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Zweites Kapitel.

Lyrik: Sequenzen. Notker Balbulus. Dichterschule St. Gallens.

Während die weltliche Poesie in dieser Periode vornehmlich auf dem Felde der Epik gepflegt wird, hat die geistliche dagegen ihren Schwerpunkt auf dem der Lyrik. Hier wird von ihr sogar eine ganz neue Bahn eingeschlagen, eine besondere poetische Gattung ins Leben gerufen; hier liegt die Originalität und Productivität dieser Periode überhaupt, ihre literarhistorische Bedeutung. Wie sich aber in dieser eigenthümlichen Entwicklung der geistlichen Lyrik zugleich ein volksthümlicher Zug kundgibt, so hat sie auch gerade auf die Dichtung des Volks, die Nationalpoesie, schon damals Einfluss ausgeübt. Sie erfolgt selbst aber unter der Einwirkung eines erhöhten ästhetisch kirchlichen Interesses. Diese neue Art geistlicher Lyrik sind die Sequenzen, welche zu ihrer ersten vollen Ausbildung und Blüthe in einem Kloster Ostfranciens gelangen, in St. Gallen, wo seit der Mitte des Jahrhunderts unter den gelehrten Aebten Grimald und Hartmut, den Schülern Rabans, Sinn für Kunst mit wissenschaftlichem Streben sich vereinte. Der Mönch Notker Balbulus aber war es, welcher dort zuerst sich in der neuen Dichtungsart versuchte und ihr eine feste Gestalt gab. Schubiger, Die Sängerschule St. Gallens vom achten bis zwölften Jahrhundert. Einsiedeln 185S. – St. Gallische Geschichtsquellen, neu herausgeg. von Meyer von Knonau. III. Ekkeharti IV. Casus S. Galli. St. Gallen. 1877. (Mittheil. zur vaterländ. Gesch. herausgeg. v. histor. Verein in St. Gallen. XV und XVII. – St. Gallische Denkmale aus der karoling. Zeit, herausgeg. von Dümmler. Zürich 1859. (Mittheil. der antiquar. Gesellsch. in Zürich Bd. XII).

145 Notker der Stammler Meyer v. Knonau, Lebensbild des heil. Notker von St. Gallen. Zürich. 1877. (Mittheil. der antiquar. Ges. in Zürich. Bd. XIX.) – Dümmler, N. Archiv Bd. IV, S. 546 ff. – Wilmanns, Welche Sequenzen hat Notker verfasst? in: Zeitschr. f. deutsch. Alterth. N. F.III, S. 267 ff. war um das Jahr 840 geboren und stammte aus einer vornehmen Familie des Thurgaus. Schon als Knabe in das Kloster aufgenommen, hatte er dort zu seinem Lehrer zuerst Iso, und nach ihm Marcellus, der ihn in das höhere wissenschaftliche Studium einführte und namentlich auch in der Musik unterrichtete. Dieser in der theologischen wie in der humanen Wissenschaft gleich gelehrte Schotte hiess eigentlich Moengal; er war mit seinem Oheim, dem Bischof Marcus, welchem er den ihm in St. Gallen gegebenen Namen verdankte, auf der Rückreise von Rom dorthin gekommen, wie denn an diesem Kloster die Landsleute des heiligen Gallus nicht leicht vorübergingen. Er wurde Magister der inneren Schule.

Notker nun hatte, wie er uns selbst mittheilt, In dem Widmungsschreiben seiner Sequenzen an Liutward bei Dümmler, Denkm. S. 224. schon in früher Jugend bei sich wiederholt überlegt, wie die sehr langen Melodien, welche dem Alleluja des Graduale an Festtagen folgten, die musikalischen Sequenzen, Die eben deshalb so, d. i. Folgegesänge, hiessen. dem Gedächtniss leichter einzuprägen wären. Solche Melodien wurden nur auf der letzten Silbe des Alleluja oder auch zugleich auf den beiden vorausgehenden gesungen, Das letztere ergibt sich aus der Anmerk. 2 erwähnten Widmung, und zwar aus der Stelle: ea quidem, quae in ia veniebant, ad liquidum correxi, quae vero in le vel in lu, quasi impossibilia vel attemptare neglexi. indem allein diese Silben ihren Text bildeten. Mit der vermehrten Zahl der Melodien wuchs auch die Schwierigkeit, dieselben unter diesen Umständen zu behalten. Dieser Sequenzengesang wurde aber gerade in St. Gallen mit Vorliebe gepflegt, denn nach einer alten Tradition des Klosters Die Ekkehart IV., Casus S. Galli c. 47 berichtet. Vergl. übrigens oben Bd. II, S. 10. war einer der beiden römischen Sänger, welche als die ersten 146 Sequenzen- Componisten genannt werden, in St. Gallen geblieben, als dieselben von Papst Hadrian Karl dem Grossen zur Reformation des Kirchengesangs im fränkischen Reiche gesandt wurden. Es war der Componist der Melodien Romana und Amoena, Romanus; sein Begleiter Petrus, der Componist der beiden Metenses, war allein nach Metz, ihrem Bestimmungsort, gegangen. Von da an, sagt die Tradition, hätte ein reger Wetteifer zwischen beiden Meistern die Gesangskunst an beiden Orten ungemein gefördert.

