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Neuer Glauben

(1911)

Wenn man das neunzehnte Jahrhundert im ganzen überblickt, so muß man sagen, daß es irreligiös war; Versuche romantischer Erneuerung alter Religiosität fanden zwar in den führenden Kreisen der Zeit statt, aber schon die Gleichzeitigen erkannten, daß es sich hier nicht um ernste Dinge handelte, sondern um eine Art von Spiel. Im Grunde war das neunzehnte Jahrhundert, wie das achtzehnte, intellektualistisch und optimistisch: es vergrößerte und organisierte unser Wissen, und indem es die Interessen des Erwerbs zur Herrschaft brachte, erzeugte es ungeahnte äußere Leistungen der Menschen, damit einen neuen großen Reichtum in den bürgerlichen, ein bis dahin unbekanntes Wohlleben in den arbeitenden Kreisen, und eine außerordentliche Bevölkerungsvermehrung. Wie diese Bevölkerungsvermehrung aus den weniger wertvollen Schichten des Volkes erfolgte, so geschah die äußere Entfaltung auf Kosten der höheren geistigen Leistungen; Deutschland, bis in die fünfziger Jahre hinein zurückgehalten, entwickelte sich besonders schnell in den bezeichneten Richtungen, da es so viel nachzuholen hatte; man kann sich also nicht wundern, wenn hier die dementsprechende Barbarei besonders auffällig war.

Die Kirche ordnet zwar das religiöse Leben der Völker, aber sie veräußerlicht es auch, und die natürliche Entwicklung, wenn keine Störung eintritt, geht dahin, daß zuletzt der religiöse Inhalt schwindet und nur die leere Form übrigbleibt. Irgend etwas Wertvolles steckt aber immer noch auch in der leeren Form. Wenn schon die protestantische Gestalt des Christentums längst tot ist, so ist erst recht tot die katholische Gestalt; trotzdem bricht selbst in so geringen Verfolgungen wie der Kulturkampf in Deutschland, vor kurzem das entsprechende staatliche Vorgehen in Frankreich, aus der toten Asche doch wieder eine Art religiöser Begeisterung hervor. Sie ist nur durch den Druck hervorgerufen und schwindet mit diesem: eine Bedeutung für die Zukunft der heutigen Nationen hat sie nicht. Wie tot das Christentum heute ist, das sieht man am besten an der Geschichte der Heilsarmee. Die Bewegung wird ausgezeichnet geleitet; die Mittel, durch welche man auf Menschen wirken kann, sind genial angewendet; es ist sofort ein Bevölkerungsteil erfaßt, welcher in seiner Not und Verzweiflung der Religion am zugänglichsten ist: und doch ist an Ernsthaftem nichts weiter herausgekommen wie unzulängliche soziale Versuche, denn den religiösen Erfolg kann man doch nicht ernsthaft nehmen, wenn er sich eben nur auf die Leute beschränkt, die nach ihrer inneren oder äußeren Lage jeden Strohhalm zu ihrer Rettung ergreifen.

Eine Bewegung, die im vergangenen Jahr ein gewisses Aufsehen machte, wurde dadurch verursacht, daß ein protestantischer Pfarrer Jatho in den Ruhestand versetzt wurde. Man hat die protestantische Kirche hart geschmäht wegen der »Verfolgung« des Mannes und an ihn und an die Bewegung, welche sein ja nicht so außerordentliches Martyrium hervorrief, gewisse Erwartungen geknüpft.

