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Die Erlöserdichtung

(1916)

Wenn wir das Evangelium einmal nicht als die erhabene Urkunde unserer Religion auffassen, sondern als eine mythische Dichtung wie andere Dichtungen sind, so finden wir als durchgehendes Motiv, daß Jesus, der Vertreter der höchsten Geistigkeit, der vernünftige Mensch ist und daß die übrigen Menschen, alle, welche die »Welt« bilden, sämtlich unvernünftig sind; und zwar sind die Grade der Unvernünftigkeit so abgestuft, daß sie zunehmen, je entfernter die Menschen dem Herrn sind.

Die Unvernunft der Welt wirkt im Evangelium dadurch besonders phantastisch, daß sie selber sich für vernünftig und Jesus für unvernünftig hält.

Wir betrachten unsere Heilige Schrift wenigstens des Neuen Testamentes gewöhnlich so ausschließlich als Religionsurkunde, daß wir uns die ästhetischen Probleme gar nicht klarmachen, die sie stellt. Und doch ist es ein Problem höchster Art: wie haben die Verfasser der Evangelien es fertig gebracht, die ruhige und große Gestalt Jesu darzustellen, wie wir sie nun sehen, noch mehr: wie haben sie die phantastische Unvernunft der Welt darstellen können? Wer selber einmal ähnliche Probleme zu lösen gesucht hat, wird die Leistung auf das Höchste bewundern.

Der Gedanke ist ja einfach und wohl recht naheliegend, daß das Gemeine phantastisch unvernünftig ist, und der Mensch um so vernünftiger wird, je höher er steht. Es haben ihn viele Menschen ausgesprochen, und wenigstens glauben ihn alle. Aber wer künstlerisch schafft, der muß in sich mehr haben wie den bloßen Gedanken; was er darstellen will, das muß in ihm ein selbständiges, organisches Leben führen. Das ist nun offenbar sehr selten der Fall gewesen.

Das christliche Mittelalter suchte mit größter Anstrengung in seiner Dichtung Gestalten zu schaffen, welche der Gestalt Jesu, wie man sie damals verstand, angenähert sind. Diese Arbeit geschah in den gereimten oder prosaischen Ritterromanen. Zweierlei fällt einem hier auf. Erstens versucht man nie, einen vollendeten Mann darzustellen, als den wir uns doch Jesus denken, der wissend ist; sondern man begnügt sich mit dem des Bösen noch unwissenden Jüngling. Zweitens, man kann nicht die phantastische Gemeinheit der Welt neben ihm bilden, sondern man muß für ihn eine geeignete Umgebung höher gearteter Menschen schaffen, so daß der Ritterroman eigentlich eine in der Luft schwebende Gesellschaft darstellt, die unorganisch wirkt.

Der Spott, den Ariost und Cervantes reichlich gegen diese Werke wenden, trifft denn vor allen Dingen dieses Unorganische. Heute, wo wir wieder an einer Weltwende stehen, wie Cervantes und Ariost, ist es vielleicht Zeit, diesen Spott einmal naher zu betrachten.

Die Ritterdichtung, soweit sie über die bloße Lyrik hinausging, also ein Weltbild schaffen wollte, hatte den ungeheueren Nachteil, daß Dichter und Publikum selber in einer künstlichen Welt lebten und nicht zum Gefühl des Organischen im Weltbild kommen konnten. Gottfried Keller, der als Dichter solche Dinge sah, gab einmal ein Bild von der ritterlichen Gesellschaft, welche auf einem Stieg, auf dem Kamm eines Gebirges dahinreitet wie eine Gesellschaft von fernen Göttern, die mit den Menschen im Tal nichts zu tun haben. Nur die Erwerbsarbeit gibt das Gefühl für das Organische der menschlichen Gesellschaft wie für das eigene Ich. Der Ritter hatte gegen seine Untertanen nur die negative Pflicht, sie nicht zu schädigen; alle seine positiven Pflichten gegen seinen Herrn und seinen Stand waren in äußerst sinnreicher Weise zu Sport und Abenteuer umgewandelt; er stand jenseits des Erwerbes. Ein solches Leben mußte eine sehr hohe Geistigkeit erzeugen, aber diese hatte immer die Gefahr, in bloße Geistreichigkeit umzuschlagen und falsche Gefühle zu bilden. Am wahrsten mußten die Gefühle immer noch bei Jünglingen sein, daher die Bevorzugung des Jünglings in der Ritterdichtung.