Kehren wir zu Notker zurück. Während er noch, wie er weiter uns mittheilt, mit der Frage der Einprägung der Sequenzenmelodien beschäftigt war, erschien in St. Gallen ein Presbyter des Klosters Gimedia (des heutigen Jumièges), welches unlängst von den Normannen verwüstet worden war. Und zwar ist an die Verwüstung vom Jahre 862, nicht, wie man zuerst annahm, an die vom Jahre 841 zu denken, da nur jene zu den übrigen Daten von Notkers Leben passt. Er führte ein Antiphonarium bei sich, in welchem die Frage gelöst schien: es fanden sich hier den Sequenzenmelodien Verse untergelegt; aber diese liessen viel zu wünschen übrig. So unternahm es Notker, diesem Beispiel folgend, bessere Texte zu verfassen, indem er zunächst einen Versuch mit zwei Melodien machte. Dieser war aber noch nicht vollkommen gelungen, wie sein Meister Iso ihm zeigte, der ihn darüber belehrte, dass jeder Tonbewegung eine Silbe entsprechen müsse. Durch Uebung erreichte Notker dies Ziel mit der Sequenz Psallat ecclesia mater illibata , die sein Magister Marcellus hocherfreut alsbald von dem Knabenchor einstudiren liess. – Notker beschränkte sich aber nicht darauf, Texte zu überlieferten Sequenzenmelodien zu dichten, sondern er componirte auch letztere selber, denn er war ebensowohl gelehrter Musiker Dies beweist auch ein Schreiben Notkers an einen Mönch über die Bedeutung der Buchstaben als musikalischer Zeichen. S. bei Dümmler, Denkmale S. 223. als Dichter. Von den ihm beigelegten Sequenzentexten gehören ihm aller Wahrscheinlichkeit nach, wie Wilmanns' scharfsinnige Untersuchung erwiesen, A. a. O. S. 288. einundvierzig an.

Da nach dem Gesagten die Dichtung hier ganz der Musik folgt, so ist zum Verständniss ihrer Form die Art der Anlage 147 der Sequenzenmelodien vor allem zu wissen nöthig. Vgl. F. Wolf, Ueber die Lais, Sequenzen und Leiche. Heidelberg 1841. – Bartsch, Die latein. Sequenzen des Mittelalters in musikal. und rhythmischer Beziehung. Rostock 1868. Sie bestehen immer aus einer Reihe verschiedener musikalischer Sätze, die ausser dem ersten und letzten, dem Eingang und Schluss, alle in der Regel einmal wiederholt werden. Doch kann auch der Eingang aus zwei Sätzen bestehen, von verschiedener wie von derselben Melodie. Alle Sätze haben dieselbe oder eine ähnliche Schlusscadenz, die sie verbindet. Ihr Vortrag war dem der Psalmen gleich, wie ja diese Gesänge aus der Psalmodie hervorgegangen waren. Daraus erklärt sich auch schon die Wiederholung der Sätze: der Parallelismus der Psalmenverse musste schon diese Wirkung haben. Dazu kam dann aber die übliche Aufführung der Sequenzen durch einen Doppelchor.

Dieser Art der musikalischen Composition entspricht nun die Form des Sequenzentextes. Er besteht aus einer Reihe von Zeilen ( versus, gewöhnlicher versiculi genannt) von verschiedener Dimension, jedoch so dass, von der ersten und letzten abgesehen, in der Regel Doch gibt es auch Ausnahmen, indem zwischen die Doppelversikel ein einzelner sich eingefügt findet. allemal zwei auf einander folgende gleiche Silbenzahl haben, also die zweite und dritte, die vierte und fünfte u. s. w., und deren Schlüsse meist gleichen Rythmus auch nach der Stellung des Wortaccents haben. In musikalischer Beziehung ist es immer der Fall. Da der Eingang auch aus zwei musikalischen Sätzen, wie oben bemerkt ist, bestehen kann, so finden sich auch Sequenzen, die mit zwei verschiedenen Zeilen anheben oder mit zwei von gleicher Silbenzahl. Die Zeilen sind im übrigen Prosazeilen, wie ja auch ihr Gesang, wie der der Psalmen, ein cantus prosaicus war, weshalb denn die Sequenzen auch den Namen Prosen erhielten. Ein bestimmter Wechsel von Hebung und Senkung innerhalb der Zeilen findet sich nicht, so dass von rythmischen Versmassen bei ihnen in der Regel nicht die Rede sein kann. Es schliesst dies nicht aus, dass die beiden ein Doppelversikel bildenden Zeilen an manchen, mitunter selbst allen Stellen auch im Innern im Wortictus correspondiren, also eine rhythmische Prosa sind, während ihr musikalischer Rythmus 148 selbstverständlich überall derselbe ist. So ist die Normalform der älteren, namentlich aber der Notkerschen Sequenzen. Der Reim findet sich bei den letzteren, soweit sie authentisch sind, gar nicht, wohl aber bei solchen, die Notker schon frühe beigelegt wurden: derselbe Reim geht da durch die ganze Sequenz und ist in der Regel a, indem so durch ihn die Sequenz mit dem ihr vorausgehenden Alleluja gebunden wird.

Was den Inhalt der Sequenzen anlangt, so wird er selbstverständlich allein durch das Fest bestimmt, dem sie gewidmet sind. Von Notker besitzen wir Sequenzen Namentlich von Schubiger a. a. O. sammt der Composition publicirt. nicht bloss auf die Kirchenfeste, welche Christus In der Charwoche wurden natürlich keine solchen Jubellieder gesungen. und die Jungfrau, sondern auch auf solche, die Heilige feiern, und zwar nicht nur Stephan, die unschuldigen Kinder und den Evangelisten Johannes, sondern auch Johannes den Täufer, Petrus und Paulus, Laurentius, Gallus, Mauritius, Martinus, Othmar. Ja auch für die Einweihung von Kirchen hat Notker solche Festgesänge verfasst. Der Ausführung nach sind sie von sehr verschiedenem poetischen Werth: manche zeichnen sich nur durch eine andächtige Einfalt des Ausdrucks aus, die im Einklang mit der sanften, einfach fortschreitenden Melodie steht, andre dagegen zeigen einen höheren Schwung und eine bilderreichere Darstellung, wie die Sequenz auf die Himmelfahrt, Summi triumphum regis prosequamur laude bei Schubiger No. 20, Daniel, Thes. hymnol. II, p. 15 f. Die Saltus Christi sind hier entlehnt einer Homilie Gregors (In Evangel. 29). Auch die Form ist mannichfaltig: Zeile 1 Eingang, 2 und 3 Doppelvers., 4. 5. (jede Zeile für sich), 6 und 7 Doppelvers. (nur dass Zeile 6 einige Noten, bezw. Silben vorausgehen), 8. 9. (jede Zeile für sich), 10 und 11 Doppelvers., 12. 13. (jede Zeile für sich), 14 und 15 Doppelvers., 16 und 17 Doppelvers., 18 (Schluss). oder es spricht in ihnen das deutsche Gemüth in einer herzergreifenden Weise, wie in der Sequenz auf den heiligen Gallus, worin selbst der holden schwäbischen Heimath gedacht wird. O dilecte domino, Galle, perenni Dan. II, p. 25. Zeile 11: Sueviamque suavem patriam tibi, Galle, donavit (sc. Christus).