Der Protestantismus ist entstanden ans der religiösen Freiheit des Einzelnen, genau so wie das Christentum überhaupt; noch heute behauptet er die Lehre von dem Laienpriestertum. Indem er sich denn mit jenem Widerspruch in sich selbst, der nun einmal jede geschichtliche Erscheinung auszeichnet, zur protestantischen Kirche bildete, kam es naturgemäß bald zu wirklichen Ketzerverfolgungen, und er, wie der Katholizismus, würde die noch heute betreiben, wenn der neuzeitliche Staat es erlaubte. Die Pfarrer sind Beamte dieser Kirche, welche angestellt werden und Gehalt bekommen dafür, daß sie die einmal von der Kirche angenommenen Ansichten lehren; bekanntlich müssen sie sich bei ihrem Amtsantritt ausdrücklich dazu verpflichten. Wie nun alle diese Verhältnisse durch bewußte und unbewußte Täuschung sehr verworren sind, kann ein nicht ganz klar denkender Mann von einigem Selbstbewußtsein auf den Gedanken kommen, daß er lehren müsse, nicht was ihm amtsmäßig aufgetragen ist und wofür er bezahlt bekommt, sondern was ihm sein »Gewissen« eingibt, das wird bei der ja nicht allzu hohen geistigen Ebene des durchschnittlichen Pfarrers sein, was so die augenblickliche Ansicht der sogenannten Gebildeten über diese Dinge ist. Rechtlich wäre die Kirche jedenfalls im Recht, wenn sie den Mann nicht nur in den Ruhestand versetzte, sondern überhaupt absetzte; was würde denn der Staat etwa mit einem Amtsrichter machen, der plötzlich nach seinem »Gewissen« richtete und nicht nach dem Gesetzbuch? Man muß sich sogar wundern, daß Jatho nicht schon von selber aus seinem Amt ging. Ideell hat die Kirche auch recht: denn sie erhielt die Überlieferung, die doch durch jahrhundertelange Arbeit bedeutender Männer geschaffen ist und immerhin noch mehr wert sein wird wie eine flüchtige Tagesmeinung. Von »Ketzerrichten« kann hier überhaupt keine Rede sein, denn als Privatmann kann Herr Jatho glauben und lehren, was er will.

Mit anderen Worten: Der Staat kann einem Beamten wirklich nicht gestatten, sich als Prophet aufzutun. Wer den Menschen Wichtiges zu sagen hat, der kann nicht nur nicht erwarten, dafür ein vierteljährliches Gehalt zu bekommen, er hat sogar auch heute noch die Aussicht, gekreuzigt oder verbrannt zu werden; wird er das nicht, so ist er ganz gewiß kein großer Prophet. Das Konsistorium hat ausdrücklich anerkannt, daß Herr Jatho ein guter Mensch war, der sich in seiner Gemeinde der größten Beliebtheit erfreute: von einem bedeutenden Menschen hatte es das sicher nicht gesagt, nicht sagen können.

Was von den Lehren Jathos bekannt geworden ist, das ist denn auch das Kümmerlichste, was man sich denken kann. Es ist durchaus möglich, daß einer sein ganzes Leben lang Religionsbeamter ist und nie eine Ahnung davon bekommt, was denn eigentlich Religion ist: gerade einem guten und angenehmen Menschen kann das geschehen. In dem Fall ist offenbar Herr Jatho. Nur in religiös aufgeregten Zeiten erleben viele die Religion; in gewöhnlichen Zeiten ist unter den Menschen das religiöse Erlebnis so selten wie das Erlebnis der Liebe oder der Kunst, trotzdem jeder glaubt, er habe es gehabt. Gerade daß die Kirche sich auftut, dieser staatlich gewünschte Ersatz der Religion, ist ja der Beweis dafür. Alles, was Jatho zu sagen hatte, waren Verneinungen: er glaubt nicht an die persönliche Unsterblichkeit, an den Opfertod Christi, überhaupt nicht an den jenseitigen Gott, und nach der allbekannten Theologenart schiebt er den durchaus klaren Worten und Begriffen des Dogmas seine eigenen beziehungsweise die allgemeinliberalen, mehr oder weniger unklaren, stets aber anderen Worte und Begriffe unter. Das große Publikum merkt ja diese Eulenspiegeleien nicht, das Konsistorium und er selber wird sich auch nicht klar über die intellektuelle Unehrlichkeit dieses Betriebes gewesen sein, denn die Unterlegungen sind eben seit altersher theologische Sitte. Jemand, der an die Sauberkeit der neuzeitlichen wissenschaftlichen Arbeit gewöhnt ist, kann sich nur mit Entrüstung von solchem Betrieb abwenden. Aber selbst wenn man darüber hinweggehen will: was ist denn damit getan, daß einer gewisse Dinge nicht glaubt? Nur der Glauben schafft etwas. Nicht die liberalen Auguren haben ihrer Zeit das Christentum geschaffen, sondern die verzweifelten und heldenhaften Männer, welche das Furchtbare, das Entsetzliche glaubten, das stets über die Ebene des beliebten Geistlichen in der Art von Jatho gehen wird: daß Gott für unsere Sünden als Mensch den Verbrechertod gestorben ist, daß wir im Abendmahl sein, Gottes, Fleisch und Blut genießen.

