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Zum ethischen Suchen der Zeit

(1911)

Soweit wir die Geschichte des Menschen verfolgen können, treffen wir immer ein gesellschaftliches Wesen an, nie ein einzeln lebendes. Dieser Umstand muß bei der Bildung der Instinkte mitgewirkt haben. Neben dem Trieb auf Selbsterhaltung muß ein Trieb auf Erhaltung der Gesellschaft in den Wünschen ursprünglich vorhanden sein; beide Triebe können nicht weiter untersucht werden, sondern sind als Grundtatsachen anzunehmen. Wo beide Triebe in Widerstreit kommen, kann ein ursprünglicher Instinkt gedacht werden, welcher eine Ausgleichung bewirkt. Daß solche ursprünglichen Instinkte als Moralvorschriften erscheinen können, darf uns nicht beirren, ebensowenig, daß die verschiedensten Arten von Ausgleichungen vorkommen, und wir dürfen uns nicht zu der Annahme bringen lassen, daß der Inhalt aller Moralvorschriften so durchaus späteren Ursprungs sei wie ihre verstandesmäßige Fassung und Heiligung.

In den Staatswissenschaften hat man die Anschauung überwunden, daß man auf das Einzelwesen zurückgehen müsse: daß der Anfang der Gesellschaft ein Vertrag der bis dahin ungeselligen Einzelnen gewesen sei; daß am Anfang der politischen Ökonomie ein Tauschverhältnis zweier unabhängiger Personen stehe; daß der Zweck der Gesellschaft sei, die Selbstsucht der Einzelwesen so zu leiten, daß für die Summe der Einzelwesen die größtmögliche Summe von Glück entstehe, und daß der Staat das für diesen Zweck nötige Werkzeug der Gesellschaft sei. Es ist wahr, daß diese alten Anschauungen sich zu Theorien gestaltet haben, daß wir Neueren diesen Theorien des Liberalismus, wie man sie wohl nennen muß, keine neuen Theorien entgegenstellen können: jedenfalls betrachten wir heute die Gesellschaft als etwas, das neu entsteht, wie, bildlich zu sprechen, ein Mensch etwas anderes ist wie die Summe der Zellen, welche ihn zusammensetzen; und daß wenigstens unser Ideal vom Staat Selbstzweck ist, nicht Mittel für Zwecke der Gesellschaft und weiterhin der Einzelwesen.

In der Moralphilosophie, welche doch die engsten Beziehungen zu den politischen Wissenschaften wie zu den historischen haben sollte, sind noch immer die Ansichten nicht überwunden, welche aus einer Wurzel mit den eben erwähnten politischen Ansichten entsprungen sind: die Moralphilosophen gehen vom Einzelnen aus und erklären die Triebe und Instinkte aus dem losgelösten Einzelwesen. Genau wie die liberalen Staatstheorien setzen sie sich dadurch in Widerspruch mit der Wirklichkeit, und wie diese kommen sie, wenn sie folgerichtig denken, zu Ergebnissen, deren Befolgung das Leben unmöglich machen würde. Andererseits freilich darf man nicht vergessen: Die moralischen Fragen waren den Menschen stets wichtig, die politischen waren ihnen in langen Zeiten fremd. Deshalb hat man in der Geschichte der Menschheit den Umkreis der möglichen moralischen Gedanken mehrmals durchforscht und dargestellt; man muß nur immer hinter die Verkleidungen der Zeit sehen, hinter denen sich die Gedanken verbergen; wie denn etwa das unerklärliche ursprüngliche Vorhandensein der sozialen neben den selbstischen Trieben mit aller Klarheit schon längst von Shaftesbury dargestellt ist. Macht man sich klar, daß das, was dem Einzelwesen gut ist, ziemlich leicht von diesem, und daß das, was der Gesellschaft gut ist, ziemlich leicht von den anderen erkannt wird, so ergibt sich als eigentliche Schwierigkeit eben die Auseinandersetzung zwischen den »egoistischen« und »sozialen« Trieben, und um diese dreht sich denn auch im Grunde alles moralische Denken der Menschen. Die Zeiten wechseln aus ihren bestimmten Gründen; und indem das äußerst Soziale und das äußerst Egoistische die beiden denkbaren Möglichkeiten sind (es sind keine einander ausschließenden Gegensätze, wie wir uns leicht vorreden, nicht einmal einander widersprechende), schwanken die Menschen in ihren Sittengesetzen zwischen mehr oder weniger stärkerer Betonung des einen oder anderen. Auch das entschiedenste Christentum hat den Egoismus nicht ausgeschlossen: das »sich von der Welt unbefleckt erhalten« ist doch gewiß ein Ausdruck schroffster geistiger Selbstsucht, und selbst ein Stendhal hat in seiner »amour-passion« eine soziale Empfindung auf den Altar gehoben. So behalten die Trümmer eines zerschlagenen Kristalls immer die Winkel des ganzen Kristalls; nur die Linien verändern ihre Verhältnisse.