Längere Zeit nach Abfassung seiner Sequenzen widmete sie, zu einem Buche vereinigt, Notker dem Bischof Liutward von Vercelli, Erzkanzler Kaiser Karls III., im Jahre 885 S. Dümmler, Denkm. S. 259. mit 149 dem Schreiben, dem wir die interessanten Aufschlüsse über ihre erste Abfassung verdanken. S. dies Schreiben bei Dümmler a. a. O. S. 224.

Notker hat sich aber auch sonst als Dichter versucht; und auch in quantitativen Versen. So gedenkt er selbst in dem Schreiben an Liutward eines » metrum« über das Leben des heiligen Gallus, mit dem er beschäftigt sei – eine Dichtung, die sich noch nicht wiedergefunden hat und gewiss in Hexametern verfasst war. Ueber ein fragmentarisch überliefertes Werk, das man mit Unrecht für diese Dichtung ansah, s. Dümmler N. A. S. 548. So besitzen wir von ihm vier Hymnen auf den heiligen Stephan, den Schutzpatron der Metzer Kirche, welche er auf den Wunsch des Bischofs derselben, eines vornehmen alemannischen Landsmanns, Ruodpert verfasst hat. Vgl. Dümmler, Denkm. S. 261. – S. dieselben bei Canisius, Thesaur. monum. ed. Basnage Tom. II, Pars 3, pag. 220 ff. – Dümmler, Das Martyrologium Notkers und seine Verwandten, in: Forschungen zur Deutschen Geschichte Bd. 25, S. 195 ff. Drei davon sind in sapphischen Strophen, eine, die zweite, in einer Art glyconischer Verse (– – – ᴗ ᴗ – ᴗ – ᴗ – ᴗ) geschrieben: die erste schildert Stephans Märtyrertod, die zweite die Bestattung und Wiederauffindung seiner Gebeine, Auf Grund der bereits von Gennadius De viris illustr. c. 47 erwähnten Epistola Luciani de revelatione corporis Stephani Martyris. S. dieselbe in S. Augustini Opera ed. Benedict. nova T. VII, Append. p. 3 f. die beiden andern die Wunder, die der Heilige an denen, die ihn anriefen, vollbrachte. Notker gedenkt am Schlusse der letzten Hymne seiner selbst als Autor, indem er sich als aeger und balbus bezeichnet.

Auch Gelegenheitsgedichte hat er manche verfasst, wie dies bei den gelehrt-ästhetisch gebildeten Mönchen St. Gallens damals Gebrauch war. Einzelne sind unter seinem Namen überliefert, von andern lässt sich seine Autorschaft mit ziemlicher Sicherheit annehmen. Die Versus bei Dümmler, Denkm. p. 225 ff. Sie scheinen an seine Schüler gerichtet. Unter dem Salomon, an den das eine Gedicht, p. 227, gerichtet ist, ist sicher der spätere Bischof von Constanz zu verstehen. Sie zeigen zum Theil einen gewissen neckischen Humor.

Von der Gelehrsamkeit Notkers legt namentlich sein Martyrologium, das letzte in der Reihe der allgemeiner verbreiteten des Mittelalters, Zeugniss ab. S. dasselbe bei Canisius l. l. p. 89 ff. Migne, Patrol. lat. T. 131. Freilich ist es seinem Hauptinhalt nach eine meist ganz wörtliche Compilation aus 150 den Werken des Ado und Raban, S. oben Bd. II, S. 386 und 128. – Vgl. Sollerii Prolegg. zu seiner Ausg. des Martyrol. Usuardi. (Migne, Patrol. lat. T. 123, p. 459 ff.). bei welcher Notker in der Zeitbestimmung sich mehr dem letzteren anschliesst; aber er hat doch auch andre, ältere Martyrologien und manche andre Werke benutzt, wie er denn nicht selten Heilige erwähnt, die in seinen beiden Hauptquellen fehlen. Das Werk ist uns aber unvollendet überliefert; von ein paar kleineren Lücken im Innern abgesehen, fehlt das Ende, vom 26. October bis zum Schlusse des Jahres, das Notker auch im Anschluss an Raban und im Gegensatz zu Ado mit dem 1. Januar und nicht mit der Vigilie des Geburtsfests Christi (dem 24. December) beginnt.

