der Gnade, welche diesem Einzelnen zuteil wurde, teilhaftig werden, wenn sie ihm nachfolgt; diese Nachfolge geschieht durch den Glauben. Der Begriff des Glaubens ist durch den Gebrauch der Kirche verwässert. Sie behauptet zwar, der Glaube sei kein »bloßes Fürwahrhalten«, in der Wirklichkeit aber handelt sie so, als ob er das sei, indem sie den Glauben an ihre Dogmen verlangt. Der Glaube ist überhaupt kein Fürwahrhalten. Er ist die Verbindung mit Gott, vom Menschen aus gesehen, wie es die Gnade ist, von Gott aus gesehen. Diese Beziehung kann unmittelbar sein oder mittelbar. Die christliche Religion hat Jesus als Mittler. Aber es sind noch andere Mittler möglich: für den Einen mag es die Kunst sein, für den Anderen die Philosophie, für den Dritten ein großer Mann, für den er gerade Verständnis hat durch seine Veranlagung: Alles, was uns zu Gott führen kann, das ist ein Mittler zwischen Gott und Mensch.

Aber wenn das so ist: wie unterscheiden wir die Verführer der Menschheit von den Mittlern? Man kann sich über die Schranken der Kirche, aller Kirchen, ganz klar sein; man muß aber einsehen, daß sie immer eine große Aufgabe erfüllt haben: die Menschheit vor den falschen Propheten zu schützen. Man glaubt heute, daß die Kirchen bei der Erfüllung dieser Aufgabe oft auch den höhern Geistern, denen, welche über ihre Schranken hinausgingen, eine Wirkung auf die Menschen unmöglich gemacht haben. Sei das nun wirklich so, oder mag das eine zeitbedingte Ansicht sein: jedenfalls war die Kirche ein Schutz gegen die verführenden Geister. Was können wir heute als Schutz haben, woran können wir erkennen, daß ein Glauben an jemanden oder an etwas ein rechter Glaube ist, der zu Gott führt? Nur eine Antwort gibt es auf diese schwere Frage: Religion ist nicht eine Lehre, die man überkommt; ein Wissen, das man sich einprägt; ein Leben in einer Gemeinschaft, die einem die Arbeit des selbständigen sittlichen Forschens abnimmt: sie ist ein Vorgang des Lebens selber. In seinem Herzen hat jeder seinen Richter, das ist sein Gewissen; auf das muß er hören, und dessen Stimme ist untrüglich. Aber freilich: Faulheit, Feigheit und Kraftlosigkeit bewirken, daß die Menschen auch ihr Gewissen überlügen. Deshalb weiß niemand, ob er wirklich in der Wahrheit ist, wenn er nicht täglich, stündlich sich mit tiefem Ernst prüft, ob er sich auch nicht belügt. »Schaffet, daß ihr selig werdet, mit Furcht und Zittern«, heißt es in der Bibel. Das Wort mußt du verstehen. Es ist ein witzig zugespitztes Wort. Die Seligkeit ist nicht etwas nach dem Tode, es ist dein Leben hier auf Erden. Du hast sie, wenn du den rechten Glauben hast. Mit Furcht und Zittern mußt du schaffen, daß du ihn hast; mit Furcht und Zittern nicht etwa vor Hölle oder Verdammnis, sondern davor, daß du dich belügst. Und dann hast du nicht etwa einen Besitz, sondern stündlich mußt du deine Seligkeit wiedererwerben.

Wir kommen hier an die größte Schwierigkeit für das Durchdringen Gottes im menschlichen Leben.

Wenn wir nüchtern und mit wissenschaftlichem Blick die gesamte Welt überschauen, indem wir nicht in Teilen hängen bleiben, dann sehen wir ein allgemeines Ineinandergreifen aller Erscheinungen. Wir wollen uns hüten, weiterzugehen; denn wenn wir mehr sagen, etwa von Zwecken sprechen, so bringen wir schon begrenzte menschliche Betrachtungen in Unbegrenztes, denken wir also schon falsch. In der belebten Natur nehmen wir bei diesem Ineinandergreifen nach unseren Denknotwendigkeiten immer einzelne Willensvorgänge an; diese werden, wie wir uns ausdrücken, durch den Instinkt geleitet.

Der dieses sagt, ist ein Dichter, der sein ganzes Leben lang sich bemüht hat, die Gesetze des menschlichen Handelns zu erkennen. Nun, er hat als Ergebnis gefunden, daß das menschliche Handeln nur dadurch vom tierischen Handeln unterschieden ist, daß es mit dem Bewußtsein der Willensfreiheit vor sich geht. Mit diesem aber ordnet es sich genau so in das allgemeine Ineinandergreifen der Welt ein, wie das Instinkthandeln der Tiere.