Die Moral ist der Ausdruck der Lebensbedingungen der Gesellschaft (weshalb man sich nicht wundern soll, daß sie das soziale Element immer aktiv macht), und mit den Lebensbedingungen der Gesellschaft wandelt sie sich. Wandlungen in den Lebensbedingungen der Gesellschaft erscheinen von einem gewissen Gesichtspunkt aus immer als Verfall; so kann man das Christentum als Verfall bezeichnen gegenüber der Antike und desgleichen unsere heutige antichristliche Bewegung als Verfall gegenüber dem Mittelalter. Mit solchen Bewertungen aber stellt man sich offenbar nicht über die Dinge, sondern man steht inmitten der Bedingungen einer bestimmten Zeit und Richtung. Es soll hier durchaus nicht, wie es scheinen könnte, einer relativistischen Weltbetrachtung das Wort geredet werden, und wir brauchen unseren Willen nicht durch die Einsicht lahmzulegen, indem wir auf das sittliche Werturteil verzichten; ich möchte vielmehr auf einen Ausweg hinweisen, der zwar längst bekannt und betreten ist: an die Stelle des Amoralischen das Tragische zu setzen.

Wir müssen uns vorstellen: Die Gesellschaft wie der Einzelne haben nach einem Ziel zu gehen, das ihnen unbekannt ist und dennoch Richtschnur ihrer Handlungen sein soll. Der Einzelne weiß nicht, was er ist, was er aus sich machen soll, und was er schaffen muß; ebenso blind über sich selbst lebt die Gesellschaft; die Erhaltung oder vielmehr Entwicklung seines Selbst ist der eine, die der Gesellschaft der andere Trieb, der seine Handlungen leitet.

Wie soll er nun im einzelnen Fall handeln: das ist das Gebiet der imperativischen Moral; aus welchen Ursachen handelt er so: das ist der Gegenstand der Moralwissenschaft.

Die imperativische Moral hat einfache Gesetze aufgestellt, die unter allen Umständen Gültigkeit haben sollen, und deren Ausübung durch das Gewissen überwacht wird. Die Arbeit vieler hervorragender Menschen der letzten Geschlechter war, aufzuzeigen, daß diese einfachen Gesetze durchaus keine allgemeine Gültigkeit haben können, wie denn von jeher das wirkliche Leben die wiederkehrenden Ausnahmen von diesen Gesetzen immer ruhig hingenommen hat, es den kasuistischen Moralisten – die von naiven Protestanten sehr mit Unrecht verachtet werden – überlassend, Rechtfertigungen dafür zu finden. Das Gewissen, das ein Reflex ist, teils durch vererbte Instinkte, teils durch die Empfindungen der Umgebung, ist verwickelteren Verhältnissen, also oft den wiederkehrenden, stets den einmaligen Ausnahmen, offenbar gar nicht gewachsen, und seine Stimme kann zur Vermeidung der moralischen, ja zur Begehung der unmoralischen Handlung führen.