Es ist kaum zu bezweifeln, dass Notker auch der Verfasser zweier gelehrten Schreiben ist, die offenbar zu einander gehörend, eine Unterweisung eines Schülers, der sich dem Priesterberuf widmen will, enthalten. Sie finden sich auch in den Handschriften zusammen und in einer mit der Ueberschrift Notatio Notkeri etc., welche allerdings von dem Schreiber herrührt. S. die Notatio bei Dümmler, Das Formelbuch des Bischofs Salomo III. von Constanz. Leipzig 1857. S. 64 ff. Sie fand in verschiedenen Klöstern Verbreitung. Für die Autorschaft Notkers spricht namentlich u. a. die Uebereinstimmung in manchen Angaben mit dem Martyrologium. S. Dümmler N. A. S. 546, Anm. 2. Diese Notatio ist aber höchst wahrscheinlich an Salomo, den späteren Bischof von Constanz (dieses Namens der dritte) gerichtet, wie der Eingang zeigt, Cum prudens sis et prudentis nomen heredites. und gibt ihm ausführliche Auskunft über die Hülfsmittel, deren er sich bei seinen Studien bedienen kann. Zunächst führt der Verfasser die zur Erklärung der Bibel zu empfehlenden Werke, dann die, welche für den besondern Beruf des Priesters und die allgemeine wissenschaftliche Bildung wichtig sind, auf; von Dichtungen will er nur christliche empfehlen, so Werke des Prudentius, unter denen namentlich die Psychomachie gerühmt wird, des Avitus, den er besonders hoch schätzt, Juvencus, Sedulius und die Ambrosianischen Hymnen. Auch des » liber Catonianus« wird hier gedacht. A. a. O. S. 73. Noch wird eine Hinweisung auf die literargeschichtlichen Schriften des Hieronymus und Gennadius gegeben. – In der Fortsetzung, dem zweiten Schreiben, gedenkt der 151 Verfasser nach Erwähnung von Werken des Augustin und Prosper einer Anzahl Passionen, wobei denn auch kirchenhistorische Werke genannt werden, und schliesst mit einer allgemeinen Betrachtung der Verbreitung der christlichen Literatur im Abendland, von deren Vertretern eine Anzahl – zum Theil wenig bekannte Namen – beliebig citirt werden, darunter auch einige Iren. Die ganze Notatio verleugnet nirgends den flüchtigen Briefcharakter, wie es denn auch in ihr nicht an manchen argen Irrthümern fehlt; Wie schon die Histoire littér. de la France gezeigt hat, T. VI, p. 538. der Verfasser will auch die Mittheilung als eine rein vertrauliche betrachtet und seinen Namen nicht genannt wissen. Trotzdem ist sie für uns von verschiedenem Interesse. Sie lässt doch den Umfang und die Art der Studien Notkers So erfahren wir hier aus einer Stelle (p. 66), wo Notker eine Uebersetzung der Bibelerklärungen des Origenes wünscht, dass er kein Griechisch verstand. und seines Klosters erkennen und auch auf die Bibliothek des letzteren, der er selbst längere Zeit vorstand, einen Schluss ziehen.

Höchst wahrscheinlich haben wir in Notker auch den Verfasser derjenigen in dem Formelbuch des oben erwähnten Bischofs Salomo No. 29, p. 33, No. 42, p. 50, No.44, p. 55, No. 47, p. 61 und No. 48, p. 62. überlieferten Briefe, welche an diesen und seinen Bruder Waldo als Schüler und Zöglinge gerichtet sind, zu sehen, Der dagegen erhobene Einwand, dass Notker nur etwa zwanzig Jahre älter gewesen sei als Salomo, ist, auch wenn er sich sicher beweisen liesse, ohne Gewicht. Der erste der oben citirten Briefe spricht nicht nur in dem » balbus« und » semiblaterator«, wie sich hier der Schreiber nennt, für Notker, sondern fast noch mehr in der nahen Verwandtschaft seines Eingangs mit dem der Notatio. Uebrigens scheinen mir die beiden oben im Text citirten Briefe später als die andern verfasst. zumal die Notatio in ebendemselben Buche sich findet. Zwei dieser Briefe enthalten längere Belehrungen gleich kleinen Abhandlungen, der eine (No. 29) über den Ursprung und die Nothwendigkeit der Tonsur, der andre (No. 44) über die Obliegenheiten eines Bischofs in der Charwoche; in zwei andern Briefen werden die Brüder zu gelehrter und selbst zu literarischer Thätigkeit, in Prosa und Versen, aufgefordert.

Bei allen Zugeständnissen, die man dem brieflichen Ausdruck machen mag, zeigen doch Notkers Schreiben ganz anders als seine Dichtungen den Verfall der literarischen Kultur, und 152 selbst an einer Stätte, wo sie mehr als an den meisten Orten Germaniens gepflegt wurde. Freilich kann die Individualität des »Magister« auch einige Schuld daran tragen.

Von seiner persönlichen Liebenswürdigkeit hat uns Ekkehart IV. ein anziehendes Bild entworfen. Casus S. G. c. 33. Er war eine ächte Gelehrtennatur, die aber der Hauch der Poesie verklärte. Ein alt überliefertes, mit seinem Namen bezeichnetes Miniaturporträt, im Anhang von Meyers Lebensbild publicirt, stimmt wohl zu Ekkeharts Charakterschilderung. Dieser verdankte er auch – wohl ein seltener Fall – seine Canonisation, die freilich erst lange nach seinem Tod, der 912 erfolgte, ihm zu Theil ward, im Jahre 1513.

 

Das Beispiel, das Notker mit seinen Sequenzen gegeben, fand alsbald Nachfolge bei seinen Freunden und Mitmönchen, namentlich einem Tuotilo und Waldram; allerdings bei dem ersteren nur in indirecter Weise. Tuotilo S. Schubiger a. a. O. S. 59 ff. – Ekkehart IV., Casus ed. Meyer c. 22 und 34, 45 und 46 namentlich, mit den Anmerkungen des Herausg. – Dümmler N. A. S. 548. nämlich, ein wahres Kunstgenie, der als Maler und Bildner, wie als Spieler des Psalterium und der Rota sich auszeichnete und auch ein Schüler des Marcellus war, hat zwar, soviel uns überliefert, keine Sequenzen selbst, aber die ihnen verwandten Tropen verfasst, und wie es scheint, mindestens in Germanien, davon das erste Beispiel gegeben. Die Tropen dienten ebenso wie die Sequenzen zur Erweiterung der Messgesänge, namentlich aber des Introitus und des Kyrie, ja, sie traten im letzteren Falle sogar an die Stelle derselben; S. über die Tropen Wolf a. a. O. S. 94. sie waren, wie diese, Prosen und hatten dieselbe Herkunft, aus der Psalmodie; auch bei ihnen findet sich zunächst eine rythmische Uebereinstimmung nur in dem Schlusse der Absätze. Im übrigen war ihre musikalische und rythmische Bildung freier.

