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Neuntes Kapitel.

Weltchronik: Regino. Nationalgeschichte.

Die Weltchronik fand eine eigenthümliche Behandlung in dem im Jahre 908 abgeschlossenen Werke des Abtes Regino, Reginonis Opera in: Migne's Patrolog. latina Tom. 132. – Chronicon ed. Pertz in: Monum. German. histor., Script. Tom. I, p. 53« ff. – Libri II de synodalibus causis et de disciplinis ecclesiasticis, ed. Wasserschleben. Leipzig 1840. – Geschichtschreiber der deutschen Vorzeit in deutscher Bearbeitung. Regino's Chronik von Dümmler. (Einleitung.) – Wattenbach, Deutschl. Geschichtsquellen Bd. I, S. 242 ff. – Ermisch, die Chronik des Regino bis 813. Göttingen 1871 (Diss.). 227 welches im Mittelalter Jahrhunderte lang eines der Hauptlehrbücher der Geschichte blieb und von vielen Historikern benutzt wurde. Der Verfasser, der sich auch noch durch ein anderes Werk, über die kirchliche Disciplin, berühmt gemacht hat, stammte, von edler Herkunft, aus Altrip am Rhein. Er trat in das auch durch seine wissenschaftlichen Bestrebungen schon lange angesehene Kloster Prüm, S. Bd. II, S. 185. dessen Abt er 892 wurde. Aber diese Würde bekleidete er nicht lange; er wurde 899 durch einen Bruder der in Lothringen mächtigen Grafen Gerhard und Matfrid aus seiner Stelle verdrängt. Regino fand jetzt eine Zuflucht bei dem Erzbischof Ratbod von Trier, der ihm das dortige Martinskloster, das von den Normannen verwüstet war, zur Wiederherstellung übergab. Nach Erfüllung dieser Aufgabe zog er sich indess, wie es scheint, in das Kloster St. Maximin, auch in Trier, zurück, Vgl. Wattenbach a. a. O. S. 244, Anm. 1. um sich ganz seinen gelehrten Arbeiten hinzugeben. Er starb dort 915.

Seine » Chronica«, So betitelt, und zwar das Wort als Singular femin., Regino selbst sein Werk in der Widmung: Chronicam quam de nostris et antecessorum nostrorum temporibus litteris comprehendi. die dem gelehrten Bischof Adalbero von Augsburg, dem Erzieher Ludwigs des Kindes, gewidmet ist, besteht aus zwei Büchern, welche einen wesentlich verschiedenen Charakter haben, wie auch schon die besonderen Titel anzeigen. Das erste ist nämlich De temporibus dominicae incarnationis , das zweite De gestis regum Francorum überschrieben. Das erste ordnet die Begebenheiten nach den Regierungen der römischen Kaiser, dem Vorgang der von Regino stark benutzten Chronik Beda's folgend, nur zählt es nicht zugleich nach den Jahren der Welt wie diese, sondern nach denen von Christi Geburt; es geht bis auf Karl Martells Tod. Es werden fast nur Thatsachen, welche die christliche Kirche oder die germanischen Völker betreffen, angeführt, indem gegen den Schluss unter Karl Martell die Franken in den Vordergrund treten, ja auch zugleich nach den Jahren seiner Regierung 228 datirt wird. So wird der Uebergang zu der Darstellung des zweiten Buches gemacht, das, wie der Titel anzeigt, der fränkischen Geschichte zunächst allein gewidmet ist und ganz annalistisch die Ereignisse jedes Jahres von 741, dem Jahre des Regierungsanfangs Pippins des Kurzen, an bis zum Jahre 906 aufführen soll, nur dass sich an einzelnen Stellen beträchtliche Lücken – selbst von einer ganzen Reihe von Jahren – finden. Trotzdem ist dies zweite Buch zwei und ein halb mal stärker als das erste.

