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Zehntes Kapitel.

Heliand. Muspilli.

Soweit unsere Kenntniss reicht, beginnt erst in den letzten Decennien des achten Jahrhunderts zugleich mit den Anfängen des Aufschwungs, welchen die wissenschaftliche Bildung unter dem anregenden Einfluss Karls des Grossen nahm, eine eigentliche literarische Thätigkeit in deutscher Sprache. Sie geht von den frühsten Trägern der wissenschaftlichen Kultur, der Geistlichkeit aus und erscheint im Dienste der Kirche und der für sie vorbereitenden Schule. Sie besteht zuerst in Uebersetzungen christlich-lateinischer Werke. Sehen wir zunächst ganz ab von Interlinearversionen, die als solche gar keinen literarischen Charakter haben, ferner auch von Uebertragungen so kurzer liturgischer Stücke als: Taufgelöbnisse, Paternoster und Credo, wennschon verbunden mit kurzer Erklärung, Symbola u. s. w., welche Stücke in ihrer Verdeutschung auch schon zu einem ganzen Katechismus verbunden erscheinen: Wie der Weissenburger, bei Müllenhoff und Scherer a. a. O. S. 159 ff. so begegnen wir doch bereits in den letzten Decennien des achten Jahrhunderts einer Uebertragung des Evangelium Matthäus, die von der Bildsamkeit der deutschen Sprache ein schönes Zeugniss ablegt, sowie einer Verdeutschung von Homilien. Solche Arbeiten erwuchsen unmittelbar aus der Anordnung des Kaisers dem Volke insgesammt fleissig zu predigen. S. darüber namentlich Raumer, Die Einwirkung des Christenthums auf die althochdeutsche Sprache. Stuttgart 1845. Aber um dieselbe Zeit wagte man es auch schon, eine polemisch-apologetische Schrift voll dogmatischer Erörterungen ins deutsche zu übersetzen; ich meine die zwei Bücher Isidors Contra Judaeos . S. oben Bd. I, S. 563. Die uns erhaltenen Bruchstücke dieser Uebersetzung Nur solche des ersten Buchs sind uns erhalten, am besten herausgeg. von Weinhold, Paderborn 1874. zeigen bereits in hohem Grade die Befähigung der deutschen Sprache auch zum speculativen Ausdruck und eine überraschende Kunst des Uebersetzers, der in der Freiheit der Satzbildung sich nicht sklavisch seiner Vorlage unterwirft, sondern dem Geiste seiner Muttersprache, ohne die Treue zu opfern, Rechnung zu tragen weiss. 101 Auf solchem Wege empfing die deutsche Prosa ihre erste stilistische Ausbildung und die Bereicherung ihres Wortschatzes, deren sie zum Ausdruck der neuen Gedankenwelt der christlichen Wissenschaft bedurfte.