Eine Bewegung beweist noch gar nichts für den Mann, der sie entfacht. Offenbar gärt es im Volk, und die Menschen suchen neue Religion; der Steine, welche die Kirche ihnen zu bieten hat, sind sie überdrüssig und sie merken nicht gleich, daß Leute wie Jatho oder wie die Monisten und Welträtsellöser ihnen noch nicht einmal diese Steine zu bieten haben.

Wenn wir uns klarmachen wollen, woher uns heute eine religiöse Erneuerung kommen kann, und wenn wir etwa vorhandene Anfänge erkennen wollen, so werden wir am besten tun, uns nach dem Vorgang des entstehenden Christentums zu richten. Die neueren Forscher, welche einen scheinbar nebensächlichen Umstand untersuchten, nämlich, ob Jesus eine historische Persönlichkeit oder eine mythische Gestalt sei, haben die Elemente, aus denen sich das Christentum bildete, soweit das möglich ist, zusammengestellt. Danach scheint etwa seit dem Zusammenbrechen des naiven alten Götterglaubens, der bloß sittlich gleichgültige, von menschlichen Leidenschaften bewegte Mächte kennt, denen die Menschen gehorchen müssen, weil sie eben die schwächeren sind, in den Völkern eine allgemeine Unruhe entstanden zu sein, die sich um die Tatsache des Leidens und um den Glauben an menschliche Verschuldung drehte: Wenn sittliche Götter herrschen, wie erklärt sich dann das Leiden der Menschen? Durch ihr sittliches Verschulden. Aber wenn nun der Gerechte leidet? Deuterojesajas schildert das Leiden des Gerechten in furchtbar leidenschaftlichen Ausdrücken, denen man die Qualen jener suchenden Zeiten anmerkt. Hiob ist gedichtet als eine Antwort auf die Frage. Die griechische Tragödie (ich kann die »tragische Schuld« noch nicht bei den Dichtern finden, sie scheint mir erst durch Aristoteles in ihre Werke hineingelegt) gibt eine andere Antwort. Beide, die europäische und die asiatische Antwort, sind bezeichnend; der Jude steht tief unter dem Griechen mit seinem immer noch anthropopathischen Gott und Teufel; der Grieche läßt seinen Helden stolz tragen und durch Freiheit der Empfindung gegenüber dem Leid das Leid überwinden; und indem er das in dem großen Schwung eines gewaltigen rhythmischen Kunstwerks darstellt – der Rhythmus der Spannung und Lösung hat schon etwas Religiöses – befreit er den Zuschauer selber vom Leid – diese Befreiung meint vielleicht Aristoteles mit seiner »Reinigung«. Wie schnell dann die Entwicklung geht, sieht man, wenn Aristoteles schon in den stolzen Gestalten der Tragödie die »Schuld« findet. Man muß offenbar geschlossen haben: Alle Menschen leiden; die Götter sind gerecht; also müssen alle Menschen schuldig sein. Die ästhetische Lösung der Tragiker ward vergessen, die Lösung des Hiob mußte den Höherstehenden wohl ungeeignet erscheinen.

Nur sehr wenige Menschen vermögen sich in den reinen Höhen des vorurteilsfreien Denkens zu halten. Bei vielen, auch unter den Höchststehenden, vermischte sich der Begriff der Schuld mit den noch nicht abgestorbenen Begriffen der alten Opfer- und sonstigen Verpflichtungen gegenüber den noch in der alten Weise als mächtige Dämonen vorgestellten Göttern. Die Mysterienkulte boten sich an, die Menschen von dieser Schuld zu reinigen, und es geschah wohl von Anfang an, daß solche Mysterienreinigung von dem Zorn beleidigter Götter auch auf eine Art Sündenvergebung ging. Je tiefer wir ins Volk gehen, desto mehr werden allerhand wirre Vorstellungen aus uralten Gebräuchen und Glauben überhandnehmen und wird aus dem klaren Bewußtsein sittlicher Schuld, die gesühnt werden muß durch Leiden, eine dumpfe Angst werden vor der Rache der Götter für ungewollte Beleidigungen. Mit dem Hellenismus, dann mit dem römischen Reich hatte sich zudem die Kenntnis von unzähligen, früher unbekannten Göttern fremder Völker vermehrt, die man ja doch alle als daseiend dachte und fürchten mußte.