Die Verschiedenheit der beiden Theile, die ganze Anlage des Werks erklärt sich, sobald wir die Absicht, welche der Autor bei der Abfassung desselben verfolgte, in Betracht ziehen. Die Widmung gibt uns darüber Auskunft. Regino sagt da: »es schien mir unwürdig, dass, während die Geschichtschreiber der Hebräer, Griechen und Römer und andrer Völker die in ihren Tagen geschehenen Thaten durch Schriften unserer Kenntniss überlieferten, von unsern, wenn auch weit unbedeutenderen Zeiten so beständig geschwiegen wird«, als ob nichts denkwürdiges geschehen, oder niemand im Stande sei, es aufzuzeichnen. »Aus diesem Grunde habe ich nicht dulden wollen, dass die Zeiten unserer Väter und die unsrigen durchaus unberührt vorübergehen« u. s. w. Regino hat also dieselbe Absicht als einst Gregor von Tours, an den auch die citirten Aeusserungen erinnern; S. oben Bd. I, S. 541. er will die fränkische Geschichte und insbesondere die seiner Zeit darstellen, nur ist der letztere Ausdruck in einem weiteren Sinne zu nehmen. So bildet das eigentliche Werk das zweite Buch; das erste gibt die Vorgeschichte, indem dabei die Geschichte der christlichen Kirche als ein integrirender Theil der fränkischen betrachtet wird: geht doch auch die Zeitrechnung der Franken von Christi Geburt an. Vgl. auch Regino's eigene Aeusserung über das Verhältniss beider Theile am Schlusse des ersten Buchs, eine Aeusserung, die allerdings in ihrer Kürze durch den hier verderbten Text doppelt unklar ist. Das ganze Werk ist demnach sozusagen eine christlich-fränkische Weltchronik: freilich ist seit Karl dem Grossen das Reich der Franken auch das Weltreich. Nur in Bezug auf diesen universalen Standpunkt erscheint auch die Motivirung seines Unternehmens von Seiten des Verfassers gerechtfertigt. Allerdings waren auch seine literarischen Hülfsmittel sehr mangelhaft, wenn er von den Zeiten Ludwigs des Frommen sagen konnte, dass er keine Schriften über sie gefunden habe, Jahr 813 Ende.

229 Die Ausführung der einzelnen Abschnitte ist je nach der Absicht des Autors und nach den ihm zu Gebote stehenden Quellen eine sehr verschiedene, im ganzen durchaus ungleiche. Im ersten Buch wird die Geschichte der germanischen Völker am ausführlichsten behandelt, namentlich auf Grund der Gesta regum Francorum, der Langobardengeschichte des Paulus Diaconus und der Gesta Dagoberti. Der christlichen Märtyrer wird, hauptsächlich nach Ado's Martyrologium, mit grosser Sorgfalt gedacht; auch der Kirchenväter und andrer Autoren, wobei besonders Beda's Weltchronik benutzt wurde. Von den Päpsten des Zeitraums wird nach den Gesta pontificum Romanorum ein vollständiges Verzeichniss gegeben. S. eine genaue Angabe der Quellen bei Ermisch S. 78 ff. – Im zweiten Buch folgt Regino zunächst den grossen Lorscher Annalen bis zum Jahre 813, indem er nur weniges aus mündlicher Ueberlieferung hinzufügte; Wie er selbst sagt a. a. O.: quaedam etiam addidi, quae ex narratione seniorum audivi. diese bildet aber von da an seine Hauptquelle, zu der sich dann später die der eigenen Erfahrung und Beobachtung gesellt. So erklärt sich auch die so dürftige Behandlung der Regierung Ludwigs des Frommen, von der überhaupt nur sieben Jahre angemerkt werden, während die des Kaisers Lothar, des speciellen Landesherrn als Herrschers von Lothringen, weit vollständiger gegeben ist, selbst unter gelegentlicher Benutzung von Urkunden. – Die Zeit vom Jahre 892 an bezeichnet der Verfasser selbst als die moderne. Hier, wo er am ausführlichsten sein konnte, hat er sich doch eingeschränkt und über manches, wie er selbst sagt, geschwiegen, weil er die noch Lebenden zu verletzen fürchtete. S. unter dem Jahre 892. Trotzdem ist namentlich dieser Theil als historische Quelle wichtig. Freilich ist hier wie auch sonst, wo Regino nach mündlicher Ueberlieferung erzählt, trotz seiner Wahrheitsliebe eine strenge Kritik bei seiner Benutzung nothwendig, zumal ihm aller Sinn für chronologische Sorgfalt abgeht.

Was den sprachlichen Ausdruck Regino's betrifft, so ist er für jene Zeit correct und ungezwungen. Doch gehört ihm der Ausdruck nur da wahrhaft an, wo er nicht aus schriftlichen 230 Vorlagen schöpft; diese excerpirt er meist wörtlich, sodass im ersten Buch oft ein seltsames Mosaik aus verschiedenen Autoren uns begegnet, wenn er auch hier und da stilistische Correcturen vornahm, wie er dies selbst an einer Stelle erklärt. In Bezug auf die Lorscher Annalen: ex parte ad latinam regulam correxi. Jahr 813. –

