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Neuntes Kapitel.

Romanische Dichtung Frankreichs.

Während nun in Frankreich in dieser Periode die lateinische Poesie zu keiner Blüthe gelangt, und dort gegen die Deutschlands entschieden zurücksteht, so wird dagegen die Nationalpoesie, deren erste schwache Anfänge wir im vorigen Zeitraum beobachteten, sowohl im Süden als im Norden des Landes, in provenzalischer wie in nordfranzösischer Sprache, 359 schon in bedeutenderer Weise fortgepflegt, wiederum im Gegensatz zu Deutschland, in dem die Nationaldichtung fast ganz verstummte.

So besitzen wir aus Südfrankreich ein grosses Fragment einer grösseren didaktischen Dichtung, die in Anknüpfung und zum Theil selbst auf Grund der berühmten Consolatio philosophiae des Boëtius verfasst, Boëthius oder Boeci betitelt worden ist. In: Diez, Altromanische Sprachdenkmale, S. 33 ff. (mit Erklärung). – Bartsch, Chrestomathie provencale. 4 e éd. Elberfeld 1880. p. 1. – Paul Meyer, Recueil d'anciens textes baslatins provencaux et français. 1 e partie. Paris 1874. pag. 23 ff. – Hüntgen, Das altprovenzalische Boëthiuslied, unter Beifügung einer Uebersetzung, eines Glossars, erklärender Anmerkungen u. s. w. Oppeln 1884. – – K. Hofmann, Die Quellen des ältesten provenzal. Gedichts, in: Sitzungsber. d. k. bayer. Akad. zu München, Jahrg. 1870, Bd. II, S. 175 ff. – Böhmer, Zum Boeci, in: Roman. Studien, Bd. III. 1878. S. 133 ff. Es sind 257 Zehnsilbler, die zu einreimigen Tiraden verbunden sind. Das Werk ist wohl um die Mitte des Jahrhunderts gedichtet. S. Diez a. a. O. S. 35.

Das Gedicht ist, wie der Eingang zeigt, an die Jugend gerichtet, welche in den Tag hinein lebt, ohne an Gott zu denken, Sünden begeht und nicht bereut, noch sich bessert: dieser Jugend soll das Schicksal des Boëtius und der Trost, den er erhielt, zur Lehre dienen. Boëtius – so erzählt der Dichter auf Grund alter Vitae Sie hat zuerst Obbarius in den Prolegg. (p. XXIV ff.) seiner Ausg. der Consolatio philos. Leipzig 1843, diplomatisch genau edirt, und Hofmann a. a. O. zur Erklärung des Gedichts geschickt benutzt., deren Sprache er aber an einzelnen Stellen missverstanden hat – Boëtius, dem an Weisheit niemand in Rom gleichkam, war Graf dieser Stadt und bei dem Kaiser Torquator Mallio in höchster Gunst, so dass er das ganze Reich regierte. Mallio's Nachfolger aber, Teiric (Theoderich) war ein Ungläubiger und wollte deshalb nichts von Boëtius wissen, noch auch dieser ihm dienen. Ja, Boëtius tadelte ihn selbst in einer Rede. Da gedachte der beleidigte Teiric ihn der Felonie zu zeihen. Er liess einen Brief im Namen des Boëtius schreiben und dann auffangen, worin dieser die Griechen berief, um ihnen durch Verrath Rom zu überliefern. Eine Hinweisung auf einen solchen Brief findet sich auch in der Consolatio l. I, pr. 4: Nam de compositis falso litteris, quibus libertatem arguor sperasse Romanam, quid attinet dicere? – Vgl. übrigens das Leben des Boëtius oben Bd. I, S. 463. Darauf hin klagt ihn dann Teiric auf dem Kapitol 360 an; Boëtius, von seinen Freunden verlassen, wird in das Gefängniss geworfen.