Andererseits: die Moralwissenschaft hat für sich auch nichts Festes erzeugen können; denn wenn freilich die allumfassende Entwicklungslehre, die Fichte, in anderer Art Hegel und wieder anders Schleiermacher lehren, eine schöne Formulierung des Zieles zu sein scheint, so bedeutet doch des vorletzten Philosophen Schopenhauer System, welches aus der nüchtern erscheinenden »Sympathie« von Hume und Adam Smith das metaphysisch-mystische »Mitleid« macht, lediglich eine Verherrlichung der sozialen Instinkte und des letzten Philosophen Nietzsche Ansicht, die auf Hobbes und, persönlicher, auf Rochefoucauld zurückgeht, lediglich eine Verteidigung der selbstischen Triebe. Könnten die Bienen oder Ameisen ihre Instinkte in Vorstellungen fassen, so würden sie ein sittliches Gesetzbuch geschaffen haben, dessen Grundlagen Schopenhauer genügend erklärte; denn bei diesen Tieren ist das Einzelwesen, um ein mathematisches Bild zu gebrauchen, lediglich Funktion der Gesellschaft. Würden die Löwen einen moralischen Kodex wollen, so könnten sie Nietzsches Zarathustra annehmen. Der Mensch aber lebt weder wie die Ameise noch wie der Löwe, sondern im barbarischen Zustand etwa wie das wilde Rind, in der Zivilisation mit einiger Annäherung an das Ideal der Ameise.

Wahrscheinlich kann doch jeder Mensch nur das sagen, was er selbst ist. Freilich ist der wahre Sinn der Menschen immer verdeckt, und man kann oft denken, daß er sich gerade unter etwas ihm Widersprechendem verbirgt; oder ob manche Menschen nur einen Teil dessen, was sie sind, auszudrücken vermögen? Oder ob der Philosoph, der sich durch Begriffe darstellt, durch diese Form seines Ausdrucks gezwungen wird, nur einen Teil auszudrücken: wir wollen es uns nur zugestehen, es ist keine Kenntnis anderer Menschen möglich, und man kann deshalb solche Fragen nicht beantworten. Wie dem allem aber auch sei: ein Dichter ist jedenfalls ein Mensch, der viele Menschen mit ihrem wahren Sein ist, oder der vielleicht gar nicht grundsätzlich von andern verschieden ist, nur daß seine Zunge gelöst scheint und seine Sprache ihm erlaubt, sich selbst ganz darzustellen, indem er verschiedenartige Personen schafft: Ameisen und Löwen.

Hebbel sagt einmal: »Daß Shakespeare Mörder schuf, war seine Rettung, daß er nicht selbst Mörder zu werden brauchte.« Sollte das Wort nicht als beweisend angenommen werden für den Mann, auf den es gemünzt war, so ist es doch sicher beweisend für den, der es münzte. Shakespeare wie Hebbel schufen Mörder, sie schufen aber auch Engel und die überhaupt verschiedensten sittlichen Möglichkeiten lebten in ihnen.

Der Löwe hat seine Daseinsberechtigung wie die Ameise; und wenn jedes sein sittliches Gesetzbuch hätte, das ihm ja nur fehlt, weil es nicht über den menschlichen Verstand gebietet, so würde jedes auch mit gutem Gewissen leben. In dem Menschen, der beide Wesen in sich vereint, müssen beide daseinsberechtigt sein und ein gutes Gewissen haben. Und man frage nur einen Dichter: er wird für sein Phantasieleben, das heißt, für sein wirkliches und wichtiges Dasein dieses Jenseits von Gut und Böse ohne weiteres zugeben, mag er auch verständigerweise in seinem äußeren, gesellschaftlichen Dasein sich völlig dem Kodex der Rinderherde unterordnen.