Seit dem Beginn dieser Vorstellungen wurde nun ein uralter orientalischer Glaube wieder lebendig, oder er wurde vielmehr umgedeutet, vom sterbenden und wieder auferstehenden Gott. Man nimmt heute an, daß er entstanden sei aus der religiösen Empfindung der untergehenden und wieder aufgehenden Sonne, oder der im Winter sterbenden und im Frühjahr wieder erstehenden Natur. Wie das auch sei: in unbestimmter Weise – man darf solche Dinge nicht allzu begrifflich fassen; das sind Vorgänge jenseits des Verstandes – glaubte man, daß dieser leidende Gott die Menschen entsühne. Auch hier haben sich die Griechen zurückgehalten, wenn schon sie die betreffenden Götter aus dem Orient übernahmen. Merkwürdig ist jedenfalls die Beziehung des Dionysos zur Tragödie. Ein Gott, der das Leiden der Welt auf sich nimmt, der zur Sühne für die Schuld der Menschen stirbt – das ist der tiefste Mythos, den die Menschen geschaffen haben. Später hat man, in Weiterdeutung der Lehren des Paulus, das alles begrifflich zurechtgelegt: die Menschen alle durch die Erbsünde befleckt, der gerechte Gott nach Sühne verlangend, Christus den stellvertretenden Opfertod sterbend; diese juristische Vernünftigung muß man vergessen, man darf nur an die unbestimmte Empfindungsmasse denken; man muß sich etwa an Lehren erinnern wie die der Karpokratianer: »Jeder Seele droht die Wiedergeburt, wenn sie nicht schon im ersten Verkehr dieses Lebens allen Verlockungen nachgibt. Denn die Verbrechen sind ein Tribut an das Leben ... wenn einige schon in einer Verkörperung in alle Verfehlungen aufgehen, dann kommen sie nicht nochmals in einen Körper, sondern da sie alle Verfehlungen erfüllt haben, so werden sie von der Verkörperung befreit«. Wenn man sich die grausige Verzweiflung klarmacht, welche herrschen mußte, damit so furchtbare Lehren nicht nur entstehen, sondern auch weite Verbreitung finden konnten, dann wird man beginnen, die heute fast unverstandene Lehre von dem sterbenden Gott zu verstehen.

Suchen nach einer Möglichkeit, die Leiden des Lebens zu ertragen, in den geistig höchsten Schichten der Gesellschaft; Suchen nach Befreiung von der Schuld in den niederen Schichten; wilde abergläubische Angst und sinnlose Verzweiflung in den unkultivierten Gemütern: das waren die Vorbedingungen für die Entstehung des Christentums; als aus dem Vorhandenen eine Lehre zusammenschoß, in welcher die Menschen eine Rettung sahen, da war es entstanden; als die am meisten verzweifelten und geängstigten Menschen sie mit Begeisterung aufnahmen, da begann ihre Verbreitung über die damalige Welt. Eine Befreiung, eine Erlösung war das Christentum, wie es noch heute bei wilden und barbarischen Völkern eine Befreiung und Erlösung ist.

Rufen wir uns ins Gedächtnis zurück: Was war der Inhalt der Reformation? Die Menschen waren verzweifelt durch das Bewußtsein der Schuld; die mechanische Lehre der guten Werke, zu der die Kirche gekommen war, genügte nicht, sie zu beruhigen; da stellte Luther seine aus Paulus abgeleitete Rechtfertigungslehre auf, und wieder wurden die Menschen erlöst und befreit.

Ein Bedürfnis nach Erlösung und nach Befreiung ist die Voraussetzung der höheren Religion. Wenn wir heute Ansätze einer neuen Religion suchen wollen, so müssen wir zunächst die Sehnsucht nach Erlösung und Befreiung suchen.

Wenn wir sie an den Stellen erwarten, wo sie früher war, so werden wir zu dem Ergebnis kommen: nicht nur ist sie nicht vorhanden, es ist auch ganz ausgeschlossen, daß sie auf irgendeine Weise kommen könnte.