Bis hierhin (v. 71) folgt der Dichter den Vitae, von da ab knüpft er an die Consolatio philosophiae an, indem er zunächst den Boëtius sein Schicksal beklagen lässt. Vgl. zum Folgenden meine Analyse des Inhalts der Consolatio Bd. I, S. 466 ff. Die moralisirenden Betrachtungen desselben, zu denen jenes Werk unserm Dichter die Anregung gibt und die Gedanken liefert, erhalten aber einen andern Charakter und nehmen selbst eine ganz neue Wendung Das innere Verhältniss des Gedichts zu dem Werk des Boëtius im ganzen hat man bisher nicht betrachtet, sondern sich nur darauf beschränkt, auf die Entlehnung von Einzelheiten hinzuweisen, so nach Diez Hofmann und Meyer; aber auch in dieser Beziehung gab man nichts vollständiges. So fehlt bei v. 97 f. der Hinweis auf Consol. l. I, carm. 2 v. 6 ff. (namentlich v. 9, 14, 16, 19); bei v. 121 auf Consol. l. II, prosa 2, bei v. 124 auf l. II, prosa 5 ( quod si manere apud quenquam non potest quod transfertur in alterum); bei v. 142 auf l. I, carm. 1 v. 21 f.; bei v. 195 auf Cons. l. I, prosa 1 ( eandem vestem violentorum quorundam sciderant manus) u. s. w., indem der letzte der Philosophen des alten Rom hier zum Vollchristen, zum christlichen Theologen gleichsam gemacht wird, wie man ihn ja auch als Märtyrer betrachtete und selbst verehrte. S. oben Bd. I, S. 464. Boëtius erklärt in seinem Schmerz, dass er allein auf Gott sich verlasse, auf dessen Erbarmen alle Sünder bauen. An Gott solle man aber schon in der Jugend und im Glück denken, so stehe es in vielen Büchern zu lesen, um im Alter und Unglück ihn in sich zu tragen. Auf seinen Besitz, der so veränderlich sei, kann sich niemand verlassen, nicht einmal auch auf den Tod, der sich taub stellt, wenn man ihn ruft. – Mit Unrecht lobten einst Boëtius Freunde und Verwandte, dass er sich fest an den Herrgott hielte; das war nicht der Fall, er klammerte sich vielmehr an das Irdische an (v. 138 ff).

Als nun Boëtius so seine Leiden und Sünden beklagt, erscheint ihm (v. 160) ein hohes Weib, welches in der Consolatio die Philosophie ist. In unserm Gedicht ist es ein Fräulein, die Tochter des Königs, »der grosse Gewalt hat«: offenbar die christliche Sapientia, Sie erscheint personificirt u. a. in der Psychomachie des Prudentius, v. 875 ff., sie trägt dort auch ein Scepter. Vgl. oben Bd. I, S. 275. die Tochter Gottes. Der Dichter schildert 361 ihre Erscheinung und ihre Kleidung auf Grund der Consolatio, S. oben Bd. I, S. 466. nur führt er deren Darstellung in einzelnen Punkten weiter und zwar eigenthümlich aus: so erleuchten ihre »feurigen und durchdringenden Augen« die Umgebung weithin, und niemand kann sich vor ihrem Blicke verbergen, sie schaut selbst in die Herzen. Wie in der Consolatio, kann sie sich klein und gross machen, wie dort wird ihre Gewandung beschrieben, nur ist dieselbe in der Consolatio nicht blendend weiss, wie hier, im Gegentheil durch das Alter dunkel geworden. Quarum (scil. vestes) speciem, veluti fumosas imagines solet, caligo quaedam neglectae vetustatis obduxerat. – Ein Zusatz unseres Gedichts an dieser Stelle sei hier noch erwähnt: li drap sun bastit de caritat et de fe. v. 200. Hier ist, wie dort, auf dem untern Rande des Kleides ein Π, auf dem obern ein Θ eingewebt, unser Dichter aber gibt die Bedeutung dieser Buchstaben, die dort nicht gegeben wird. Der erstere bezeichnet das irdische Leben, der zweite das himmlische Gesetz. de cel la dreita lei. v. 208. Zwischen beiden findet sich eine Leiter mit Stufen: so hat schon die Consolatio, aber unser Dichter knüpft hier eine eigenthümliche längere Ausführung an. Die bei ihm goldene Leiter besteigen tausende von Vögeln, von denen manche wieder hinab umkehren; die aber, welche zum Θ hinaufgelangen, nehmen sogleich eine andre Farbe an, sie pflegen dann sehr grosse Liebe mit dem Fräulein (v. 215).