Es ist nun sehr merkwürdig, daß die großen Dichter und diejenigen, welche sie verstehen können, ein ganz sicheres Gefühl dafür haben, wie die Handlungen der gedichteten Charaktere beschaffen sein müssen, daß sie ihrem entsprechenden Sittenkodex gemäß sind, der ja gar nicht begrifflich gefaßt ist, in Wirklichkeit also nicht da ist: daß also ihre Daseinsberechtigung und ihr gutes Gewissen entsteht. Lady Macbeth wie Cordelia müssen so sein, wie sie sind, und nicht anders. Im Leben würden wir uns gegen die Lady nicht nur wehren, wir würden sie verabscheuen; im Drama fesselt sie uns aufs höchste – denn im Leben können wir aus unserem durchaus berechtigten Herdeninstinkt den bösen Manschen nur als einen Gegner empfinden, der kein Recht hat zu leben, weil sein Dasein das Dasein der Gesellschaft und damit unsere eigene Kleinlichkeit unmöglich macht; in der Kunst schweigt dieser Instinkt, wenigstens bei dem Gebildeten, der sicher ist, daß er aus der Kunst nie Motive für das Leben holen wird; der weiß, daß eine der Aufgaben der Kunst ist, unseren bösen Trieben Äußerungsmöglichkeiten zu schaffen.

Freilich, so einfach diese Sätze klingen, so wenig sind sie im Grunde anerkannt. So scheint mir Nietzsches Moralphilosophie ein unzulässiger Versuch zu sein, die ästhetischen Bewertungen in das bürgerliche Leben – das äußere Leben der Menschen ist immer bürgerlich, auch das der Propheten, Künstler und Herrscher – hineinzubringen; so leiden umgekehrt hervorragende Kunstwerke immer noch unter der bürgerlichen Verfemung, etwa ein so gewaltiges Werk wie die »Liaisons dangereuses«.

Jenes merkwürdige Gefühl der großen Dichter und der wenigen Gebildeten ist vielleicht als ein Bewußtsein erreichter Durchdringung von Welt und Ich aufzufassen: es gehört jedenfalls zu dem unerklärlichen Grund der menschlichen Natur.

Wenn die ganze Stufenleiter der sittlichen Möglichkeiten in einem Dichter vorhanden ist, so wird naturgemäß sein Inneres ein beständiger Kampf sein, und die Welt, die ja immer nur unser als Äußeres geschautes Inneres ist, muß ihm als Kampf erscheinen. Hier ist der psychologische Ursprung der Tragödie.

Nicht jeder innerlich tragische Dichter braucht Tragödien zu schreiben: Dostojewski etwa hat sich durchaus angemessen im Roman geäußert, vielleicht weil er ein gewolltes sittliches Ideal, starr formuliert aus dem bürgerlichen Leben – er war eine auf das Sittlich-tätige gerichtete Natur –, in seine Kunst hinübernahm und deshalb seinen bösen Menschen nicht mehr unbefangen gegenüberstand; es kann ein Dichter von Natur einheitlich empfinden und der geborene Epiker sein, wie Tolstoi, der künstlerisch aus einer idealen bürgerlichen Moral heraus bildet und so, dank seiner außerordentlichen dichterischen Begabung, das Höchste etwa von schönem und gutem Hausbuch schafft. Es fallt auch nicht jeder tragische Dichter unter diese Ordnung.

Vor allen Dingen nicht die antiken: denn bei ihnen entsteht der Kampf aus der Beziehung einer sachlich gegebenen Lage zu sittlich nicht sehr verschiedengestalteten Menschen. Auch nicht die spanischen; denn hier sind die Menschen Typen, die auf Grund der Lage geschaffen sind, nicht aus der Tiefe des Dichters heraus gestaltet. Es beginnt diese Art erst mit den Engländern, deren Hauptvertreter Shakespeare ist.