Das ist ein Widerspruch, der nicht zu lösen ist, der dadurch entsteht, daß wir denselben Vorgang von zwei verschiedenen Ebenen aus betrachten. Wir können sagen: Von uns aus betrachtet, geschehen unsere Handlungen frei, von Gott aus betrachtet, geschehen sie unfrei. Von uns aus betrachtet, sind wir für jede unserer Handlungen verantwortlich, für das Aufblitzen des flüchtigsten Gedankens, das Aufschimmern des leichtesten Gefühls; von Gott aus betrachtet, sind wir in jeder Handlung nur Gottes Werkzeug, auch in den längstgehegten Plänen, in den Ergebnissen der sorgfältigsten Überlegung und Prüfung. Je bedeutender ein Mensch ist, desto umfassender ist sein Verantwortlichkeitsbewußtsein, und bei dem allerhöchsten ist es so, daß er die Schuld der ganzen Welt trägt: und er weiß zugleich, daß nicht ein Sperling vom Dache fällt ohne den Willen Gottes.

Der Punkt nun im Menschen, in welchem diese beiden, sich ausschließenden Gegensätze zum Austrag kommen, ist das Gewissen.

Stellen wir uns die Unendlichkeit der Welten vor mit ihrem Kreisen und Wirbeln der Sterne, und der Elektronen, welche im Atom kreisen und uns die Vorstellung des festen Stoffes erwecken. Machen wir uns klar, daß vom Größten bis zum Kleinsten hinab alles ineinandergreift: die Hummel, welche im Löwenmaul Honig sucht und es befruchtet; der Atomzerfall, welcher das Atmen der unbelebten Welt ist; die Gestirne, die nach den Gesetzen der Himmelsmechanik sich bewegen und die letzte Alge wachsen oder sterben lassen in einer Räderspur im Hohlweg; mein eigenes Leben, wunderbar geführt und stolz gewollt – ist da nicht das ganze All ein einziges Lebewesen? Es ist ja meine Vorstellung, gebildet durch die Formen und Kräfte meiner Vernunft; aber ich selber mit meiner Vernunft bin doch wieder ein Teil dieses Alls. Nur in meinem Geiste lebt das All; aber ich selber gehöre doch auch zu ihm, ich selber mit meinem Traum, daß ich ein Ich bin, das eine Vorstellung hat, und daß noch andere Dinge sind, die ebenso Ich sind.

Wir können nicht heraus aus uns und der Welt, die wir beide selber geschaffen. Wir müssen Welt und uns annehmen, wie unsere Vorstellung ist: als aufrecht gehende Menschen, Sonnenschein und Singen der Vögel, oder als Schwingungen des Äthers, nur unterschieden durch Länge und Kürze. Nun, dieses All muß doch ein Lebewesen sein; wir sind nur ein Teil von ihm und unser Selbstbewußtsein ist nur eine besondere Vorstellung dieses Teils. Wir können dieses All »Welt« nennen; aber wenn es uns gelingt, daß wir uns vorstellen, wie wir außerhalb des Alls stehen würden, dann müßten wir es Gott nennen. Das ist nicht Pantheismus. Der Pantheismus setzt den Glauben an Dinge und ihre Eigenschaften voraus. Aber schon können wir uns das All als einen Vorgang denken. Kann da Gott noch ein Ding sein mit Eigenschaften?

Betrachten wir nun uns und unser Handeln vom Standpunkt dieses Gottes aus. Wir sind Glieder dieses Gottes, die er gebraucht zu seinen Zwecken, in ihm selber beschlossen und uns ewig unerkennbar. Wir handeln frei; wir sind schlecht und gut, sittlich und unsittlich nach unserem Willen; in Gott aber ist der Gute ebenso notwendig wie der Schlechte.

Wie nun, beide sind in Gott, der Gute wie der Schlechte; beide werden von Gott getrieben und müssen Gottes Zwecke erfüllen; ist da für Gott denn ein Unterschied? Beide sind ihm nötig, deshalb läßt er regnen auf Gerechte und Ungerechte.

Die christliche Religion lehrt ein Jenseits mit Lohn und Strafe. Wir können nichts wissen vom Jenseits. Wenn wir sterben, dann ist unser Erdendasein zu Ende. Wir wissen, daß die früheren Vorstellungen von Seele und Körper kindlich sind; aber kein Mensch, der eine lebendige Seele hat, wird glauben, daß der Tod ein Abschluß ist; er weiß, der Tod ist nur ein Einschnitt. Wie? Mit den engherzigen Begriffen von Lohn und Strafe soll ich das verstehen? Wenn ich als menschlicher Richter auf dem Stuhle sitzen und aburteilen sollte, ich könnte es nicht. Ein Erbarmen mit den unglücklichen Schlechten würde mich halten. Sollte Gott geringer sein als ein Mensch?