Der Dichter gibt darauf die Bedeutung ( significacio) der Allegorie. Die Stufen der Leiter bestehen aus Tugenden, aus Almosengeben, Glaube und Liebe, aus Treue, Freigebigkeit, Freudigkeit, Wahrheit, Keuschheit, Demuth: ein jeder Gute macht sich seine Stufe. Die Vögel, die zum Θ hinaufgestiegen, sind die Guten, die ihre Sünden gebüsst haben, auf die heilige Dreieinigkeit bauen und nach irdischer Ehre nicht verlangen. Die Vögel dagegen, die sich umwandten, sind alle die, welche, in der Jugend gut (weshalb sie die Leiter bestiegen), im Alter schlecht werden. Sie verfallen der Hölle. Die Himmelsleiter ist auf Grund der Vision Jakobs in der Literatur und Kunst des Mittelalters mannichfach dargestellt, so auch später in der allegorischen Nationalpoesie Frankreichs, wie in der Voie de Paradis von Raoul de Houdanc; auch da sind der Stufen acht und dieselben von Tugenden gebildet, doch zum Theil von andern als in unserm Gedicht. Die Leiter fand sich auch in dem Werk der Herrad von Landsberg abgebildet (das Bild ist wiedergegeben in Engelhardts Werk über den Hortus deliciarum Tafel IX); sie besteht da nur aus sieben Stufen, und die sie bildenden Tugenden sind zum grossen Theil wieder andre (indem Herrad in ihrer Auswahl offenbar aus Rücksichten auf das Kloster sich leiten liess), die verschiedenen Klassen der Gesellschaft erscheinen hier vom Standpunkt der Heiligkeit betrachtet, auf den verschiedenen Stufen: zu oberst der Eremit, dann der Inclusus, dann weiter nach einander der Mönch, der Clericus, der Laie. Es sind nur solche dargestellt, die, von irdischen Gütern angezogen, herabfallen; am Fusse der Leiter ist der Drache zum Angriff bereit. Auch unser Dichter schliesst seine Darstellung recht anschaulich v. 239 f.:
        ven lo diables qui guardal baratro,
        ven accorren sil pren per lo talo etc.
Auch die Darstellung der Seelen durch Vögel ist im Mittelalter gewöhnlich, so namentlich beim Abscheiden der Seele; auch die bösen Geister finden sich in dieser Gestalt, wie bei Herrad a. a. O. Tafel VIII.
– Der Dichter 362 erzählt dann weiter, wie das Fräulein in der Rechten ein glühendes Buch hält, womit es die Sünder, die keine Busse gethan, zur Strafe brennt, in der Linken aber ein königliches Scepter trägt, das die »leibliche« Gerechtigkeit bedeute. Die Consolatio hat nur: Et dextra quidem eius libellos, sceptrum vero sinistra gestabat. Ist die Darstellung der mit dem brennenden Buche ausgeführten Strafe eine willkürliche Erfindung des Dichters?

Hier bricht die Dichtung mit dem Anfang des folgenden Verses in der einzigen Handschrift, die sie überliefert hat, ab. Viel scheint mir keineswegs zu fehlen, denn den Haupttrost, welchen in der Consolatio die Philosophie dem Boëtius gibt (Buch 3), hat der Dichter schon vorn weggenommen, indem er ihn, ins christliche übersetzt, den Boëtius bereits aussprechen liess: jener Trost besteht darin, dass Gott allein, als das höchste Gut, das Ziel des nach Glückseligkeit Strebenden sein kann. Vieles aber was ausserdem, namentlich was in den beiden letzten Büchern der Consolatio sich behandelt findet, konnte unmöglich unser Dichter zum Gegenstand seiner Verse machen. Seinen didaktischen Zweck hatte er ohnehin schon jetzt wohl erreicht.