Bei den Engländern hat frühzeitig die rein ästhetische Anteilnahme an der Darstellung von Charakteren das Religiöse sowie das Imperativisch-Moralische im Drama überwuchert. Aber sie haben auf ihrem Höhepunkt, in Shakespeare, im Grunde immer episch empfunden und das Tragische ersetzt durch schauspielmäßig-theatralische Anreize. Erst die Deutschen sind mit Kleist, dann mit Hebbel, indem sie in die Tiefe der Charaktere gingen, auf das Tragische gekommen, das ich oben genau zu bestimmen suchte. –

Nietzsche ist metaphysisch ein naiver Phänomenalist – ein gewollt naiver, der nach Kant philosophierte und das Ding an sich als leer und als Mystik empfand. Das ist sein Wille: den mag man aus dem Lebensgefühl als falsch empfinden, aber eine Willensäußerung ist unwiderlegbar. Er verhält sich folgerichtig; und wie die Folgerichtigkeit in solchen Dingen immer ins ungereimte führt, kam er so zu der Lehre von der ewigen Wiederkehr, die doch eigentlich nur Stoikern und Materialisten angenehm sein sollte. Wie die meisten Phänomenalisten ist er durch psychologische Antithese ein Gesetzgeber und Neuerer. Die früheren Phänomenalsten waren politisch Liberale und erhofften ihr tausendjähriges Reich noch auf Erden: aber sie lebten nur erst in der Hoffnung, Nietzsche in der Erfüllung, und da er sah, daß es hier nicht kam, so verlegte er es in eine ferne Zukunft: in den Übermenschen. Ihm wie anderen wurde nicht klar, daß hier ein unlösbarer Widerspruch vorhanden ist: wer an die ewige Wiederkehr, an die völlige Bedingtheit des menschlichen Willens, an die Objektivität der Ursächlichkeit glaubt: wie kann der verlangen? Er glaubt ja an die Vorherbestimnmng, wie kann er den Übermenschen verlangen? Er glaubt ja an einen gleichgültigen Kreislauf, an ein Vielleicht des Kreises, in dem ein Niedergehen ebenso wahrscheinlich ist wie ein Hochgehen und wünschbar das eine sowenig wie das andere.

Und wenn das auch nicht wäre: was kann einer vom Übermenschen wissen? Ist der Mensch selbst – angenommen die Lehre der gemeinsamen Abstammung mit den Affen – eine Höherbildung oder eine Entartung? Wertet man, so muß man auch diese Frage stellen, und Nietzsche selbst hat sie gestellt in seinem tiefen Gedanken »Der Mensch als das kranke Tier«. Dann aber: Nach welcher Richtung geht die Entwicklung zum Übermenschen? Wie kann einer etwas wollen, von dem er nichts weiß? Und endlich: Kann ein Wesen zugleich Züchter und Gegenstand der Züchtung sein?

Ich habe die Wesensgemeinschaft Nietzsches mit dem Liberalismus hervorgehoben: greifbar deutlich wird die in seiner Philosophie der Macht und in seiner Hochschätzung der Persönlichkeit Napoleons.