Von Waldram S. Dümmler, Denkmale S. 256. – Ders. N. A. S. 550. – Meyer, Anm. 475 zu c. 37 von Ekkeh. IV. Cas. aber haben wir noch eine beglaubigte Sequenz Sollemnitatem huius devoti bei Mone I, p. 322. Ihrer gedenkt Ekkehart IV. l. l. c. 46. zur Einweihung einer Kirche, die, weil sie vielfach 153 angewandt ward, auch in nicht wenigen Handschriften sich erhalten hat, während alle andern geistlichen Lieder dieses Dichtercomponisten, der durch seine eigenthümlichen Melodien noch im elften Jahrhundert berühmt war, S. Ekkehart IV. l. l. c. 37. verloren sind. Dagegen haben sich einige weltliche Gedichte, zum Theil Gelegenheitspoesie, von ihm erhalten, welche seine formelle Begabung und eine besondere Vorliebe für den Reim zeigen. S. bei Dümmler a. a. O. S. 242 ff. So zwei Empfangsgedichte an Kaiser Karl III., als derselbe das Kloster, dem er seine besondere Gunst schenkte, besuchte: das eine in Distichen, in welchen Hexameter wie Pentameter fast durchaus leoninisch gereimt sind – in diesem Gedicht wirkt noch die einstige Grösse des Imperium fort, ganz im Gegensatz zu der Wirklichkeit; das andre ist in sapphischen Strophen verfasst. Ferner ein Trostgedicht an Salomo III., Bischof von Constanz, bei Gelegenheit des Todes seines Bruders Waldo (906), in elegischen Versen, das allerdings zum grössten Theil nur in langen Citaten aus dem Trostgedicht Fortunats an Chilperich und in kürzeren aus dessen Elegie über Galsvintha S. oben Bd. I, S. 502 und 505 f. und dem ersten Carmen der Consolatio des Boëtius besteht. Die Distichen, welche Waldram selbst angehören, sind aber ebenso gereimt wie die oben erwähnten. Zwei in der Handschrift darauf folgende Gedichte in Hexametern mögen Waldram um so eher angehören, als auch sie den leoninischen Reim durchgeführt zeigen. Das erstere besteht nur aus neun Versen, von welchen die beiden letzten allerdings nicht gereimt sind (im vorletzten wenigstens nur Vocalreim). Dies Gedichtchen ist merkwürdig durch seinen ganz volksmässigen Charakter. Man möchte es für eine Reproduction eines deutschen Volksliedes halten. Aus diesem Grund mag es hier eine Stelle finden:
        Si vel nare quidem, vel si volitare valerem,
        Venissem certe remex aut aeripes ad te,
        Seu lymphis vectus, seu penniger aëre ductus.
        Quaesissem dominum, fuerit quocunque locorum:
        Nec motus pelagi, nec mi violentia venti
        Tardaret gressum sic, sic celerare cupitum.
        Nunc vadant, cedo, quis sunt navalia praesto,
        Ipse domi sedeam
[Handschrift sedeat], quem nulla stipendia ditant:
        Hi sectentur apros, ast hic stans retia servet.
Das andre längere Gedicht ist ein Gespräch des Dichters mit der 154 Muse Euterpe. Es liegt ihm derselbe Gedanke, als dem ersteren zu Grunde, der Wunsch des Dichters, seinen Herrn zu sehen. Dieser Sehnsucht gibt er hier im Eingang Ausdruck; er weiss aber nicht, wie zu ihm zu reisen, da weder ein Pferd noch ein Esel ihm zu Gebot steht. Euterpe soll ihm da einen Rath geben. Gehe zu Fuss, antwortet sie ihm, oder sende meine Schwester »Polymnia« als deine Botin; denn du kannst dich doch nicht sehen lassen aus Mangel an Kleidung. Der Dichter antwortet, dass sein Herr für alles sorgen werde, wie für Nahrung in Fülle, so für die Kleidung. Er sei ihm der grösste Trost. Die Muse dagegen: dann möge er hinziehen, aber ihm auch den schuldigen Dank darbringen. Der Dichter will dies nach Kräften thun: namentlich will er mit dem Messer Membranen zu den Büchern des Bischofs zurichten, sie mit dem Bimsstein glätten und liniiren; ferner auch als Verbesserer der Schrift radirend und corrigirend thätig sein (v. 53 ff.). Diese Gedichte sind offenbar auch an den Salomo gerichtet, der Bischof von Constanz und zugleich Abt von St. Gallen von 890 bis 920 war: der Weg nach Constanz wird sogar in dem zweiten Gedichte angedeutet. Als die Muse den Dichter auffordert zu Fusse zu wandern v. 7: Eia age, fige gradum, per litus vadito circum; also um den Bodensee.

