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Dichtung als Schöpfung

(1926)

Ein Schriftsteller, dessen Glaubwürdigkeit außer allem Zweifel ist, berichtete von der Wirkung eines bedeutenden, heute lebenden Dichters auf einen Mann; dieser Mann war nach seiner eigenen Angabe durch die genaue Bekanntschaft mit den Werken des Dichters in einer rein handwerksmäßigen Hantierung, die mit dem Dichter und dessen Werken gar nichts zu tun hatte, auffällig geschickt geworden. In einer literarischen Zeitschrift, einer Zeitschrift für Literaten, wurde dieser Bericht aufgegriffen als ein Beweis für die Blindheit und Überheblichkeit der Kreise um gewisse »Meister herum«, und es wurde geschrieben: »Die haruspices gehen noch immer herum, und das dumme Volk kriecht ihnen auf den Leim.«

Es gibt Personen, welche für die Dichtung unempfindlich sind. Ihnen ist kein Vorwurf zu machen, wenn sie die Geschichte nicht glauben. Aber wenn eine literarische Zeitschrift die Ansicht eines solchen Mannes verbreitet, so beweist das doch eine allgemeine Unkenntnis über Wesen und Wirken der Dichtung in Kreisen, wo man dergleichen nicht vermuten sollte. Es ist deshalb wohl nicht unzeitgemäß, darüber einmal eine Betrachtung anzustellen.

In einer Novelle läßt Tieck einmal einen jungen Mann folgendes schreiben, das zugleich die eigene Meinung Tiecks ausdrückt: »Wenn der Grieche schön ›Poet‹ sagt, so spricht der Deutsche auch löblich ›Dichter‹. Ja, dieser Begünstigte soll alles, was den gewöhnlichen Wünschen als Ahnung, Einfall oder gehaltlose Laune vor der Seele flattert, dichten, verdichten. Jene Geburten des zartesten Geistes, die das blöde Auge in der Natur, wenn diese im schaffenden Schlummer liegt und die süßen Träume geistig und durch Blumen und Blütenbäume fliegend ausgibt, gar nicht oder nur als matte und unbedeutende Gespenster sieht, soll der Poet verdichten, daß wir alle das liebende Herz und den Phantasiereichtum unserer Mutter erkennen. Die Wolkendünste des Gewitters, die den gewöhnlichen Menschen beängstigen und sein Leben verwirren, soll er in Lichtgestalt, in großartigen Schmerz, süße Wehmut, sinnige Melancholie und schöpferische Laune verdichten und umwandeln. Glaubst du, daß vielen Wünschen diese wunderbare Gabe verliehen sei? Denn es ist ja das Schaffen aus dem Nichts oder dem Chaos. Diese herrlichen, wackeren Schöpfer werden nur immerdar mit jenen verwechselt, die ich, ohne Bitterkeit und Ironie, im Gegensatz die Dünner, Verdünner, nennen möchte. Mit großer Geschicklichkeit, oft mit vielem Talent, wissen sie einen Gedanken, ein Gefühl, Bild, das ihnen beim Dichter auffällt, anmutig zu verdünnen, und das, was sich körperlich und geistig figuriert hat, wieder allgemach in die Gegend des Dunstes und Nebels mit vielen Worten hineinzuspedieren. Wenn der Dichter uns das Fernste und Unsichtbarste recht nahe vor die Augen rückt, so wissen diese Dünner das Nächste und Deutlichste so unkenntlich zu machen, daß man oft nicht ohne Erstaunen und einigen Schwindel ihren künstlichen Prozessen zusieht ... oft wirst du sehen, daß das echte Werk eines Dichters nicht viel Eingang findet und wenig beachtet wird. Was geschieht? Eine Anzahl Dünner macht sich an das unbehilfliche Wesen, schlägt, preßt, klimpert, zieht, dehnt, faselt und prattert und schnattert so lange, bis die verständigen Fabrikanten daraus ein Dutzend begeisternder Lieblingswerke hervorgeschnitzelt haben, die in der Literatur eine neue Epoche zu begründen scheinen.«

Man darf vielleicht schon zu den Zeiten Tiecks, gewiß aber heute, sagen, daß das, was so »Literatur« genannt wird, für die Mitlebenden die Gesellschaft dieser so beschriebenen Dünner ist, und so wird denn ein Literaturblatt wohl ein Dünnerblatt sein. Es ist verständlich, daß dem Dünner der Dichter äußerst unangenehm ist; es ist auch verständlich, daß die Leser der Dünner nicht angenehm berührt sind, wenn nun über Wirkung der Dichter etwas mitgeteilt wird. Wer einen übrigens durchaus achtbaren Feigenkaffee genießt, der spricht naturgemäß herbe über die Leute, welche Kaffee aus Kaffeebohnen vorziehen, und der Mann, welcher sich eine Limonade bestellt, blickt mit sittlicher Entrüstung auf die Flasche Rheinwein seines Nachbarn. Das ist nur menschlich. Schon Tieck ist sich klar darüber, daß die Zahl der Menschen, welche die Dünner vorziehen, sehr viel größer ist wie die Zahl der Dichterfreunde. Das Verhältnis hat sich mit dem Zunehmen der allgemeinen Bildung heute noch weiter zuungunsten der Dichterfreunde verschoben. Ein Literaturblatt erklärt die Dichterfreunde also nun heute bereits als haruspices, die einander nicht ansehen können, ohne über das betrogene Volk zu lächeln.