Es hängt vielleicht damit zusammen, daß seit Beginn der Neuzeit die Menschen durch die Befriedigung der äußeren Bedürfnisse enger miteinander verbunden sind wie früher. Früher lebte der Einzelne im wesentlichen in eigener Wirtschaft, die dem persönlichen Gebrauche diente und über diesen hinaus kaum Ziele und Zwecke hatte. Die Menschheit bestand aus abgeschlossenen Kulturen, diese aus abgeschlossenen Ländern, diese aus abgeschlossenen kleinen Staaten, und in den kleinen Staaten gab es wieder abgeschlossene kleinere Ordnungen bis herab zum Haushalt des einzelnen Familienvaters. Heute ist die ganze Erde durch den Warenverkehr verbunden, und in den Kulturländern ist der einfachste Kleinbauer abhängig von den großen allgemeinen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Bewegungen: eine Lohnerhöhung in Japan macht sich beim Hausarbeiter im Fichtelgebirge spürbar. Der alleinstehende Einzelne mußte früher notwendig auf den Gedanken eines für ihn sorgenden Gottes kommen, wenn er nicht an einen sinnlosen Zufall glauben wollte, und die Leiden, die ihn trafen, mußte er auffassen als berechnet für seine Persönlichkeit; denn er konnte nicht über den Zaun sehen und die allgemeinen Ursachen der Weltbewegungen erkennen. Heute weiß jeder: Was geschieht, das geschieht vielen; man kann sich nicht vorstellen, daß diese eine persönliche Beziehung zu einem Gott haben, der ihre Geschicke leitet, sondern man kann sich nur denken, daß eine allgemeine Bewegung in den Weltvorgängen ist, welche durch eine Kette von allgemeinen Ursachen und Wirkungen bestimmt ist, ohne irgendeine Beziehung zu dem Wollen oder Fürchten einzelner Persönlichkeiten. Das Leiden verliert so das Außergewöhnliche, das es früher hatte. Nun glaubt ein jeder Mensch ein Recht auf Glück zu haben, ohne diesen Glauben hätte er nicht den Lebenstrieb; und ein Leiden, das scheinbar nur ihn allein trifft, ohne zureichenden allgemeinen Grund, muß ihn auf das tiefste erregen, denn es stellt die Richtigkeit seines Lebenstriebes in Frage – in der Art der alten Frommen ausgedrückt: Wie ist es möglich, daß Gott den Gerechten leiden läßt? Hat das Leiden aber diesen Charakter des Außergewöhnlichen verloren, wird es empfindungsmäßig mit eingereiht in die allgemein zu erwartenden, weil im Weltlauf bedingten Vorkommnisse, so verliert es offenbar seinen Hauptstachel; die Menschen sagen sich: Das Leiden ist mit dem Leben untrennbar verbunden, wie es die Freude ist, und die Aufgabe des Einzelnen besteht hier lediglich darin, sich in diesen Umständen einzurichten. Es entwickelt sich jenes nüchterne Heldentum, das auch in anderen Dingen bezeichnend für unsere Zeit ist. Gleichzeitig wird das Gefühl der Verschuldung schwächer. Es handelt nicht mehr der alleinstehende Mensch, der seine Leidenschaften aus seinem Inneren heraus wirken läßt und dadurch vor Gott schuldig wird, sondern der Mensch, welcher nur ein Rad in einem großen Getriebe ist, seine Antriebe von außen bekommt und ihnen, nach seiner gesellschaftlichen Lage, notwendig folgen muß. Man denke, wie noch Shakespeare selbst seine Könige lediglich aus ihrer Leidenschaft heraus handeln läßt, wie ja denn seine ganze Dichtung lediglich ein Aussichheraussetzen einer vorherrschenden Leidenschaft ist, und wie ein Heutiger, wenn er einen König darstellen wollte, den gebundensten und gezwungensten Menschen schildern müßte. In der Zeit, ehe das Schuldgefühl unter den Menschen war, erschien das Handeln der Menschen als Ergebnis göttlicher Eingebungen, die Menschen waren unverantwortlich; auf einer höheren Stufe haben wir nach dem Zwischenspiel des Christentums heute die Unverantwortlichkeit wieder.

Noch einmal sei es gesagt: Solche Dinge sind dem Einzelnen wie der Menge nicht begrifflich klar, sie äußern sich auch kaum in zusammenhängenden Lehren;, aber da sind Empfindungen, welche unser aller Leben heute zugrunde liegen, welche unbewußt in unserer Kunst zum Ausdruck kommen, unsere gesellschaftlichen Anschauungen bilden, unsere Wertschätzungen beeinflussen, soweit die nicht noch durch Überkommenes gebildet sind.

Also, wenn die vorigen Ausführungen richtig waren, so würden die Menschen heute nicht vom Leiden erlöst werden müssen, weil sie besser gelernt haben, das Leiden zu ertragen, und nicht von der Schuld, weil das Schuldgefühl geschwächt ist. Wo wäre dann aber die Verzweiflung und die Not, aus der heraus das Bedürfnis nach Religion, Religion selber sich entwickeln würde?