Salomo selbst aber erscheint auch unter den Dichtern St. Gallens und wird noch von Ekkehart IV. als solcher besonders hoch gerühmt. S. über Salomo Dümmler, Denkm. S. 261 ff., derselbe, N. A. S. 551 ff. Ekkehart IV. Cas. ed. Meyer, namentlich c. 28. Von vornehmer Familie, die schon längere Zeit gleichsam im Besitze des Constanzer Bisthums sich befand, erhielt er, wie oben bemerkt, in St. Gallen seine gelehrte Bildung. Aber er schlug auch die staatsmännische Laufbahn ein, indem er in die Kapelle Karl III. trat. In das Kloster zurückgekehrt, wurde er Mönch. Drei Jahre nach dem Sturze Karls durch Arnolf erhielt Salomo die Abtei St. Gallen, dessen Vorstand wegen Empörung abgesetzt wurde, und um dieselbe Zeit auch das Constanzer Bisthum in Folge des Todes seines Verwandten Salomo II. Unter Ludwig dem Kind und König 155 Konrad Kanzler, spielte er auch keine unbedeutende politische Rolle. Es hat sich von ihm ein grösseres Gedicht in Hexametern (343 Verse sammt einem Prologe von 30 Hexametern) und eine Elegie auf den Tod seines einzigen Bruders Waldo von 62 Distichen erhalten. S. dieselben bei Dümmler, Denkm. S. 229 ff. Beide sind an seinen Freund, den Bischof Dado von Verdun gerichtet, das erste nicht lange vor dem zweiten verfasst, in dem ersten Lustrum des zehnten Jahrhunderts. S. Dümmler, Denkm. S. 264. – Ueber den Irrthum der Ueberschrift: Versus Waldrami s. N. A. a. a. O. S. 592.

In diesem, nur zu weitläufigen Gedicht findet ein eigenthümlicher Weltschmerz einen mitunter ganz beredten Ausdruck. Salomo wünscht zu seinem Trost von dem Freunde die drei theologischen Tugenden Glaube, Liebe und Hoffnung zu lernen. »Selig sind die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden« (Matth. c. 5, v. 4) bildet gewissermassen den Text für die folgenden Klagen. Grund zu ihnen ist reichlich vorhanden. Dem Verderben der Menschen folgt das der Elemente, die Gott an den sündigen rächen. Dasselbe geschieht durch die »Nation der Heiden«; es sind die Ungarn gemeint (v. 67). Lebendig schildert der Dichter die von ihnen vollbrachten Gräuel, wie sie die Heiligthümer schänden, die Kinder vor den Augen der Eltern morden. Italiens Städte und Fluren bezeugen ihre Verwüstungen. Das ist aber eine Folge der inneren Zwietracht, die eine allgemeine ist, der Bürgerkriege. Das Volk wie die Grossen tragen die Schuld. Wir müssen Christus danken, dass er die Welt nicht vernichtet, die es verdiente (v. 131 ff.) Das Unheil erklärt sich aus dem Mangel der königlichen Gewalt; ein Kind führt ja nur den Namen des Königs (v. 178). Ludwig das Kind ist hier gemeint. Doch wenn Gott ihn leitet, kann auch ein so junger König regieren: dies bezeugen Josias und David; und Samuel und Daniel waren, obgleich Knaben, wahre Propheten. Das ist der einzige Trost. Aber diese Hoffnung ist bei dem Dichter eine schwache: er bittet Dado ihn aufzurichten. Er sinkt zurück in seine trüben Gedanken, aus der verfallenden Welt möchte er sich selber wenigstens retten, aus ihr sich ganz zurückziehen (v. 282 ff.). Er fühlt sich kränker als andre, da die Sorge schwerer auf 156 ihm lastet. Wohl weil er Kanzler war. Mit erneuter Bitte um Beistand an den Freund schliesst die Dichtung, die uns zeigt, wie sich die allerdings traurige Zeit des Anfangs des zehnten Jahrhunderts in dem Geiste eines bedeutenden Mannes spiegelt, der durch Genie, Bildung und Lebensstellung über seine Zeitgenossen sich erhob. Die Dichtung, also historisch interessant, hat auch neben manchen recht trockenen Strecken einzelne ergreifende Partien und zeichnet sich im allgemeinen durch den leichten Fluss des heroischen Verses aus, der auch hier sehr gewöhnlich den Zierat des leoninischen Reimes hat. – Unbedeutender ist die Elegie, die zwar einige rührende Stellen wahrer Empfindung, dazu aber einen schweren Ballast von biblischen Beispielen und Citaten enthält. Auch hier sind die Verse gewöhnlich gereimt.

Noch sind zwei Dichter St. Gallens aus dieser Periode zu erwähnen, von denen der eine älter als Notker, der andre ein Schüler des letztern war, der erste ebenso den Anfängen wie der zweite dem Ausgange dieses Zeitraumes angehört; ich meine Ratpert und Hartmann, welche beide, sehr tüchtige Gelehrte, auch als Geschichtschreiber des Klosters sich verdient machten. Ratpert werden wir in dieser Eigenschaft später, bei der Geschichte der Historiographie, kennen lernen; Hartmanns Werk ist uns aber leider nicht überliefert.