Die Gelehrsamkeit und allgemeine Bildung Regino's bezeugen noch zwei andere Werke, die nur indirect in den Kreis unserer Betrachtung gehören. Das eine, auf das wir schon oben hinwiesen, sind die beiden, um 906 verfassten, S. Ed. Wasserschleben Praef. pag. VIII. Dieser Herausgeber hat auch zuerst die richtige Form des Titels eruirt. Praef. pag. V, Anm. Bücher De causis synodalibus et disciplinis ecclesiasticis . Dies von Ratbod angeregte Werk ist dem Erzbischof von Mainz und »Primas von ganz Germanien«, Hatto, der damals die Regentschaft führte, gewidmet. Es hat nur einen durchaus praktischen Zweck, den Bischöfen auf ihren Synoden als Handbuch zu dienen für die Visitation der Kirchen und der Gemeinden; so zerfällt es in zwei Bücher, indem das erste die kirchlichen Locale und Geräthe sowie den Klerus, das andre die Laien und ihre Moral betrifft. In jedem Buch werden zunächst die Fragen gegeben, welche der Bischof zu stellen hat, dann folgen in einzelnen Kapiteln aus den Beschlüssen der Concilien, den Decretalen der Päpste, den Capitularien und dem römischen Recht, den Schriften der Kirchenväter und den Bussbüchern Citate, welche zeigen sollen, was in Betreff der einzelnen Fragepunkte (in Germanien damals) Rechtens ist. Diese Auswahl ist mit grosser Sorgfalt und Treue gemacht. Das Werk ist kulturgeschichtlich wie rechtsgeschichtlich von hohem Interesse. Mit Rücksicht auf den rein praktischen Zweck, den es verfolgt, gestattet die Art der Ausführung im einzelnen wichtige Schlüsse auf den Stand der Sittlichkeit jener Zeit. So sagt Regino selbst in der Widmung, indem er die Auswahl seiner Citate rechtfertigt: Illud etiam adiciendum est, quod multa flagitiorum genera hoc pessimo tempore in ecclesia et perpetrata sunt et perpetrantur, quae priscis temporibus inaudita, quia non facta et ideo non scripta et fixis sententiis damnata, quae modernis patrum regulis et damnata sunt et quotidie damnantur.

Die andre Schrift Regino's, die hier eine kurze Erwähnung verdient, ist seine Epistola De harmonica institutione , In: Gerberts Scriptores ecclesiastici de musica sacra potissimum. Tom. I. St. Blasien 1784. S. 230 ff. Der Tonarius, welcher hier fehlt, ist dagegen herausgeg. von Coussemaker in dessen: Scriptorum de musica medii aevi Tom. II. Paris 1867. pag. 1 ff. an seinen 231 Gönner Ratbod gerichtet, der häufig bei der Visitation seiner Diöcesen über den fehlerhaften Gesang der Psalmen geklagt hatte. Regino nahm deshalb, wie er im Eingang erzählt, das Antiphonar her und »ordnete alle die Antiphonen ihren rechten Tonarten zu«; die Epistel ist eben zur Einführung dieses Tonarius geschrieben: sie gibt Nachricht von seiner Einrichtung und motivirt seine Abfassung gleichsam, indem sie von den Antiphonen, den acht Tönen, der natürlichen und der Kunstmusik, den Consonanzen und Intervallen u. s. w. in der Kürze handelt, um schliesslich die Nothwendigkeit der Theorie der blossen Praxis gegenüber zu zeigen, ja die Wissenschaft der Kunst über die Kunst selbst zu erheben. Interea sciendum est, quod non ille dicitur musicus, qui eam manibus tantummodo operatur, sed ille veraciter musicus est, qui de musica naturaliter (?) novit disputare et certis rationibus eius sensus enodare. Omnis enim ars omnisque disciplina honorabiliorem naturaliter habet rationem, quam artificium, quod manu atque opere artificis exercetur. § 18. Der zwischen ars und artificium gemachte Unterschied ist nicht uninteressant hier zu beobachten. Die Schrift zieht durch einen klaren einfachen Ausdruck an, auch durch einzelne eigene Ausführungen wie über die Wirkung der Musik auf den Menschen (§ 6); ihrem Hauptinhalt nach geht sie auf Boëtius und Martianus Capella zurück.