Eine selbständige, productive literarische Thätigkeit beginnt aber, soviel wir wissen, erst etwa in den dreissiger Jahren des neunten Jahrhunderts, und zwar auf dem Felde christlicher Dichtung. Und diese hebt ebenso wie die angelsächsische Literatur und die christlich lateinische Poesie mit einer dichterischen Behandlung der Bibel an. Es ist die sächsische Evangelienharmonie, welche man nach dem Helden Heliand (Heiland) genannt hat. *Heliand herausgeg. von Sievers. Halle 1878. (Einleitung.) – Heliand herausgeg. von Rückert. Leipzig 1876. (Einleitung.) – – Windisch, Der Heliand und seine Quellen. Leipzig 1868. – Grein, Die Quellen des Heliand, nebst einem Anhang: Tatians Evangelienharmonie, herausgeg. Cassel 1869. – Sievers, Zum Heliand in: Zeitschr. f. deutsch. Alterth. Bd. XIX. 1876.– Vilmar, Deutsche Alterthümer im Heliand. 2. Aufl. Marburg 1862. Der unbekannte Verfasser dieser gegen 6000 Langzeilen umfassenden Messiade hat seinem Werke die lateinische Evangelienharmonie, welche den Namen des Tatian trägt, zu Grunde gelegt, indem er ihr in der Auswahl und Anordnung des Stoffes im grossen und ganzen folgt; im einzelnen aber weicht er verschiedentlich ab; er lässt namentlich vieles (über die Hälfte) Von den 184 Capp. des Tatian sind 60 gar nicht, und von 40 andern grössere Abschnitte nicht behandelt. S. Grein S. 55, vgl. S. 50 ff. weg und verstellt auch manches, wie z. B. in der Bergpredigt. Dazu kommt, dass er zur Ergänzung und zwar zum Zweck weiterer Ausführung auch die beliebtesten Bibelcommentare seiner Zeit benutzt hat, vor allem den des Raban zu Matthäus, wie Matthäus ja auch den Grundstock des Tatian bildete, dann den des Beda zu Lucas und Marcus und den des Alcuin zu Johannes. Auch auf die Bibel selbst ist er zuweilen zurückgegangen. S. Windisch a. a. O. S. 42. So ist also schon hiernach die Dichtung keine blosse Paraphrase des Tatian. Freilich bis zu einer selbständigen Composition des Stoffes ist der Autor kaum fortgeschritten, eine künstlerische Gliederung ist nicht zu erkennen. Wenn man auch drei Haupttheile mit Rückert A. a. O. S. XIII. annehmen kann, von denen der erste (v. 1–1120), mit der Versuchung schliessend, die Vorgeschichte, die Geburt 102 und die Ausrüstung Christi zu seiner Mission enthält, der zweite, bis zum Einzug von Jerusalem gerechnet (v. 1121–3670), die Wirksamkeit Christi durch Lehren und Wunder, und der dritte Haupttheil endlich Leiden, Tod, Auferstehung und Himmelfahrt erzählt: so ist doch eine solche Dreitheilung von dem Dichter durch nichts angezeigt, auch offenbar von ihm nicht beabsichtigt gewesen. Dagegen hat er selbst auch als den Höhepunkt der Lehrthätigkeit Christi die Bergpredigt betrachtet, und dies auch in seiner Darstellung durch eine ausführliche Einleitung, zu welcher der Commentar Beda's ihm die Anregung gab, hervorgehoben. Wie dies schon Windisch richtig beobachtete, S. 45. Hier culminirt das didaktische Element der Dichtung, das überhaupt in dem zweiten Haupttheil ebenso vorherrscht, als in den beiden andern das epische.

Viel mehr als in der Composition ruht die Originalität des Werks sowie auch sein ästhetischer Werth in der Art der poetischen Ausführung, die ihm zugleich seinen nationalen Charakter gab, und damit erst auch die Erreichung des vom Dichter erstrebten Lehrzwecks möglich machte: nicht bloss die Kenntniss, sondern mehr noch die Liebe zum Evangelium unter seinen noch nicht lange bekehrten Landsleuten zu verbreiten. Die Art der poetischen Ausführung ergab sich aber dem Dichter von selbst. Indem er das Leben Christi erzählen, seine Thaten besingen wollte, mochten diese auch ausser den Wundern nur in Reden oder in Leiden bestehen, es bot sich ihm nur eine Form der poetischen Darstellung dar, die der nationalen Epik. So musste der Held der Dichtung, Christus, zum Könige werden – selbst Volkskönig wird er ein paarmal genannt thiodcuning: v. 4799 und 5583. – seine Jünger zu seinen Degen; des Degens Ruhm ist, dass er bei seinem Herrn fest stehe, für ihn freiwillig sterbe: so sagt Thomas, v. 3996. So ist die Bibelstelle (Joh. c. 11, v. 16): Eamus et nos, ut moriamur cum eo, wiedergegeben. indem er die andern Jünger auffordert, Christus auf seiner letzten Fahrt nach Jerusalem zu folgen. Die Treue bis in den Tod ist es, die der irdische König wie der himmlische forderte. Wie jener seine Degen mit Kleinodien beschenkt, so belohnt dieser sie mit den Freuden des ewigen Lebens: daher ist Christus der cuningo rikeost; Matthäus, des irdischen Königs Degen, erwählt sich statt seiner Christus zum »Herrn«, der 103 gnädiger ist; er gibt Gold und Silber und theuere Kleinodien auf, um nun holdere Dinge und dauernderen Gewinn zu erhalten (v. 1196 ff.). Derselben Auffassung Christi sind wir ja auch schon in der angelsächsischen Epik begegnet. S. oben S. 51 und 64. Hierdurch wurde die biblische Erzählung den Germanen erst wahrhaft sympathisch gemacht.