Ratpert, Dümmler, Denkm. S. 255, ders. N. A. S. 541 f. – Schubiger S. 36 ff. – Ratperti Casus S. Galli ed. Meyer Praef. VI ff. von Geburt ein Züricher, war Magister der Klosterschule, schon seit jungen Jahren, ein strenger und eifriger Schulmeister, der sich ganz in seine Studien vergrub. Er lebte etwa bis 890. Schon um die Mitte des 9. Jahrhunderts hat er sich als Dichter bekannt gemacht. Ausser einigen Gelegenheitsgedichten, worunter eins »zum Empfang einer Königin« in leoninisch gereimten Distichen ganz ansprechend, Bei Dümmler, Denkm. S. 219. Es ist gewiss an die Gemahlin Karls III. gerichtet. ein anderes auf die Einweihung der Fraumünsterkirche in Zürich in Hexametern In: Mittheil. der antiquar. Gesellsch. in Zürich, Bd. 8, Beilagen S. 11. durch die Beschreibung des glänzenden Bauwerks interessant ist, besitzen wir von Ratpert auch eine Anzahl kirchlicher Gesänge, so einen zur Kommunion in Distichen, worin um die Gnade Gottes beim Genusse des Abendmahls in 157 würdiger Weise gebeten wird, Laudes omnipotens bei Canisius ed. Besnage Tom. II, pars 2, p. 200. und eine Litanei in demselben Versmass für Processionen an Sonntagen. Ardua spes mundi bei Canis. l. l. p. 199 ff. Hier werden zuerst Christus, die Jungfrau, die drei Erzengel, dann Johann der Täufer, Peter und Paul sammt dem » coetus Apostolicus«, Patriarchen und Propheten, Stephan und die Märtyrer, einzelne Heilige, die dem Kloster nahe standen, die jungfräulichen Blumen, die unschuldigen Kinder und schliesslich »alle Heiligen« insgesammt um ihre Fürbitte angerufen. Eigenthümlich ist beiden Gesängen, dass nach jedem Distichon abwechselnd der erste Hexameter und der erste Pentameter als Refrain wiederholt werden. Auch eine Hymne auf den heiligen Magnus (Abt von Füssen), der hier zum Begleiter des heiligen Gallus gemacht wird, Der hier also mit Maginold identificirt wird. S. darüber Meyer von Knonau in der Real-Encyclop. für protest. Theol. Bd. IX, S. 137 f. verfasste Ratpert in sapphischen, aber rythmischen Strophen, worin der Heilige als ein Muster der Askese gefeiert wird. S. bei Canisius l. l. p. 205; das folgende Gedicht ebenda p. 195. Beigelegt wird Ratpert auch ein an den heiligen Gallus gerichtetes, zur Feier seines Festes, wahrscheinlich auch für eine Procession, in Distichen verfasstes Gedicht.

Derselbe Ratpert hat auch in deutscher Sprache ein Loblied auf den heiligen Gallus verfasst, das uns leider nur in einer lateinischen Uebersetzung Ekkeharts IV. überliefert ist. Der es, wie er selbst in einem kurzen Vorwort sagt, wegen seiner lieblichen Melodie ( ut tam dulcis melodia latine luderet) ins lateinische übertrug. Diese Motivirung ist sehr beachtenswerth. Sie soll ein ganz ungewöhnliches Verfahren erklären. Man kann sich daher für die Hypothesen von Uebersetzungen epischer Gedichte aus den Nationalsprachen ins lateinische in jener Zeit, um so weniger auf diesen Vorgang beziehen. Es ist ein Gedicht Bei *Müllenhoff und Scherer, Denkmäler No. XII, S. 19 (Anm. S. 304 ff.). – Grimm und Schmeller, Latein. Gedichte des X. und XI. Jahrh., Göttingen 1838. S. XXX. ff. von 17 fünfzeiligen Strophen, dessen Verse in deutscher Weise, d. h. ganz ähnlich der Langzeile Otfrids gebildet sind, sodass sie auch, wie diese, in zwei Hemistiche zerfallen, die durch den Reim verbunden sind. Auch ist nicht bloss die Zahl der Hebungen die gleiche wie in der deutschen Langzeile, es können auch wie dort die Senkungen fehlen und 158 ein Auftakt sich finden. Vgl. Grimm a. a. O. S. XXXIV ff. Als Beispiel sei die erste Strophe hier gegeben:
        Nunc incipiendum     est mihi magnum gaudium.
        Sanctiorem nullum     quam sanctum umquam Gallum
        Misit filium Hibernia     recepit patrem Suevia.
        Exultemus omnes,     laudemus Christum pariles
        Sanctos aduocantem     et glorificantem.
Da die Melodie Sie ist durch Neumen über den fünf ersten Strophen im Msc. angezeigt. S. über die Melodie Scherer a. a. O. S. 309 f. dieselbe blieb, wie ja gerade ihretwegen das Lied übersetzt wurde, so musste eben die lateinische Versbildung in allen diesen Beziehungen der des deutschen Originals folgen. Hierdurch ist dieses lateinische Gedicht besonders merkwürdig.

Den Inhalt Ich gehe auf denselben um so mehr ein, weil ich der Lebensgeschichte dieses wichtigen Missionars noch nicht gedacht habe. Vgl. übrigens die Anmerkungen Müllenhoffs und Rettberg, Kirchengeschichte Deutschlands Bd. II, S. 40 ff. bilden die wichtigsten Daten des Lebens des Heiligen, die, von kleineren Abweichungen abgesehen, mit der Darstellung der älteren Vita des Gallus Einer Ueberarbeitung derselben durch Walahfrid Strabo gedachte ich Bd. II, S. 164; auf sie gründet sich durchaus ein von einem Schüler desselben verfasstes weitschweifiges Gedicht von 1808 Hexametern, das man früher mit Unrecht Walahfrid selbst beigelegt hat. Es ist nun vollständig herausgegeben von Dümmler in den Poetae lat. aevi Carolini Tom. II, S. 428 ff.; vgl. darüber den Herausgeber ebenda S. 266. übereinstimmen, zum Theil aber von Ratpert nur angedeutet werden, da er sie ja in des Heiligen Kloster als bekannt voraussetzen konnte. Nach einer lobpreisenden Eingangsstrophe erzählt das Lied, wie Gallus mit drei andern Genossen im Gefolge des Columban nach Gallien zog, S. in Betreff des Columban Bd. I, S. 580 f. wie sie in Luxeuil wirkten, aber von Brunhilde verfolgt, nach Schwaben wandern und zu Tuggen oberhalb des Züricher Sees die Heiden bekehren. Von dort vertrieben, finden sie zu Arbo am Bodensee bei einem Priester Willimar Aufnahme. Columban lässt sich dann mit den Seinigen in Bregenz nieder, aber die Ermordung zweier seiner Brüder treibt ihn nach Italien. Gallus bleibt unterwegs krank zurück; Columban erzürnt (da er seine Krankheit für Verstellung hielt) befiehlt ihm, so lange er ihn selbst am Leben wisse, die Messe nicht zu celebriren. Nachdem Gallus bei Willimar sich wiederhergestellt, sucht er 159 unter Führung des Diacon Hiltibald eine Einöde auf; er fällt im Gesträuch zu Boden und sieht darin einen Wink des Himmels, an diesem Ort sich niederzulassen (Str. 8). Das Lied erzählt dann, wie der Heilige den Platz urbar macht und ein Bär ihm dabei hilft, wie er die besessene Tochter des Herzogs heilt, Volk und Klerus ihn zum Bischof (von Constanz) verlangen, er aber dieses Amt seinem Schüler Johannes verschafft. Eine Vision zeigt ihm darauf die Himmelfahrt Columbans, wodurch er von dem ihm ertheilten Verbot erlöst wird. Ein paar Wunder, die er vollbrachte, werden nur von ferne angedeutet, dann sein Ende erzählt. Er war zum Michaelisfest nach Arbon gegangen, dort erkrankte er und stirbt, die Pferde, die den Sarg nach St. Gallen tragen, finden von selbst den Weg. Das Lied schliesst, indem es ganz poetisch an den der Leiche folgenden weinenden Bischof Johannes sich wendet, mit der Versicherung dass Gallus lebe, und keiner seliger als er.