Vielleicht liegt hier der eigentliche Grund, weshalb die Ritterdichtung sich wohl das Problem der höchsten Geistigkeit stellen, aber es nie gestalten konnte; sie gab im Grunde nichts, als das idealisierte Bild der ritterlichen Gesellschaft.

Als das Rittertum zusammenbrach, kam das Bürgertum hoch, eine völlig auf Erwerb gestellte Klasse. Dieser mußten notwendig die Ritterromane lächerlich erscheinen und das ritterliche Weltbild als reiner Unsinn.

Jesus erwidert – wohl gemerkt! – dem Versucher: »Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jeglichen Wort, das durch den Mund Gottes geht.« So kindlich die Ritterdichtung war, sie hatte doch eine Ahnung von diesem Wort, das durch den Mund Gottes geht. Als das Bürgertum über das Rittertum lachte, da wußte es genau, daß der Mensch vom Brot lebt, was das Rittertum nicht wußte; aber es wußte nicht, daß er nicht vom Brot allein lebt; daß diese empirische Welt nicht alles ist, sondern daß es auch noch ein Jenseits gibt: und so wurde sein Weltbild nach der anderen Seite ebenso falsch, wie das ritterliche Weltbild gewesen war.

Es mußte wohl ein Spanier sein, welcher das grausamste Buch dieses neuen Geistes schrieb, den Don Quixote. Der hohe Mensch, welcher an das Wort aus Gottes Munde denkt, ist ein armer, alter, wahnsinniger Ritter; die Welt um ihn denkt nur an das Brot, und immer wo er mit dieser Welt zusammenstößt, da wird er verhöhnt und, man muß den spanischen Edelmann nicht vergessen, geprügelt. Cervantes hat den Roman als alternder Mann geschrieben; ob er ihn in Bitterkeit des verzweifelnden hohen Menschen schrieb? Wenn man sein Leben bedenkt, so wäre es nicht unmöglich; die neue Zeit hätte dann die fürchterlichste Anklageschrift, die gegen sie gerichtet wurde, als Verhöhnung ihrer Vorgängerin aufgefaßt, als Programmschrift für sich selber. Nun, mag Cervantes selber ein verzweifelnder Don Quixote gewesen sein, mag er nur mit kalten Augen und festem Sinn seine Zeit geprüft haben, eins ist sicher bei ihm: die gemeine Welt ist vernünftig, der hohe Mensch ist unvernünftig; wir haben das gerade Gegenteil des Evangeliums vor uns.

Dieses neue Weltbild ist aber genau so unorganisch wie das Weltbild des Rittertums. Nicht nur, daß die empirische Welt allein für den Dichter nie genügen kann, weil sie ohne das Jenseits keinen Sinn hat; auch in der empirischen Welt geht es durchaus nicht um das Brot allein. Don Quixote reitet aus und trifft eine Schenke, liederliche Dienstmägde, einen schuftigen Wirt und rohe Eseltreiber. Hätte er nicht auch einen Priester treffen können, welcher nach den ihm verliehenen Kräften seine Gemeinde zu heben sucht, einen Arzt, der den Leuten hilft, einen Richter, der das Gute schützt und das Schlechte bekämpft, einen Offizier, der für sein Land sterben will? Der größte Ruhm der neuen Gesellschaft sind die außerordentlichen technischen Fortschritte. Sie wären gewiß nicht möglich gewesen ohne die Erwerbslust der vielen Unternehmer, welche die neuen Erfindungen prüften und anwendeten: aber auch nicht möglich ohne die selbstlose Arbeit der Gelehrten, welche nur dem dienen, was sie ihre Wissenschaft nennen, die für sie in ihrer Art ein Gott ist, wie sie Gott eben verstehen; ein jeder versteht ihn nach seiner Art.