Hier wird es noch schwieriger, Worte und Gedanken zu finden. Wer vorurteilsfrei unser heutiges Leben betrachtet, der muß die Not und die Verzweiflung der Menschen fühlen, und in tausend Dingen wird er ein Suchen nach einer Erlösung durch einen neuen Glauben sehen: in den Ausschweifungen und Lastern; der Betäubung durch übermäßige Arbeit und sinnlosen Genuß; der allgemeinen Auflösung aller menschlichen Bande; der Zuchtlosigkeit und Ehrfurchtslosigkeit, dem Schwinden der Würde und Selbstachtung; dem ratlosen Irren und Suchen in banausisch verstandener Wissenschaft; dem leidenschaftlichen Streben, die Persönlichkeit zu verlieren, indem man sich als Berufsmensch zu einer Funktion macht, oder indem man sich in Empfindungen auflöst als ästhetischer Mensch, oder indem man sich unter das Joch einer zum Aberglauben gewordenen Religion beugt wie die Frommen – indem man merkwürdigerweise dabei immer glaubt, daß man dadurch die Persönlichkeit gerade erhalte.

Denn indem Leiden und Schuld ihre alte Bedeutung verloren haben, hat das Leben des Einzelnen ja auch den größten Teil seines Sinns eingebüßt. Wenn früher die scheinbare Zufälligkeit des Lebens sich auflöste durch den Glauben an göttliche Leitung des Einzelnen, so scheint heute der Einzelne weder für sich noch für Gott eine Bedeutung mehr zu haben; er ist scheinbar auf eine Stufe hinabgedrückt mit den Naturwesen, welche werden und vergehen als Einzelne, damit die Art sich erhält. Allerhand Mythologie entspringt aus diesen Gedankengängen; freilich müssen wir die neue Mythologie anderswo suchen wie die alte, wenigstens, wie die alte uns heute erscheint: nämlich in den Wissenschaften. Die Darwinsche Theorie war ein solcher Versuch, nach Überwindung des beschränkten Standpunktes und der engen Interessen des Einzelnen einen neuen Sinn des Lebens zu gewinnen, indem man eine unendliche Entwicklung der Lebewesen von geringeren Formen zu immer höheren annahm; unter den widerspruchsvollen Gedankenreihen von Nietzsche geht die eine auf eine Art Anpassung solcher Entwicklungsansichten auf bewußte Höherentwicklung der Menschheit, daß also der Sinn unseres Lebens wäre, an einer Höherentwicklung des Menschen zu arbeiten. Die Abstammungslehre ist zusammengebrochen, der Übermenschengedanke ein glänzender Einfall geblieben: aber in solchen Richtungen sucht die Seele der heutigen Menschheit nach Religion, nach einer neuen Religion, nach einer Religion von einer Art, wie sie noch nie da war: die mehr sein würde wie jeder frühere Glaube, nämlich nicht bloß die gemeine Not des leidenden und verängstigten Geschöpfes hebt, um ihm ein stilles Glück zu verschaffen, sondern in hoher Gesinnung diese Not überwindet, indem sie dem Leidenden und Verängstigten ein Ziel seines Leidens und seiner Angst zeigt.

Zum ersten Male seit es Menschen gibt, erscheint als der Typus des Menschen nicht mehr der Herrscher, der Denker, der Fromme, der Genießende, der Reiche, der irgendwie von der gemeinen Last des Lebens Befreite, sondern der Arbeiter. Lassen wir uns nicht durch schöngeistige Redner täuschen: in uns Heutigen allen ist das tiefste Gefühl, daß nur die Arbeit für Andere Menschenwürde verleiht, nicht Adel, Besitz, Schönheit oder Begabung. Dieses Gefühl ist noch sehr jung, und vorher war es noch nie in der Welt; aber schon beginnen wir den, der nicht arbeitet, nicht mehr als verächtlich, sondern als lächerlich zu empfinden, so schnell hat es sich verbreitet. Die Arbeit für Andere bedeutet aber das Aufgeben der Persönlichkeit als Selbstzweck; und indem sie in gegenseitigem Austausch stattfindet: des Oberen für den Unteren, des Unteren für den Oberen, bedeutet sie das Aufgeben aller einzelnen Persönlichkeiten für etwas, das man die Gesamtheit, oder die Gesellschaft, oder die Menschheit nennen mag. Wir Heutige mögen uns als Ameisen vorkommen, die auf irgendeine Weise durch einen Trieb geleitet, der dem Einzelnen nicht bewußt und klar wird, für ihre Gesamtheit eine Arbeit schaffen.