Das Gedicht, dessen Sprache zwar noch alterthümliche Züge zeigt, aber im ganzen schon vollkommen ausgebildet erscheint, ist im ältesten epischen Versmass der provenzalischen wie französischen Dichtung, das hier zuerst sich findet, verfasst. Und zwar zeigt dasselbe bereits alle die Eigenthümlichkeiten, 363 wie sie in der älteren Epik Nordfrankreichs uns wieder begegnen. Der Vers ist der Zehnsilbler, welcher auf der vierten Silbe den Hauptaccent hat, der eine Pause, Cäsur, zur Folge hat, welche die Langzeile in zwei Theile gliedert: die Cäsur kann, gleich dem Ausgang des Verses, eine männliche oder weibliche sein, je nachdem sie unmittelbar nach der vierten betonten eintritt oder auf diese erst noch eine tonlose Silbe folgt, die bei der Silbenzählung ebenso wenig mitgerechnet wird als die unbetonte des weiblichen Reimes, indem in den Sprachen Frankreichs der Vers mit männlichem Ausgang als der Normalvers betrachtet wird. Unserm Gedicht ist eigenthümlich das Vorherrschen der weiblichen Cäsur, während dagegen der Reim durchaus ein männlicher ist. Uebrigens sind seine Verse in der Regel wohl gebaut. Die 25 Verse, die im Ms. in Bezug auf die Silbenzahl fehlerhaft sind, lassen sich leicht berichtigen. Das Enjambement findet sich sehr selten. Diese Langzeilen sind nun, wie in der Epik, zu einreimigen Tiraden, d. h. Strophen von beliebiger Verszahl, verbunden; der Reim kann ein unvollständiger, blosse Assonanz sein – in der nordfranzösischen Epik das gewöhnliche; in unserm Gedicht zeigt sich schon ein Streben nach vollständigem Reim, indem von seinen 32 Tiraden (von der letzten sind freilich nur die ersten Verse erhalten) über die Hälfte bereits Vollreim zeigen. Die Tiraden zählen von 3 bis zu 16 Versen. Der Ursprung des Verses ist noch nicht erforscht, so viele Versuche auch deshalb gemacht sind, sie befriedigen sämmtlich gar nicht. Rajna, Le origini dell' epopea francese pag. 560 ff., gibt die vollständigste Uebersicht derselben. Wenn er mit Recht die bisher versuchten Herleitungen des Verses aus lateinischen Metren für absurd erklärt, so gilt dies Urtheil doch nicht weniger von der seinigen – aus einem keltischen Versmass.

 

Der nordfranzösischen Sprache gehören zwei Dichtungen an. Von ihnen zeigt allerdings die eine auch südfranzösische Formen, In der Passion lassen sie sich durch die Textkritik nicht entfernen, wenn dieselbe nicht zu den willkürlichsten Aenderungen greift, wie dies Lücking (Die ältesten französ. Mundarten. Berlin 1877. S. 38 ff.) gethan. indem sie offenbar in einem Grenzgebiet beider Sprachen verfasst worden ist. Es ist das unter dem Titel: Die Passion Christi In: Diez, Zwei altromanische Gedichte. Bonn 1852. – *G. Paris, La Passion du Christ. Texte revu sur le msc. de Clermont-Ferrand, in: Romania, Ann. 2, 1873, pag. 295 ff.Diez, Zur Kritik der altroman. Passion Christi, in: Jahrb. f. roman. u. engl. Lit. Bd. VII, pag. 361 ff. publicirte Gedicht, welches in 364 129 vierzeiligen paarweis gereimten Strophen verfasst, 516 Achtsilbler zählt. Diez wirft im Jahrb. a. a. O. die Frage auf, ob wir nicht etwa nur ein Bruchstück, den letzten Abschnitt eines das ganze Leben Christi umfassenden Werks in dem Gedicht besitzen, und glaubt, dass der Anfang (s. die folgende Anm.) auf eine solche Vermuthung führen könne. Einer solchen Hypothese widerspricht die zweite Strophe entschieden: Trenta tres anz et alques plus | Des que carn pres in terra fu, | Per tot obred que verus deus | Per tot sosteg que hom carnals. Auch Strophe 112 möchte dagegen sein. Der Dichter bezeichnet selbst so in der ersten Strophe den Gegenstand seines Liedes. Hora vos dic vera raizun | De Jesu Christi passiun | Los sos affanz vol remembrar | Por que cest mund tot a salvad. Doch hat er, nachdem er denselben mit der Strophe 112 beendigt, in den letzten 17 Strophen noch einen Anhang gegeben, worin er die Erscheinung Christi, seine Himmelfahrt und die Ausgiessung des heiligen Geistes, dann noch in der Kürze die Verkündigung des Evangeliums durch die Apostel und ihr Märtyrthum behandelt, um mit einer Vermahnung zur Frömmigkeit zu schliessen, »da das Ende der Welt nicht sehr fern und das Reich Gottes gar nahe ist«: Schon aus dieser Stelle hat man mit Recht geschlossen, dass die Dichtung dem zehnten Jahrhundert angehört, da damals allgemein mit Ablauf desselben das Ende der Welt erwartet wurde, viel mehr als zu irgend einer andern Zeit des Mittelalters. Christus sei den Sündern gnädig, ihm möge der Dichter es danken, den Vater und den heiligen Geist in alle Ewigkeit lobpreisen können!