Solche naive Germanisirung tritt uns auch sonst entgegen, als etwas selbstverständliches: es werden die Handlungen dargestellt, als hätten sie in Deutschland sich zugetragen, unter den Sachsen selber. S. Vilmar a. a. O. S. 27. Die Localitäten, die Sitten, die staatlichen Einrichtungen werden soviel als möglich den sächsischen in der Schilderung assimilirt, so dass man mit Recht den Heliand als eine Quelle für unsere Kenntniss der deutschen Alterthümer der Zeit des Dichters angesehen und behandelt hat. In der Beziehung ist das Werk eine deutsche Reproduction der evangelischen Geschichte. Wo eine Assimilation aber gar nicht möglich war, wird die fremdartige Sitte auch ausdrücklich als eine solche bezeichnet. So wird das Spielen (gaman) der Tochter des Herodes vor den Gästen eingeführt mit den Worten: al so thero liudio landwise gidrog, | thero thiodo thau. v. 2762 f. Vgl. auch v. 2731. Andrer solcher Stellen gedenkt noch Vilmar S. 37. Mit diesem germanischen Charakter der Dichtung, welcher der Darstellung ein eigenthümliches frisches und einheitliches Kolorit verleiht, hängt offenbar der überall durchblickende Zug feindseliger Gesinnung gegen die Juden zusammen, obwohl derselbe im Widerspruch mit jener Germanisirung steht, insofern ja Christus und seine Mannen aus diesem Volke hervorgegangen sind: aber dem Dichter, der sie wie Germanen erscheinen lässt, sind sie keine Juden mehr und so lässt er Christus selbst von dem »Pascha der Juden« reden, wo »sie ihrem Gotte dienen« (v. 4459). Aus diesem Grunde ist wohl auch die Beschneidung Christi wie Johannes des Täufers weggelassen, bei letzterem um so auffallender, da seiner Namensgebung hier weit ausführlicher als in der Bibel gedacht wird. v. 208–237.