Von allem, was man über Napoleon gesagt hat, scheint mir das Wort Niebuhrs das tiefste zu sein: Das Genie der Gemeinheit. Das Wort enthält auch die treffendste Erklärung der Macht. Macht ist nicht, wie Nietzsche glaubt, das Herausnehmen des Willens der anderen und Einsetzen des Willens des Herrschers; jede gesellschaftliche Wirkung ist Wechselwirkung, und Macht ist nur die klare Fassung des unklaren Willens der anderen, die »Herde« folgt dem »Starken« nur deshalb, weil er den Futterplatz kennt, weil er einer aus der Herde ist, und in ihm, dem Einzelnen, bewußt werden kann, was in ihr, der Menge, naturgemäß unbewußt bleiben muß: jede Bewegung erzeugt sich ihren Führer, nie erzeugte ein Führer eine Bewegung. So war Napoleon nichts als die verkörperte französische Revolution. Das Gefühl, eine große Masse hinter sich zu haben, bewirkt in dem Führer ein ungeheures Selbstbewußtsein; das ist aber durchaus trügerisch und lediglich Rückstrahlung. Es gab gewiß auch große Menschen unter den Mächtigen: sie alle haben das schwermütige Urteil gefallt, daß sie Sklaven seien. In einer anderen äußeren Form gilt das nicht nur von den politisch Mächtigen, sondern auch von den geistigen Machthabern, den großen Dichtern und Denkern: sie selbst haben nicht den Willen der Menge ausgedrückt, aber die Menge fand in einem ergänzungsbedürftigen Bruchteil ihrer Gedanken oder gar in einem Mißverständnis ihres Werkes das, was sie brauchte, und so übten zwar nicht sie selbst Macht aus, aber das übte Macht aus, was die Menge wollte, daß sie sein sollten. So könnte man Nietzsches »Willen zur Macht« ganz gut übersetzen als »Willen zur Unterordnung«. Für den Psychologen ist es sehr merkwürdig: bis in den entferntesten Winkel hat Nietzsche den Willen zur Macht – seinen Willen zur Macht – verfolgt, bis zum Heiligen und Asketen; aber den einen Mann hat er vergessen, der allein nicht den Willen zur Unterordnung hat, der dasjenige Maß von Macht besitzt, das allein uns Menschen gegönnt ist, nämlich Christus.

Freilich ist das nicht der Christus, den Nietzsche darstellt, der viel eher ein Selbstbildnis sein könnte. Die Gestalt greifbar darzustellen, ist wohl unmöglich aus vielen Gründen; ja es ist sehr wohl zu denken, daß man den wenigen Zügen, die ich hier geben möchte, entgegengesetzte gegenüberstellt. Aber es handelt sich ja nicht um eine geschichtliche Persönlichkeit, sondern um ein beschränktes Leitbild, das man aus ihr herausschälen könnte.