Der Verfasser folgt in seiner Erzählung im allgemeinen dem Bericht der Evangelien und der Apostelgeschichte, doch gedenkt er auch dem Glaubensbekenntniss gemäss in aller Kürze der Höllenfahrt; an einigen Stellen hat er eine fromme Betrachtung oder eine symbolische Erklärung hinzugefügt, so warum der ungenähte Rock nicht getheilt wird (Str. 69), oder was der Honig und der Fisch bedeuten, die der Auferstandene mit seinen Jüngern speiste (Luc. c. 24, v. 42): »der geröstete Fisch« bedeutet nämlich sein Leiden, der Honig seine Gottheit (Str. 111). S. auch ferner Str. 50, 76 f., 89. Auch kleine Abweichungen von der Bibel finden sich. So wird das Str. 109 ff. erzählte nach Emmaus verlegt, während der Ort vielmehr Jerusalem war, vgl. Luc. c. 24, v. 33 ff. 365 Die Darstellung ist in einem einfachen, mitunter selbst recht volksmässigen S. z. B. Str. 22, v. 3 f. Tone gehalten.

 

Die andere Dichtung, die durchaus in nordfranzösischer Sprache verfasst ist Den Beweis hat G. Paris in seiner Ausgabe geliefert. Die südfranzösischen Formen, welche die Handschrift zeigt, sind im ganzen auf Rechnung der Ueberlieferung zu setzen, wenn auch die nordfranzösische Mundart der Dichtung einige dem Südfranzösischen verwandte Züge zeigt., ist das Leben des heiligen Leodegar. In: Diez, Zwei altroman. Gedichte. – G. Paris, La vie de St. Léger, texte revu sur le ms. de Clermont-Ferrand, in Romania, Ann. 1, 1872. pag. 273 ff. Es ist in demselben Versmass als die Passion geschrieben, nur zählen die Strophen 6 statt 4 Kurzzeilen: es sind im ganzen 40 Strophen und 240 Verse.

Das Gedicht hat das Leben und das Leiden des Heiligen zum Gegenstand, und dem entsprechend zerfällt es denn in zwei Abtheilungen oder Lieder, von denen das erste bis zur sechsundzwanzigsten Strophe geht, in welcher der Dichter selbst die Passion seinem Publikum ankündigt. Auch zeigt er die beiden Abtheilungen schon in der zweiten Strophe an. Die zweite Abtheilung beginnt (nach der Handschrift): Hor en aurez las poenas grans.