Der Autor hat aber seinem Werk einen poetischen Charakter auch dadurch namentlich verliehen, dass er die 104 Gelegenheit gern ergreift, Schilderungen einzufügen und ausführliche Beschreibungen von Vorgängen, die sich im einzelnen zu ästhetischer Wirkung ausmalen lassen, zu geben. Wie sich erwarten lässt, sind auch hier Vorbilder und Farben der nationalen Umgebung und gewiss auch der nationalen Epik selbst entlehnt. Gedenken wir einiger dieser Zusätze und Ausführungen. So gibt der Dichter (v. 152 ff.) ein treues Bild von der greisenhaften Erscheinung in dem Porträt der alten Eltern des Johannes: das Gesicht schwach, der Gang lässig, das Fleisch geschwunden, die Haut hässlich, der Leib welk. So schildert er in deutsch gemüthvoller Weise (v. 378 ff.), wie Maria das neugeborene Kind, »den kleinen Mann«, »selbst wartet« und bewacht. Die Hirten sind »Pferdeknechte« (ehuscalcos), welche die Rosse auf dem Felde bewachen (ein Beweis, wie vor allem die Pferdezucht schon damals in Niedersachsen gepflegt wurde). Ein poetischer Zug der Ausführung unseres Dichters aber ist, dass erst ein Lichtschein die schwarzen Wolken durchbricht, ehe der Engel erscheint, oder die Hirten ihn sehen. Während in der Bibel (Luc. c. 2, v. 9) der Engel plötzlich bei den Hirten steht und dann die claritas Dei sie umglänzt. Anlass zu ausführlicheren Gemälden geben dem Dichter die Gastmähler, das in Kanaan gefeierte (v. 1995 ff.) und besonders das des Herodes (v. 2731 ff.); nicht minder die Seefahrten (v. 2233 ff. und v. 2902 ff.), die zuerst erwähnte (Matth. 8, 23) bietet die Gelegenheit zu einer kurzen trefflichen Beschreibung eines Seesturms. Erscheinen nun schon solche Schilderungen im Stile der weltlichen nationalen Epik gehalten, so tritt dieser ganz offenbar hervor an der einen Stelle, wo der biblische Text einem der Degen Christi das Schwert zu ziehen erlaubte. Petrus, der »Schwertdegen«, wie er wohl im Unterschied von den andern, unbewaffneten Degen genannt wird, verwundet den Malchus, aber in unserm Gedicht bei der Vertheidigung seines »Herrn«. So zornig, dass er kein Wort reden kann, tritt er kühn vor seinen Herrn, zieht sein Schwert und schreitet dem ersten der Feinde »mit seiner Hände Kraft« entgegen. Weitläufig beschreibt dann der Dichter die Verwundung, Mit sichtlichem Behagen an solchem Gegenstand; s. v. 4877:
        thiu hlust ward imu farhawan: he ward an that hobid wund,
        that imu herudrorag hlear endi ore
        beniwundun brast; blod aftar sprang,
        well fan wundun. Tho was an is wangun scard
        the furisto thero fiundo. Tho stod that folc an rum:
        andredun im thes bilies biti.
die die Furcht der zurückweichenden Feinde erregt.

105 Was Stil und Vers betrifft, so schliesst sich der Heliand an die verwandte angelsächsische Dichtung an, S. oben S. 6 ff. nur sind die Vergleiche wie die Kenningar weit seltener, der Glanz des Kolorits fehlt ihm, aber auch die bunte Ueberladung, es ist eine Aquarellmalerei einer Oelmalerei gegenüber; aber die Wiederholungen, welche, wie wir sahen, auch diesem Stile eigenthümlich sind, und die sich im Heliand gerade in Fülle finden, wirken durch den Mangel der Kenningar nur um so mehr ermüdend und erscheinen um so weniger gerechtfertigt, sie dienen oft nur als Hülfsmittel der Versification. Zieht uns die Einfachheit der Darstellung und der gleichmässige ruhige Fluss derselben an, so lassen uns doch seine mäandrischen Windungen bald ermatten. Vielleicht wirkte in dieser Rücksicht die Gebundenheit an eine Vorlage, selbst bei einer freien Behandlung derselben, nachtheilig ein.

Von dem Verfasser der Dichtung wissen wir nichts: dass er ein Geistlicher war, lässt sich nach dem Charakter derselben mit voller Sicherheit annehmen. Ob er, wie eine spätere Ueberlieferung will, Es ist eine von Flacius Illyricus in der zweiten Ausg. seines Catalog. testium veritatis 1562 ohne Quellenangabe mitgetheilte » Praefatio in librum antiquum lingua Saxonica conscriptum«, der » Versus de poeta et interprete huius codicis« folgen. Eine Beziehung der Praef. auf den Heliand ist trotz mancher argen Widersprüche nicht unwahrscheinlich. Mehr aber, als ich oben im Text gegeben, vermag ich nicht aus ihr zu entnehmen. S. die Literatur, die sie hervorgerufen, in Sievers' Einleitung S. XXV. in der That von Ludwig dem Frommen die Aufforderung zu seinem Werke erhielt, steht dahin; nur soviel scheint sich mir aus dieser Tradition zu ergeben, dass es noch in der Zeit dieses Kaisers abgefasst worden ist. Die Benutzung des Rabanschen Commentars aber gibt als terminus a quo 822. S. Windisch S. 83.