Man könnte vielleicht scharf antworten: was hat denn der Dichter, und was hat der Dünner? Der Dichter hat ganz gewiß keinen äußeren Lohn für seine sehr schwere Arbeit, er genießt auch nicht die Vorteile der Berühmtheit. Der Dünner verdient, er verdient unter Umständen sehr viel, und er kann sich im Glanz der Berühmtheit bei seinen Zeitgenossen sonnen. Der alte Keller, der ja wohl derber war als Tieck, sprach einmal von Gesindel, das den Dichtern ihr Geld und ihren Ruhm stiehlt. Na, wir wollen nicht so weit gehen: Der Dünner hat mit dem Dichter gar nichts zu tun, er nimmt's, wo er's kriegen kann, und das sei ihm gegönnt. Der Dichter hat außer dem Nachruhm nichts als die Verehrung der wenigen, welche imstande sind, Dichtung zu verstehen, und das Bewußtsein, auf deren Leben bildend einzuwirken. Aber wenn einer von diesen wenigen dankbar anerkennt, was ihm der Dichter gegeben hat, dann sollte man dem Mann doch wenigstens nicht nachsagen, daß er ein haruspex sei, dem das dumme Volk auf den Leim krieche – das dumme Volk weiß weder etwas von dem Dichter, noch von seinem Verehrer, sondern es weiß ja eben nur von dem Dünner! Der Vorwurf des Dünner-Verehrers ist logisch sehr schwach begründet; aber ein solcher Mangel an Logik hängt wohl innig mit der Dünner-Literatur zusammen.

Tiecks Worte über den Dichter sind geistreich, aber sie stellen doch die Tätigkeit des Dichters nicht ganz genau dar.

Was wir die Welt nennen, das ist zunächst nichts weiter als eine ungeformte Masse von Empfindungen, Wahrnehmungen und Vorstellungen. Sie ist unsere Schöpfung aus dieser ungeformten Masse. Aber man bilde sich nicht etwa ein, daß diese Schöpfung nun eine Selbstverständlichkeit ist und so nach Belieben von jedem vollzogen werden könne. Sie ist geschichtlicher Vorgang, und sie geschieht von besonders begnadeten Personen, deren hauptsächlichste die Künstler sind. Wenn ein Mann etwa eine grüne Wiese sieht, so soll er nicht denken, er sieht dasselbe, was ein Mensch sieht, dessen Geist künstlerisch gebildet ist, so soll er nicht meinen, daß diese Wiese, die er da als Ding sieht, das scheinbar außer ihm ist, schon da war, als die ersten Menschen geschaffen wurden. Von allen Künsten die höchste ist die Dichtung. Sie arbeitet mit dem Wort. Durch das Wort erst hat die Menschheit die Dinge und die Welt geschaffen; das sprachlose Tier hat weder Dinge noch Welt; und ein Geschlecht von Dichtern nach dem anderen arbeitet immer daran, die Welt durch das Wort noch besser zu fassen und zu formen – ihre Arbeit wird immer gestört durch die Unpoetischen, nicht zum wenigsten durch die Dünner.

Und das ist nur die sinnliche Außenwelt, die bisher betrachtet ist, das Gebiet, das der Dichter auch noch mit dem Maler teilt. Er hat aber zudem die Welt der Gefühle. In dieser schafft außer ihm noch der Musiker. Aber wenn die Gefühle nur durch die Musiker dargestellt würden, so würden sie nie zu begrifflicher Klarheit kommen können; erst dadurch aber, daß der Mensch seine Gefühle begrifflich erkennen kann, ist er imstande, Herrschaft über sie auszuüben, ihnen nicht wehrlos zu unterliegen wie das Tier. Etwa auch ein Pferd kann Stolz haben. Aber es weiß nicht, was Stolz ist. Das hat der Mensch von den Dichtern gelernt, und dadurch kann er das Gefühl beherrschen und zu Zwecken leiten, die ihm wichtig sind; erst seit dieser Beherrschung und Leitung der Gefühle ist die Möglichkeit der Höherbildung für ihn vorhanden.