 

In dem historischen Werke Regino's sehen wir die Weltchronik im Uebergang zur Nationalgeschichte. Diese selbst findet in unsrer Periode auch eine verschiedene Behandlung, zunächst die der Franken in der unbedeutenden anonymen Fortsetzung des Breviarium des Erchanbert. S. Bd. II, S. 391. Dieselbe Ed. Pertz in: Monum. German. histor., Scriptores T. II, p. 329 f. schliesst sich aber nicht unmittelbar an dieses an, indem sie mit dem Tode Ludwigs des Frommen anhebt. Während Erchanbert 826 sein Breviar abschliesst. Sie geht bis zum Jahre 881, verzeichnet aber fast nur die Theilungen des Reichs: die nach Ludwigs des Frommen Tode, die Lothringens nach dem des Lothar, sowie die Germaniens durch Ludwig den Deutschen. Etwas ausführlicher erwähnt noch der 232 Verfasser den Erwerb der Krone Italiens durch Karlmann und schliesst darauf mit der Kaiserkrönung Karls III. (881), welchem er, wie der Mönch von St. Gallen, S. oben S. 221. einen Nachfolger geboren wünscht, indem er das Aussterben des Geschlechts Ludwigs des Frommen schon befürchtet; und doch erwähnt er noch als am Leben befindlich Ludwig III. und Ludwig den Jüngern, die beide 882 starben. Hieraus ergibt sich die Zeit der Abfassung. Die besondere Theilnahme, die der Autor Karl III. schenkt, lässt leicht in ihm einen Schwaben vermuthen.

 

Auch die Geschichte der Langobarden hat ein paar Werke damals aufzuweisen. Sie reihen sich an die Geschichte des Paulus Diaconus an. Das eine, die Historia des Presbyters Andreas von Bergamo, Ed. Waitz in: Monum. German. histor., Scriptores rerum langobardicarum et italicar. Saec. VI–IX. Hannover 1878. pag. 220 ff. (Praef.). in den letzten Decennien des neunten Jahrhunderts geschrieben, knüpft an ein dürftiges Excerpt aus dem Werke des Paulus eine Fortsetzung desselben an, die bis auf die Zeit des Verfassers gehen soll, aber mit dem Jahr 877 abbricht, indem der Schluss fehlt. Wie der Verfasser selbst erklärt, hat er nicht bloss aus Büchern, sondern auch aus mündlicher Ueberlieferung geschöpft. Letztere Quelle gibt sich namentlich in dem, was er von Karl dem Grossen berichtet, kund. Erst von der Mitte des neunten Jahrhunderts wird seine Erzählung zuverlässig, die zwar im einzelnen oft ausführlich ist, aber im ganzen vieles übergeht. Die fränkischen Herrscher stehen durchaus im Vordergrund derselben. Der lateinische Ausdruck ist bis zur Unverständlichkeit barbarisch.

Das andre Werk ist die Historiola Langobardorum Beneventum degentium , verfasst von einem Mönch Montecasino's, Erchempert, Ed. Waitz a. a. O. pag. 231 ff. (Praef.). der sie nach der Zerstörung des Klosters durch die Sarazenen 883, in Capua schrieb. Nachdem er patriotisch wehmüthig erklärt, dass er ganz im Gegensatz zu Paulus Diaconus nicht den Aufschwung, sondern den Niedergang seines Volkes zu schildern habe, beginnt er mit der Erhebung Pippins, des Sohnes Karls des Grossen, zum König von Italien und dem Zuge beider gegen den Herzog von Benevent, Arichis, den Schwiegersohn des Desiderius (781), und 233 führt dann die Geschichte der Langobarden Unteritaliens bis zum Anfang des Jahres 889. Dass der Verfasser die Absicht hatte, sein Werk noch weiter zu führen, zeigt der Schluss. Es ist ein grauenhaftes Bild fortdauernder Kämpfe, Mordthaten, Zerstörungen und Plünderungen, das sich vor unsern Augen entrollt und nur zu sehr die Klage des Autors im Eingange rechtfertigt. Zu den Bürgerkriegen der einzelnen langobardischen Fürstenthümer, die sich allmählich gebildet, gesellen sich die Invasionen der Franken, Griechen und Sarazenen, welche auch in jene mehr oder weniger eingreifen. Als historische Quelle werthvoll, weiss das Buch auch an einzelnen Stellen durch Lebendigkeit der Erzählung zu fesseln. Dazu kommt, dass der Autor nicht selten seinen Empfindungen und seinem Urtheil einen Ausdruck verleiht, in welchem der Geistliche durch die Hinweisung oder Anführung von Bibelstellen sich kundgibt. Bemerkenswerth ist, dass an ein paar Stellen Reden in Versen gegeben werden. Erchempert hat auch Verse zu einem Martyrologium geschrieben. Pertz, Archiv Bd. VIII, pag. 786.

Bedeutender als bei den Franken und Langobarden erscheint in dieser Periode die Nationalgeschichte bei den Angelsachsen, namentlich insofern sie hier bereits auch in der Volkssprache behandelt wird; schon aus diesem Grunde betrachten wir sie besser im Zusammenhang mit der Literatur der Angelsachsen überhaupt in einem der folgenden Kapitel.

 


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