Hartmann, Dümmler, Denkm. S. 256, ders. N. A. S. 556. – Schubiger S. 64. wegen seiner strengen Frömmigkeit und Gelehrsamkeit in dem Kloster hochgeehrt, wurde Salomo's Nachfolger in der Abtswürde, die er aber nur ein paar Jahre bekleidete, da er 924 oder 925 starb. S. Meyer von Knonau in Ekkeh. Cas. p. 176, n. 617. Er zeigte für den Kirchengesang ein besonderes Interesse, indem er nach Ekkehart IV. (l. l. c. 47) sehr darum besorgt war, dass das Antiphonar Gregors gelehrt und die Melodien nach römischer Weise festgehalten würden. Maxime autem authenticum antiphonarium docere et melodias Romano more tenere sollicitus. Er selbst hat kirchliche Gesänge verfasst, und die unter seinem Namen überlieferten bekunden zum Theil selbst eine besondere poetische Begabung. Namentlich gilt dies von den beiden Hymnen auf das Fest der unschuldigen Kinder. Von diesen ist die eine, Salve lacteolo , in Distichen für die Knabenprocession am Vorabend des Festes verfasst, Das zweite Distichon zeigt dies schon:
        Concinit, ecce, Deus, tibimet grex iste pusillus,
        Festivum laude praeveniendo diem.

S. den Hymnus bei Canisius l. l. p. 191.
welches ganz besonders für die klerikalen Schüler des Klosters bestimmt war. Bei dem Gesange wurde das erste Distichon, das eine besondere Melodie hatte, nach jedem folgenden als Refrain 160 wiederholt. Der zweite Hymnus, für den Festtag selbst, ist in dem Ambrosianischen Versmass, aber dem rythmischen, gedichtet, reich an Reimen verschiedener Art Meist allerdings Reimpaare, doch zweimal Einreimigkeit der ganzen Strophe. – S. den Hymnus ( Cum natus esset dominus) bei Canisius l. l. p. 192 und Mone Bd. III, p. 32. und von lebhaftem energischen Ausdruck. – Wir haben noch einen Hymnus Hartmanns in demselben Versmass ( Sacrata libri dogmata ), bestimmt, vor der Lectio des Evangelium gesungen zu werden, der das Gleichniss vom Sämann vornehmlich zum Thema hat. Hier erscheint der Reim seltener. S. den Hymnus bei Canisius l. l. p. 190 und Mone Bd. I, p. 302 ff. Ferner hat sich von ihm auch eine Litanei erhalten für festliche Umzüge. Sie ist in Distichen, wie die Ratperts; hier werden um ihre Fürbitte gebeten: Gott Vater, Sohn und Heiliger Geist, die Jungfrau, die Engel, die Apostel, Märtyrer, Confessoren, heilige Mönche, namentlich Gallus, Othmar und Benedict, schliesslich heilige Jungfrauen, so dass die Aufführung der Intercessoren, auch von den einzelnen abgesehen, nicht durchaus dieselbe wie bei Ratpert ist. S. die Litanei bei Canisius l. l. p. 192. Beigelegt wird unserm Dichter noch ein in formeller Beziehung eigenthümliches Kirchenlied, das jedenfalls aus seiner Zeit stammt. Es ist für das Fest der Ueberführung der Reliquien des heiligen Magnus in die von Salomo, dem Vorgänger Hartmanns, in St. Gallen erbaute, dem heiligen Kreuz und Magnus gewidmete Kirche, die von ihm auch später noch den Namen führte, verfasst. Die Reliquien, namentlich ein Arm des Heiligen, waren von dem Augsburger Bischof Adalbero aus dem Kloster Füssen geschenkt. S. darüber Ekkehart Cas. c. 4 und 27, und vgl. Schubiger S. 34 ff. Das Lied, für die Procession mit den Reliquien bestimmt, beginnt mit einer Strophe von vier Versen, einer Abart der phaläcischen, Das Schema ist – ᴗ ᴗ – ᴗ – ᴗ – ᴗ – ᴗ Míles ad cástrum próperés novéllum. S. bei Canisius l. l. p. 208. welche Strophe als Refrain nach allen folgenden wiederholt wird. Diese aber (sechs an der Zahl) sind anders gebildet, sie bestehen aus fünf adonischen Versen, ein für einen lebhaften Gesang wohl geeigneter Rythmus. 161

 


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