Das sind ein paar Andeutungen, flüchtig und prosaisch ausgedrückt. In unserer klassischen Dichtung, die am meisten von allen Dichtungen bewußt gewesen zu sein scheint, finden wir überall begriffliche Darstellungen dieser Umstände und Verhältnisse. Man sollte annehmen, daß unsere Schulbildung wenigstens den Erfolg hätte, daß die Menschen das nun wüßten; aber die Menschen heute scheinen im allgemeinen bereits den Dünkel des Barbaren zu haben, der sein Leben für selbstverständlich hält; und da die Barbarei heute erworben ist und nicht natürlich gegeben, so ist sie nun mit bewußter Feindseligkeit gegen alles jenes Höhere verbunden, das der Gebildete mit Dank annimmt.

Wie die sogenannte Wirklichkeit, das heißt unsere Vorstellungswelt, erst durch die Formen unserer Vernunft zustande kommt, die denn im geschichtlichen Verlauf durch besonders begabte Menschen angewendet werden, so entsteht auch das, was man als die »innere Welt« bezeichnen kann oder als »Seele«, oder welches Wort man nun verwenden will, durch richtig angewandte Formen. Und hier dürfte die Wirkung der Dichter am auffälligsten sein, da man jenes andere als selbstverständlich hinnimmt, ohne es sich klar zu machen, woher es gekommen ist und noch kommt.

Eine alte griechische Sage erzählt, daß die Spartaner von den Athenern Hilfe verlangten und einen alten lahmen Schulmeister geschickt bekamen. Dieser Mann war aber Tyrtaios, durch dessen Gesänge die Spartaner so begeistert wurden, daß sie ihren Krieg gewannen. »Begeistert« ist ein Ausdruck, der leicht irreführt. Es handelt sich nicht um einen augenblicklichen Erregungszustand, sondern um ein dauerndes Weltbild. Es ist ein großes Unglück, das zu den notwendigen Folgen der Zivilisation gehört, daß mit zunehmender Zivilisation andere Personen als die Dichter dieses Weltbild schaffen. Von ihnen sind die Nichtigsten die Dünner. Man stelle sich etwa nur einmal vor, welcher Unsinn von den Dünnern über die Liebe verbreitet wurde und wird, wie dadurch die Menschen in falsche Lagen kommen, ihr Leben falsch einrichten und endlich selbst zerstören. Einen großen Teil Schuld an den gesellschaftlichen Verkehrtheiten von heute, vielleicht den größten, haben die falschen Gefühle, welche von den Dünnern verbreitet wurden. Bei den alten Griechen faßte man das Vorherrschen der falschen Gefühle als maßgebendes Zeichen der Barbarei auf. Das war richtig. Die Griechen waren sich bewußt, daß Homer ihre Götter gebildet hatte. Die Heutigen wissen nicht, daß ihr Gott von früheren Dichtern geschaffen ist. Die Griechen sind nicht zu der Einsicht gekommen, daß sie selber Geschöpfe ihrer Dichter waren; eine solche Einsicht ist erst heute möglich, wo wir eine viel größere Spanne Zeit geschichtlich überschauen können – vermögen wir uns doch heute ein Bild von dem geistigen Zustand der paläolithischen Menschen zu machen, von dem die Griechen überhaupt nichts ahnten.

Alle diese Ausführungen muß man natürlich zugleich mit einer richtigen Auffassung der menschlichen Gesellschaft verstehen. Die menschliche Gesellschaft ist eine Einheit, nicht eine Anzahl von Einzelnen. Die Einzelnen sind in ihr wie notwendige Teile eines Körpers, die zusammen den Körper bilden, allein aber nicht sein könnten, wie es der einzelne Mensch ja auch nicht könnte, wenn er in seinem Dünkel sich das freilich selten klar macht. In der menschlichen Gesellschaft haben die Dichter ihre bestimmte Aufgabe, wie irgendein Glied eines Körpers für den Körper eine Aufgabe hat, und was sie schaffen, das entspricht nicht etwa einer subjektiven Willkür, sondern das ist in ihnen entstanden durch die Notwendigkeiten der Gesellschaft, die ihre Arbeit brauchte: freilich wissen sie davon nichts, sie glauben, ganz frei zu sein.

Man kann diesen Zusammenhang am besten sehen, wenn man eine abgeschlossene Volksgeschichte vor sich hat. Die Griechen waren nicht ohne Homer, ohne die Lyriker und später die Dramatiker möglich gewesen, von denen sie ihre Lebensformen empfingen. Die Dichter ihrerseits aber konnten nur das sagen, was ungewußt in der Seele ihres Volkes lag, denn nur das konnte ja seine Wirkung ausüben. Sie sind nur Former, und sie erscheinen sich selbst und ihren Freunden als Schöpfer.


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