Ein Jenseits, das vom Diesseits verschieden ist, und Lohn und Strafe sind nur menschliche Bilder, und zwar Bilder, die der heutige Mensch nicht mehr annehmen kann. Die Zeit ist nur eine Anschauungsform unserer Vernunft. Für den, der an Gott glaubt, gibt es also keine Zeit, gibt es kein Diesseits und Jenseits; und nicht Lohn und Strafe stehen in Beziehung zu Gut und Böse, sondern Seligkeit und Unseligkeit.

Und hier ist der Punkt, wo wir das Gewissen endlich verstehen können, die am schwersten verständliche von unseren Kräften. Als Jesus ans Kreuz geschlagen wurde, da sagte er: »Herr, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.« Er lächelte wohl, als er das sagte, denn das ist ja doch witzig gesagt. Dieses Wort sagen zu können, das ist Seligkeit.

Denken wir uns das Leben als das Gehen auf einer langen Straße. Wenn uns die Straße höher führt, aus Staub und Dunst der Ebene in frische, klare Luft der Berge, in der unsere Lungen frei atmen und unser Gang beschleunigt und leicht wird: dann sind wir zu einem seligen Leben gelangt. Viele, die meisten, führt die Straße nicht höher, sie keuchen in Hitze, Staub und Dunst, sie kommen nicht zu Seligkeit. Das eine ist nicht Lohn, das andere nicht Strafe; sondern der eine geht nun einmal auf solcher Straße und der andere auf solcher.

Auf unseren Weg hat uns Gott gestellt. Wenn einer am Kreuz sagen kann: »Herr, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun«, dann kann er lächeln; er ist innerlich ganz ruhig; sein Gewissen sagt ihm nichts. Aber dem anderen, der in der Ebene geht, klagen die Gedanken sich gegenseitig an und verurteilen sich, es arbeitet in ihm beständig Lüge und Gewissen. Wie viele der Menschen, die sich für sittlich halten und über andere aburteilen, leben in der Lüge des Gewissens: Glaube keinem, der nicht heiter ist, der unruhig ist, der geschäftig ist, der klagt, der mit Gewalt ein Himmelreich auf Erden schaffen will, wo es kein Unrecht mehr gibt und alle Menschen glücklich sind: Diese alle sind Lügner.

Der Mensch ist frei von sich aus, von Gott aus ist er unfrei. Gott hat gewählt für ihn bei seiner Geburt, welchen Weg er gehen soll: den Weg des Guten, der zu Heiterkeit und Freiheit führt, oder den Weg des Schlechten, der zu Qual, Lüge und Aufgeregtheit geht.

Dieser Gedanke ist für die heutigen Menschen schwer zu verstehen; denn sie sind religionslos und haben nun Gutmütigkeit, Feigheit und Faulheit an die Stelle des ruhigen und klaren Fühlens gesetzt. Der Gedanke der Gnadenwahl scheint den Menschen heute grausig. Unsere Vorfahren haben an sie geglaubt. Sie haben an sie geglaubt in Verbindung mit dem Gedanken an das Jenseits, in dem es Lohn und Strafe gibt, also in Verbindung mit dem Gedanken an die ewige Verdammnis. Sie waren ehrlich und dachten ihre Gedanken zu Ende. Wir heute wissen, daß wir schon hier in Dem leben, was unsere Vorfahren die Ewigkeit nannten; daß das, was sie Hölle und Himmel nannten, schon die Umwelt der Menschen im Diesseits ist: daß der Sohn Gottes am Kreuz im Himmel lebt und Judas in der Hölle. Das ist doch so. Wir sehen es doch täglich, daß es so ist; nur darin irrten unsere Vorfahren, daß ihnen die Zeit als Anschauungsform der menschlichen Vernunft noch nicht klar geworden war.

Diese Worte sind eine frohe Botschaft. Aber sie sind das nur für die, welche sie vernehmen können. Die Schlechten können sie nicht vernehmen. Es kann sich jeder nur selber helfen, und wem, wenn er diese Worte hört, nicht ist, als ob er das selber schon längst weiß, der gehört zu den Unruhigen und Unglücklichen. Laß dich nicht verführen durch Gutmütigkeit, Mensch. Du hast Gott nicht zu rechtfertigen, du hast auch nicht mit ihm zu rechten. Du bist verantwortlich so weit, wie du dich verantwortlich fühlst: aber die erste Verantwortlichkeit ist die für dich selber. Schaffe, daß du selber ein guter Mensch wirst, schaffe das mit Furcht und Zittern.


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