Man denke sich, daß ein Mensch alles, was zur Erhaltung seiner leiblichen Person nötig ist, auf ein Mindestmaß beschränkt, daß er noch nicht einmal besitzt, wohin er sein Haupt legen kann, sondern lebt wie die Vögel unter dem Himmel, so daß er kaum jemandem als Gegner im Kampf um das Leben erscheinen kann; der in einem solchen etwaigen Kampf sofort nachgäbe und zu dem Rock auch den Mantel ließe; der selbst physische Kränkung ohne Erwiderung hinnähme und die andere Backe darböte; der, noch mehr, seine sittliche Persönlichkeit nicht gegen andere durchsetzen will und nicht richtet; der, noch mehr, aus sich selber alles entfernte, das ihn abhängig machen könnte, und sich das rechte Auge ausrisse, wenn es nötig wäre; wenn er das alles nicht täte aus Askese, um Gewalt über sich zu gewinnen durch Selbstpeinigung, sondern auch das nicht einmal wollte; sondern nur frei sein wollte von andern wie von sich: ein solcher Mensch hätte offenbar die höchste Freiheit, die uns Menschen möglich ist. Diese würde sich scheinbar als Liebe der Menschen äußern, wäre aber doch in Wahrheit – unbewußt wäre nötig – Verachtung der Menschen; scheinbar als Demut, und wäre in Wahrheit höchster Stolz. Auch im Christentum, das ja durchaus nicht mit der Lehre Jesu übereinstimmt, findet sich denn doch oft genug die Gesinnung Jesu wieder; ganz natürlich ist die Lehre der Kirche etwas anderes wie die Empfindung und Gesinnung des genialen Einzelnen: vielleicht ist es sogar nötig, daß sie ihr Gegenteil ist. Etwa die »Nachfolge Christi«, die Nietzsche merkwürdigerweise für ein Armeleutebuch hält, sagt: » Caritas habenda est ad omnes, sed familiaritas non expedit.« Ein stolzeres und vornehmeres Wort hat wohl nie ein Mensch gesagt. Dieser Mensch kann dann alle andern nur betrachten als Unglückliche, die im Dunkel verirrt sind. Er wird ihnen seine einfache Lehre mitteilen: und wenn ihn, wie in Nazareth, seine Jugendfreunde dann steinigen, dann wird er nur kopfschüttelnd und mit einem heiteren Witzwort fortgehen: »Ein Prophet gilt nichts in seinem Vaterlande«. Wer so denken und handeln kann, der besitzt offenbar die höchste menschliche Kraft, die sich denn nicht mehr einzeln äußert, sondern anmutig die ganze Persönlichkeit ist. Man hatte im Orient eine sehr viel tiefere Vorstellung von Gott gewonnen, wie selbst die edelsten Völker des Abendlandes erreichen konnten: den abendländischen, ganz menschlichen Göttersöhnen stellte man mit Recht diesen Mann als den Gottessohn entgegen: denn Gott ist wohl das unfreieste Wesen, das wir uns vorstellen können, dieser Sohn Gottes aber ward als Mensch das freieste Wesen, das es geben kann. Dieses Ideal Jesu geht sicher nicht auf die Erhöhung der Menschheit als solcher, sondern nur des einzelnen Menschen; das sagt er selber klar genug. Man kann es, wenn man will, als Niedergangserscheinung auffassen. Das ist aber, auch wenn es richtig wäre, keine Kritik des Ideals, sondern nur der Ansicht, daß es für alle Menschen verbindlich sein solle. Hier irrt Nietzsche beständig, eben weil er selber ein für alle Menschen verbindliches Ideal aufstellen möchte, auch er drückt nur sein eigenes persönliches Sittengesetz aus.

Das sollte man sich sagen: Die Moralpsychologie wird zwar nie eine Wissenschaft werden, wie Psychologie überhaupt nie eine Wissenschaft werden kann; aber sie wird uns im Laufe der Zeit, wenn sie gänzlich von allen Überbleibseln der imperativischen Moral gereinigt ist, die wertvollsten Aufschlüsse über Dinge gewähren, die wohl zu den allerwichtigsten gehören. Jede imperativische Moral aber, auch die noch so verklauselte Nietzsches, sollte man aus dem Gebiete des höheren Geistes entfernen und bloß praktisch behandeln, als eine Art höhere Gesetzgebung, die lediglich auf Nutzen gerichtete Gesichtspunkte haben muß: die Regelung des Verhältnisses von Gesellschaft und Einzelwesen. Und auch wie bei der Gesetzgebung soll man sich klar sein, daß man immer nur das Grobe und die gesellschaftliche Regel fassen kann, nie das Außergewöhnliche und Verfeinerte, das für den Bestand der Gesellschaft – in diesem Falle gilt nur dieser Gesichtspunkt – doch auch notwendig ist, wie in roher Weise bereits der verrufene Mandeville gelehrt hat und in feinerer Weise der widerspruchsvolle Nietzsche zuweilen selber sagt. Jedenfalls verdanken wir nach den englischen Moralskeptikern des 18. Jahrhunderts Nietzsche selbst den stärksten Anstoß zu einer solchen Auffassung.

Es ist sehr schlimm, daß wir heute nicht mehr den Unterschied von exoterischen und esoterischen Lehren machen können. Diese Unmöglichkeit hemmt den geistigen Fortschritt gerade in den wichtigsten Dingen, denn jeder, der hier denkt, muß sich die ernste Frage vorlegen: Wie aber, wenn deine Gedanken nach zehn Jahren für den Pöbel mundgerecht gemacht werden? Nietzsche selbst hat oft genug so gedacht, und hauptsächlich seine kühne Freude an der Gefahr hat ihn seine Bedenken überwinden lassen. Man sollte die Bedenken auch wohl nicht haben, denn schließlich ist ja Schicksal und Wirkung eines jeden Gedankens unberechenbar.