Offenbar ist die Frage nach dem Sinn des Lebens hier nun aber bloß zurückgeschoben. Wenn der Einzelne nur noch für die Gesamtheit lebt, wofür lebt dann die Gesamtheit?

Und hier scheint mir der neue Glaube und die Mystik des zwanzigsten Jahrhunderts zu beginnen.

Religion ist ein Massengefühl, nicht ein Gefühl Einzelner. Wir heute stehen allzusehr unter dem Eindruck der Veräußerlichung und Verbürgerlichung der Religion durch die Kirchen und denken daher leicht, daß wirkliche Religion nur der Einzelne im stillen Kämmerlein hat. Aber wir müssen diesen Nachklang religiöser Zeiten vergessen: stets, wo Religion lebendig war, war sie auch eine Sache der Masse, im Anfang des Christentums, selbst in den Zeiten der Mystik, in der Reformationszeit, in der pietistischen Bewegung. Auch heute müssen wir sie deshalb da suchen, wo Massen in Erregung geraten.

Nach langem Schweigen der Völker waren es zuerst die nationalen Empfindungen, welche Massenbewegungeu schufen. Für unseren heutigen Kulturkreis wurden sie erzeugt durch die Französische Revolution, die geistigen Erregungen, welche ihr vorangingen, und die politischen, welche ihr folgten; vorher waren sie nicht da, erst durch sie sind innerhalb des neuzeitlichen Staatssystems die heutigen Nationen entstanden: Massen von verschiedener Herkunft, verschiedener Klassenangehörigkeit, verschiedener Bildung, selbst, wie in der Schweiz und den Vereinigten Staaten, von verschiedener Sprache, die sich doch als etwas Zusammengehöriges, als eine Einheit empfinden. Wahrend der Revolution entstehen die ersten Klassengefühle, die dann im neunzehnten Jahrhundert sich immer mehr abstufen; sie gehen quer durch die Nationen hindurch und ballen sogar, wie bei den Industriearbeitern, Gruppen verschiedener Nationen zusammen. Schon lange ist von Beobachtern anerkannt, daß in den Bewegungen, welche durch diese Gefühle und Empfindungen erzeugt werden, Handlungen und Gesinnungen zutage treten, die man nur als religiöse bezeichnen kann. Es sollen hier nur die allerklarsten Dinge erwähnt werden, deshalb wird von zarteren Erscheinungen geschwiegen, etwa der merkwürdigen Ausbreitung der Humanitätsideale, welche eine praktisch törichte, in der Empfindung aber großartige Vorstellung von der Gemeinschaft der gesamten Menschheit erzeugen: höchst merkwürdig am Vorabend eines Kampfes auf Leben und Tod, den die Europäer gegen die Mongolen werden führen müssen. In allen diesen Ideen, Idealen, Empfindungen, Vorstellungen lebt etwas merkwürdig Zwingendes, welches die Menschen oft gegen ihre unmittelbaren persönlichen Vorteile und Neigungen treibt zu Handlungen, deren Ziele in vielen Fallen kaum vernünftiger zu nennen sind wie etwa das tausendjährige Reich der alten Christen. Diejenigen Menschen, welche die Schrift »das Salz der Erde« nennt – die anderen, die geistig Toten, kommen ja nicht in Frage – sind hier beschäftigt, hier vergessen sie die quälende Frage nach dem Sinn und Zweck des Lebens – ihres Lebens.

Woher mag nun der merkwürdige Glaube kommen, daß eine Arbeit »für die Menschheit« zweckvoll sei, eine Arbeit für die bloß persönlichen Vorteile zwecklos? Wie schon gesagt, da die Menschheit doch nur die Summe der Einzelnen ist, kann rein logisch doch hier nichts grundsätzlich Neues entstehen; und doch fühlen wir das Neue.