 

In die Regierungszeit Ludwigs des Frommen, und 106 wohl in die letzten Jahre Das Gedicht ist auf den Bändern und leeren Seiten eines von dem Erzbischof von Salzburg, Adelram (821–836) Ludwig dem Deutschen gewidmeten Msc. von gleichzeitiger Hand geschrieben. Müllenhoff etc. S. 264. ist auch eine Dichtung Muspilli. Bruchstück einer althochdeutschen alliterirenden Dichtung vom Ende der Welt. Aus einer Hdschr. der k. Bibl. zu München herausgeg. von Schmeller. München 1832. – Müllenhoff und Scherer, Denkmäler No. III. – *Braune, Althochdeutsches Lesebuch No. XXX. – – Zarncke, Ueber das althochdeutsche Gedicht vom Muspilli. In den Berichten der k. sächs. Ges. d. Wiss. Bd. XVIII. 1866. S. 191 ff. – Vetter, Zum Muspilli und zur germanischen Alliterationspoesie (Metrisches. Kritisches. Dogmatisches). Wien 1872. zu setzen, welche die Schicksale der Seele nach dem Tode in christlichem Geiste und mit der didaktischen Absicht behandelt, zu einem Gott wohlgefälligen Leben auf Erden zu ermahnen, um dem ewigen Verderben zu entgehen. Die Dichtung ist uns nur fragmentarisch und auch nicht in voller Ordnung überliefert, der Schluss fehlt, auch im Innern ein Abschnitt, sowie der Eingang, wenn auch an letzterer Stelle wohl nur wenige Zeilen abgefallen sind. Im ganzen sind uns etwas über 100 Langzeilen erhalten.

Das Gedicht, vom ersten Herausgeber Muspilli genannt, Wegen des Weltbrandes, der in der germanischen Mythologie mit diesem Ausdruck bezeichnet wird; und ebenderselbe findet sich auch in dem Gedicht v. 57. Schmeller nämlich und seine Nachfolger bis auf Zarncke sahen irriger Weise in der hier gegebenen Schilderung der letzten Dinge eine Reminiscenz der germanischen Mythe. beginnt, so wie es vorliegt, damit, zu erzählen, wie um die Seele, nachdem sie den Leib verlassen, zwei Heere sich streiten, von denen das eine von den Himmelssternen, das andre aus dem Pech der Hölle kommt. »Sorgen mag die Seele, bis das Urtheil ergeht, zu welchem von beiden sie geholt werde«; ob das Gesinde des Satan sie in Feuer und Finsterniss, oder die Engel in das Himmelreich führen. Wehe dem, der im Peche brennen soll, der erhebt vergeblich zu Gott seine Stimme, denn er hat hier auf der Welt nicht danach gewirkt, um Gnade bei ihm zu finden.

Hierauf geht der Dichter mit Vers 31 zu einem zweiten Theil, einer Schilderung der letzten Dinge, des jüngsten Gerichts und der es ankündigenden Ereignisse, über. Er hebt hier mit dem Kampf des Antichrist mit Elias an, auf Grund einer alten von den angesehensten Kirchenlehrern getheilten Auslegung einiger Verse der Apokalypse (c. 11, v. 3 und 7), 107 die in unserem Gedichte aber ganz frei verwerthet erscheint. Denn statt der zwei Propheten, Elias und Enoch, lässt es nur einen auftreten und kämpfen, und während in der Bibel (a. a. O.) die beiden besiegt und getödtet werden, ist hier der Ausgang des Kampfes ein ganz andrer. »Elias«, erzählt unser Dichter (v. 41), »streitet um das ewige Leben, er will den Gerechten das Reich befestigen, darum wird ihm des Himmels Herrscher helfen.« Der Antichrist aber steht bei dem Satan, der ihn doch verderben wird. Darum fällt er in dem Kampf und wird besiegt; Elias aber wird, wie viele Diener Gottes glauben, verwundet. »Sowie das Blut des Elias auf die Erde tropft«, entsteht der Weltbrand, der die Erde, das Meer und den Himmel ergreift; der Mond fällt: da fährt der Straftag ins Land, mit dem Feuer die Menschen heimzusuchen, wo nun kein Verwandter dem andern mehr nützen oder schaden kann. Der Streit hört auf mit dem Gegenstand, der bestrittenen Landmark. Die Seele aber erwartet ihr Strafgericht. Hier (v. 63 ff.) findet sich denn eine Vermahnung der bestechlichen Richter eingeschaltet – von der es zweifelhaft sein kann, ob sie der Dichtung ursprünglich angehörte –: sie mögen bedenken, heisst es hier, dass der Teufel verborgen ihrem Gerichte beiwohnt, und dieser Aufpasser alles sich merkt, um es beim Weltgericht anzuzeigen.