Der Grundirrtum jeder imperativischen Moral ist die Vorstellung, daß eine für alle Menschen gültige Ethik möglich sei. Aber an jeden Wünschen müssen verschiedene Ansprüche gestellt werden von den anderen wie von ihm selber: ja in den verschiedenen Lebensaltern gelten für den Einzelnen wieder verschiedene Moralen. Die Praxis, die ja immer klüger ist wie die Theorie, hat sich immer damit geholfen, daß sie nur ein Gebiet des ethischen Handelns unter die eigentlich sogenannte Moral gab und andere Gebiete abgrenzte unter Ehre, Sitte, Herkommen, Standesbewußtsein und ähnliches. Die notwendigen Kämpfe, die entstehen, wenn etwa die sogenannte Ehre etwas anderes befiehlt wie die sogenannte Moral, wurden unbefangen als selbstverständlich angenommen, und die Moralwissenschaft hat überhaupt gar nicht an sie gedacht, sie hatte genug zu tun, wenn sie einen allgemeinen Grundsatz suchte, gemäß dem Drange der Menschen auf Verallgemeinerung und Vereinfachung. Im Mittelalter hatte man eine feste Richtschnur, nach welcher man bestimmte, welche Menschen über den Gesetzen standen; die haben wir heute nicht mehr, und so stehen außer den Fürsten heute alle unter dem Gesetz. Man hatte die Richtschnur auch für die herrschende Moral: wenn wir heute auf irgendeine Weise die Menge abgrenzen könnten, für welche eine exoterische Moral gelten muß, so wäre das sehr gut: leider ist das ganz unmöglich.

Nietzsches Unterscheidung von Herren- und Sklavenmoral ist ein Gedanke des allerersten Ranges, durch den unendlich viel erhellt wird; aber ich halte seine Darstellung im einzelnen für falsch; besonders seine Verbindung mit physiologischen Erwägungen; und auch die Schlüsse scheinen mir anfechtbar, besonders der Gedanke einer neuen Moral. Alles, was ich hier sage, kann ich nicht als Philosoph sagen, denn ich bin mir bewußt, daß mir fast alles fehlt, was einen Menschen zum Philosophieren berechtigt; aber ich sage es als Dichter, und ich glaube, daß in diesen Dingen der Dichter ein wichtiges Wort zu reden hat; Nietzsche selbst gibt das oft genug zu.

Der Philosoph der ewigen Wiederkehr kann doch keinen anderen Zweck des Lebens annehmen als etwa das Vergnügen eines Gottes an einem Kreiselspiel; der Philosoph des Übermenschen nimmt als Zweck des Lebens die Höherentwicklung – die ja denn freilich selbst wieder einen Zweck haben müßte. Seine Kritik der angeblich herrschenden Moral, die er immer aus der Physiologie nimmt, und seine neue Moral haben beide den Zweck der Höherentwicklung der Menschheit. Aber ein solcher Zweck des Lebens kann doch nicht als eine allgemeinverbindliche Einsicht gelten, er ist lediglich ein Glauben. Man kann diesen Glauben teilen, so wenig Inhalt er auch hat, aber es kann noch andere Arten von Glauben geben, und ein jeder wird den haben, der ihm angemessen ist.

Das, scheint mir, sollte man gegen Nietzsches Philosophie sagen: Sie hat wie jede Philosophie die Anmaßung der Allgemeingültigkeit, aber wie jede Philosophie ist sie nur ein lyrisch-subjektives Bekenntnis eines großen Menschen, das sehr gefährlich für die kleinen Menschen werden kann, gefährlicher wie Schopenhauers und Hegels Philosophie war.


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