Hier kann man wohl nicht weitergehen, hier beginnen die Geheimnisse für unseren Verstand. Man sollte sich da vor metaphysischen Worten hüten, wie »Selbstdarstellung Gottes in der Menschheit« und ähnliches, das an Hegelsche Ausdrucksweise anklingt, ähnlich wie die moderne Biologie gut täte, das gefährliche Wort »Lebenskraft« zu vermeiden: durch solche Worte macht man nichts klarer, sondern man verwischt nur und erweckt durch Gedankenverbindungen falsche Vorstellungen. Wir müssen uns vorstellen, daß »Zweck« nur ein aus dem begrenzten – und vielleicht aus einem falschen Gesichtswinkel betrachteten – persönlichen Leben erzeugter Begriff ist; daß solche Begriffe für die Menschheit nicht bestehen können, da die Menschheit zwar empfindet und handelt, aber nicht grübelt, wie das Einzelwesen; daß des Einzelwesens ganze Seligkeit nur die Seligkeit des Weibes ist, das im Manne aufgeht, weil, wie der Mann glaubt, die ihr unbekannte Natur für ihre Zwecke dieses Aufgehen braucht: so gingen die Christen im gütigen Gott auf, so wir heute in der Menschheit. Ist das Kind, das aus der Liebe des Weibes zum Manne entstand, ein Zweck, ein Neues, ein Fortschritt, eine Entwicklung, oder wie man sonst sagen mag? Das sind falsche Worte; das liebende Weib lebt in seiner Liebe, und nicht mehr lebt es für das künftige Kind wie das Kind für das Weib. Die alten Mystiker haben das eingesehen, wenn sie sagten: Der Mensch lebt durch Gott, und Gott lebt durch den Menschen. Hier löst sich auch wohl die Frage nach der persönlichen Unsterblichkeit.

Frühere Zeiten hatten es ja leichter als wir, diese Dinge zu formulieren: sie drückten das, was immer nur Empfindung bleiben kann und als solche sehr schwer mitteilbar ist – ein Punkt, den man meines Erachtens immer vergißt, wenn man die Lehren der Mystiker betrachtet, die eben nicht Lehren sind, sondern ein unbeholfenes Stammeln in der Sprache der jedesmaligen Zeit, um Dinge mitzuteilen, die man nicht mitteilen kann – sie drückten das, was nur Empfindung ist, einfach durch ein Gleichnis aus der Erfahrung aus: so wurde schon Gott geschaffen aus der Erfahrung des Herrn, Vaters, Erzeugers, Schöpfers. So faßte man auch den Begriff der persönlichen Unsterblichkeit; und wie in diesen Dingen die urältesten Gedanken und Triebe der Menschheit noch lebendig sind: sicher ist der uneingestandene Hauptgrund, der so lange die endlich im letzten Jahre eingeführte Feuerbestattung in Preußen verhütet hat, ein halb abergläubisches Befürchten wegen der Unsterblichkeit gewesen.

Jeder bedeutende Mensch hat das Bewußtsein einer Leitung seiner Geschicke durch Gott, oder einen Glauben an ein jenseitiges Ich, oder wie man sich mythisch ausdrücken mag, er ist auch gewiß, daß er mit dem Tode nicht gänzlich stirbt. Schon wenn man diesen einfachen Ausdruck gebraucht, dann sagt man ja viel und ist nicht weit entfernt von jenem gewaltigen Mythos der Auferstehung und des Jüngsten Gerichts, der dann sofort wieder buchstäblich gefaßt und etwa von Leuten, wie unsere liberalen Theologen sind, nicht geglaubt werden kann. Mir scheint, daß wir heute das, was unser Wesentliches ist, klarer erkennen können als früher, damit erwarten wir die Unsterblichkeit für etwas anderes als frühere Zeiten.

Es scheint, daß die Menschen heute wieder versuchen wollen, eine Metaphysik zu schaffen. Die Gefahren dieser neuen Metaphysik sollte man sich nicht verhehlen: auch sie will versuchen, Probleme zu lösen mit den Mitteln der Vernunft, die über jeder Vernunft sind.

Das Christentum wäre gewiß nicht möglich gewesen ohne Plato: aber mir scheint, daß Plato von Protagoras mehr gelernt hat, als er zugeben wollte, und daß es dessen Schule war, die ihn zu dem fruchtbarsten Philosophen gemacht hat, nämlich zu einem Philosophen, der genau wußte, daß er eine Dichtung von Begriffen gab, einen Mythos, etwas, das mehr zu den alten Tragödien gehört, zu den Erzählungen von Prometheus, Orest, Dionysos und Ödipus, oder zu den Religionen, etwa so, daß seine Werke ein geistiges Eleusis darstellen: unsere heutigen Metaphysiker wären gewiß schwerwiegender, wenn sie leichter, und ernster, wenn sie heiterer wären.


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