Der Inhalt ist in der Hauptsache dieser: Leodegar (von vornehmer Herkunft) wird von seinen Eltern an den Hof des Königs Lothar (II) gebracht, welcher den Knaben (seinem Onkel) dem Bischof von Poitiers, Dido zur Ausbildung als Geistlicher übergibt, der ihn lange bei sich behielt, bis er Abt von St. Maixent wurde. Durch seine Tugend wie durch seine Beredsamkeit zeichnete er sich so aus, dass der König (es ist jetzt Lothar III) Die beiden Lothar hat der Dichter nicht unterschieden. ihn in seine Umgebung berief und zum Bischof von Autun machte. Nach Lothars Tode aber erwählten die Barone den Franken Chilperich (Childerich Die Vertauschung beider Namen findet sich häufig. Das in der Inhaltsanzeige eingeklammerte ist immer der Quelle entlehnt. III, den älteren der beiden Brüder Lothars, der Austrasien beherrschte) zum König; nur Graf Ebroin (der Majordomus) war für Theoderich (den jüngeren Bruder); Ebroin musste in ein Kloster (Luxovium) sich zurückziehen, Chilperich aber machte Leodegar zu seinem 366 Rath. So lange der König ihm folgte, regierte er gut. Aber ein Feind Gottes klagte den Heiligen bei ihm an (Str. 13). Leodegar fürchtet seinen Zorn, und zieht sich nun auch in das Kloster Luxovium zurück. Dort traf er Ebroin, der ihm aus Neid sehr übel wollte, der Heilige aber vermahnt ihn so, dass Ebroin mit ihm einen Scheinfrieden schliesst. Indessen stirbt Chilperich, worauf die beiden Gegner in ihre »Lehen« ( honors) zurückkehren. Ebroin aber sammelt ein Heer, verwüstet das Land mit Feuer und Schwert, und belagert den Heiligen in Autun (Str. 24). Als dieser aber, um das Verderben der Stadt abzuwenden, von seinem Klerus begleitet, bittend in des Feindes Lager zieht, lässt ihn Ebroin ergreifen und fesseln.

Hiermit schliesst die erste Abtheilung; die zweite erzählt nun das Märtyrthum Leodegars. Auf Befehl Ebroins werden ihm die Augen ausgestochen (Str. 26) Zwischen dieser und der folgenden Strophe ist gewiss eine ausgefallen, wie schon Paris bemerkte (a. a. O. p. 300), wenn wir nicht von Seiten des Verfassers eine zu grosse Gedankenlosigkeit annehmen wollen, denn Str. 28, v. 3 und 4 bleiben fast unerklärt, während die Quelle § 16 die Erklärung bietet., dann Lippen und Zunge abgeschnitten: er soll Gott nicht lobpreisen können. Aber im Gefängniss des Klosters Fecamp erhält er durch Christus, der ihn besucht, die Lippen wieder, sodass er zum Volke predigen kann. Ebroin, hierüber erbittert, übergibt ihn der Hut des Lodebert (Chrodobert), um ihn Tag und Nacht zu quälen. Aber ein Wunder (Str. 34) erweist auch diesem die Heiligkeit Leodegars und so lässt er ihn predigen. Da sendet Ebroin, als er es hört, vier Bewaffnete aus, den Heiligen zu tödten; doch nur einer wagt die That und schlägt mit einem Schwert ihm das Haupt ab, wobei sich das Wunder begibt, dass der Leichnam lange Zeit aufrecht stehen blieb, bis der Mörder ihm die Füsse abschnitt. Nach der Quelle (§ 22) stösst der Mörder schliesslich den Todten mit seinem Fusse um. Die Seele aber empfing der Herrgott. »Möge der Heilige uns bei dem Herrn helfen, für welchen er solches Leiden ertrug!« Mit dieser frommen Bitte schliesst die Dichtung; die Quelle derselben ist die von Ursinus verfasste Vita S. darüber oben Bd. I, S. 578. Diese Vita findet sich Acta S. S. Octob. T. I, pag. 485 ff., welcher der Dichter im allgemeinen getreu folgt. Nur hat er ihre 367 Darstellung sehr gekürzt, – selbst wesentliches auslassend – und hierbei auch einmal zu ändern sich nicht gescheut, so wenn er Ebroin selbst statt seiner Vasallen Autun belagern lässt; auch weicht er von seiner Quelle ab, um den Heiligenschein Leodegars zu verstärken, durch Veränderungen und Zusätze Vgl. in der ersteren Beziehung Str. 18 und § 10 der Vita, in der andern s. Str. 16, v. 4. Wenn schon die Quelle (§ 7 ff.) In der Erzählung von dem Bruche Leodegars mit Childerich die historische Wahrheit verdunkelt, so ist dies in noch höherem Grade in der Darstellung des Gedichts der Fall. S. überhaupt in dieser Hinsicht Martin, Hist. de France, 4 e éd. T. II, p. 152 ff. – Uebrigens fehlt es auch nicht an Missverständnissen, so wird sonderbarer Weise der adversarius der Vita (§ 7), der niemand anders als der Teufel ist, zu tels om, Deu inimix str. 13, v. 1. – Vgl. übrigens auch Paris a. a. O. S. 299 ff. (selbst von Reden), indem er zugleich den Feind desselben mit noch schwärzeren Farben malt.