Uns Heutigen, die wir spüren, daß die Welt des Bürgertums zu versinken beginnt und eine neue Welt heraufkommt, erscheint der Gedanke eines bürgerlichen Don Quixote gar nicht so phantastisch. Er wäre ebenso möglich wie der andere, ebenso unorganisch freilich. Vielleicht hat Gogol bei dem Helden seiner toten Seelen an dergleichen gedacht? Bekanntlich ist der Roman ein Fragment; und die Galerie von Dummköpfen und Schuften, die uns zunächst vorgeführt wird, sollte nur auf eine höhere Gesellschaft vorbereiten. Gogol gehört zu den großen Dichtern, deren Werken immer eine Idee zugrunde liegt; das müßte denn doch wohl diese Idee gewesen sein, wenn er nicht etwa ins beschränkt Nationale abschwenken wollte. Die Aufgabe wäre natürlich unendlich viel schwieriger wie die Aufgabe des Cervantes; nicht nur, daß Cervantes einfach den epigonischen Ritterroman zum Muster genommen hat, und Gogol ein solches Muster nicht vorfand; die eigentliche Darstellungsarbeit des Epikers ist die Welt oder das Gegenspiel; denn der Held ergibt sich gewissermaßen von selber durch wenige Striche, wenn das Gegenspiel nur gut gemacht ist. Nun ist die Gemeinheit aber offenbar unendlich viel leichter zu gestalten, weil sie ja immer im Sinnlichen steckt, als das geistige Leben. Vielleicht ist deshalb der Roman Gogols Fragment geblieben?

Wir spüren heute, daß die Welt des Bürgertums versinkt und eine neue Welt heraufkommt. Wir können noch nichts von ihr sagen; wir wissen nur, daß sie ganz anders ist wie die gegenwärtige. In diesem Krieg erleben wir ihre erste Wirklichkeit. Die Dichter können sich kritisch zu der versinkenden Welt stellen, wie es Gogol wollte; sie können aber auch, wenn die Zeit schon so weit sein sollte, die ganz andere neue Welt darstellen.

Seit einem Menschenalter sind von den verschiedensten Dichtern Versuche gemacht worden, Erlöserromane zu schreiben. Mag das Vornehmen geglückt sein oder nicht, sehr merkwürdig ist jedenfalls, daß es dagewesen ist und noch da ist. Sollte wieder ein Zusammenschluß möglich sein, wie in der Zeit, da das Neue Testament entstand? Hätte die Erscheinung tiefere Wurzeln, und begegneten sich im Grunde ihre Wurzeln mit denen des neu erwachten Bedürfnisses nach Religion?

Die Phantastik des Rittertums entstand dadurch, daß die vorhandene Wirklichkeit vernachlässigt wurde und eine unorganische Welt entstand. Die Phantastik des Bürgertums entstand, indem das Jenseits vergessen wurde und nun die vorhandene Wirklichkeit keinen Sinn mehr hatte. Wir heute sind alle Arbeiter, niemand von uns reitet mehr auf dem Kamm des Gebirges, ohne von der Arbeit des Pflügers im Tal zu wissen; aber wir wollen heute auch alle einen Sinn für unsere Arbeit und für unser Leben wissen, denn beides ist uns eins. Wenn ein großer dichterischer Genius käme und befruchtet würde durch unsern Glauben, so könnte eine neue Jesusgestalt entstehen, unsere Jesusgestalt, lebendig sich ergehend in der phantastischen Unvernunft der Welt. In zwei Völkern liegt die Möglichkeit dieser neuen Dichtung: im russischen und im deutschen, und in beiden sind auch bedeutende Versuche gemacht, ihn zu gestalten.

Eine Welt liegt zwischen den Versuchen: die Welt, welche zwischen den Germanen und den Slawen liegt. Scheinbar geht der gegenwärtige Krieg um die Weltherrschaft Englands. Aber wir wissen, daß das englische Volk längst im Niedergang ist, wir wissen auch, daß unser gefährlicher Feind Rußland ist. Wenn Frankreich besiegt ist, dann wird es uns nicht mehr gefährlich sein, und wenn England so besiegt wird, wie wir wünschen, dann wird es uns auch nie mehr gegenübertreten. Aber wenn wir Rußland besiegen, dann wissen wir nicht, wie sich das russische Volk entwickeln wird, wie es uns nach einem Menschenalter wieder gegenüber steht, genau so, wie es wäre, wenn die anderen uns besiegt hätten. Frankreich und England vertreten keine Idee mehr, aber Deutschland und Rußland vertreten sie. In dem Kampf dieser Ideen ist der gegenwärtige Krieg eine Episode; er wird als Ende haben, daß eines der beiden Völker der Welt die neue Belebung der Erlöserdichtung schenkt.


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