Darauf beginnt dann die Erzählung vom jüngsten Gericht selbst (v. 73). Das »himmlische Horn« ertönt und der Weltrichter erhebt sich zur Fahrt und mit ihm der Heere grösstes, das so kühn ist, dass niemand es bekämpfen kann. Er zieht nach der abgegrenzten Malstätte, wo das Gericht gehalten wird. Die Engel fahren über die Lande, erwecken die Todten und rufen sie zum Gericht. Dort muss jeder der Menschen erscheinen: »da soll dann die Hand sprechen, das Haupt sagen, aller Glieder jegliches bis zum kleinen Finger, Vgl. oben S. 90. was es unter den Menschen Böses mordes, wohl hier wie im Angelsächsischen für Todsünde. vollbrachte; da ist niemand je so schlau, der etwas zu erlügen vermöchte«. Er kann keine That verbergen, alles wird vor dem Könige verkündet, wenn er nicht mit Almosen und Fasten es büsste. Dann wird das herrliche Kreuz, an dem der heilige Christ erhängt ward, hervorgetragen: 108 er zeigt die Male, die er in der Menschlichkeit empfing, die er aus Liebe zu dem Menschengeschlecht erduldete.

Hier bricht das Gedicht ab. An einer Einheit desselben ist nicht zu zweifeln. Wenn im ersten Theil das Schicksal der Seele schon thatsächlich entschieden erscheint, und sie im zweiten doch erst den Richterspruch empfängt, so erklärt sich dies, wie Zarncke ausführlich gezeigt hat, S. namentlich S. 200 a. a. O. aus den dogmatischen Ansichten, die sich seit Gregor dem Grossen immer mehr verbreiteten; der scheinbare Widerspruch wird dadurch aufgehoben, dass erst durch den Richterspruch das Loos der Seele ein definitives, man möchte sagen, legitimirt wird. Die Kritik Vetters, der die beiden Theile als zwei verschiedene Gedichte betrachtet, wäre vollkommen berechtigt, wenn es sich um eine »Abhandlung« unsrer Zeit handelte; aber er vergisst, dass wir es mit einem Gedicht, und einem Poeten des neunten Jahrhunderts zu thun haben. – Die Ansicht Müllenhoffs, dass der Kampf mit dem Antichrist an falscher Stelle sich finde, theile ich nicht; die sechs vorausgehenden Verse leiten nur den zweiten Theil ein, sie kündigen nur das neue Thema, das vom jüngsten Gerichte, an, zu dessen Behandlung das Gedicht mit V. 37 übergeht: daher auch im Beginne desselben die epische Formel.

Das Gedicht ist in alliterirenden Langzeilen verfasst; die Darstellung von einfacher Grösse, frei von einem gemachten Pathos und weitschweifiger Wiederholung, zeigt, wie die des Hildebrandslieds, die alliterirende Dichtung in einem weit besseren Lichte als die angelsächsische Poesie. Die Mundart ist bairisch. Der Verfasser, der sich aller pastoralen Salbung enthält und mit der Sage vom Antichrist so frei schaltet, war gewiss ein Laie.

 


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