Beide Gedichte, der Leodegar wie die Passion, waren dazu bestimmt, dem Volke im Gesang vorgetragen zu werden, und zwar von Einem, wie die Art der Anrede zeigt. Sie sind auch zu dem Zweck im Anfange mit Neumen in dem Manuscript versehen. Die Notation findet sich über den drei ersten Zeilen der Passion und über dem ersten Vers jeder der beiden Abtheilungen des Leodegar. Es sind gleichsam geistliche Romanzen, die zunächst für die Feste der kirchlichen Helden bestimmt waren, deren Thaten und Leiden sie verherrlichen. Dem entsprechend ist auch das Versmass dem beliebtesten und ältesten der lateinischen kirchlichen Hymnen nachgebildet. Der Ansicht von Paris aber, dass die Achtsilbler der beiden Gedichte durch eine Cäsur nach der vierten in zwei Hemistiche zerfallen, kann ich durchaus nicht beipflichten. Schon die vielen Ausnahmen von dieser Regel, die in den Gedichten sich finden, machen die Annahme unmöglich, selbst eine einzige, sicher constatirt, würde zur Widerlegung genügen, denn die Cäsur verlangte auch eine musikalische Pause, und die Composition der ersten Strophe gilt für alle folgenden. Auch ist nicht ein trochäischer Rythmus als ursprüngliches Vorbild anzunehmen. Das Gedicht des Raban De fide catholica (s. oben Bd. II, S. 327; das Gedicht findet sich jetzt in den Poetae latini aevi Carolini T. II, pag. 197) ist in ganz demselben Versmass als der Leodegar verfasst. Das Vorbild dieser französischen Achtsilbler ist der rythmische jambische Dimeter. Bei dem Gedicht des Raban ist es aber ganz unmöglich jene Hemistichen anzunehmen, wie sie denn überhaupt bei einer Kurzzeile schon von vornherein unzulässig erscheinen. S. übrigens auch Tobler, Vom französischen Versbau, S. 78 f., der sich auch gegen Paris' Annahme erklärt. Der Reim ist in beiden 368 Gedichten gewöhnlich blosse Assonanz: der Reim ist eben zunächst nur ein unvollkommener, wie wir dieselbe Erscheinung auch in der lateinischen geistlichen Lyrik im Anfang beobachteten. Ebenso ist der gepaarte Reim die einfachste Art, die sich zunächst darbietet; die Wiederholung desselben Reims in dem folgenden Reimpaar, wodurch in der vierzeiligen Strophe der Passion Einreimigkeit entsteht, ist in beiden Gedichten nicht selten, ebenso wie in den älteren lateinischen Hymnen. S. oben Bd. I, S. 365 und 510. Der Reim ist in dem Leodegar ausschliesslich ein männlicher, während in der Passion auch weibliche Reime eingemischt sind. Die vierzeilige Strophe des letztern Gedichts, die der der Ambrosianischen Hymnen entspricht, ist die ältere, aus der die sechszeilige sehr einfach sich entwickelte, wie wir denn ganz demselben Versmass auch in der lateinischen rythmischen Poesie des karolingischen Zeitalters begegnen.

 


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