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Elftes Kapitel.

Lyrik. Otfrid.

Ein paar geistliche Lieder dieser Periode, und wohl noch vor Otfrids Werk verfasst, bezeugen, dass auch die christliche Lyrik im Hinblick auf die lateinische kirchliche Dichtung bereits gepflegt wurde. Das eine, Müllenhoff und Scherer, Denkmäler No. IX. – Braune, Althochd. Lesebuch No. XXXIII. sicher für den Gottesdienst 109 selbst bestimmt, besteht nur aus drei Strophen von je drei Zeilen, von denen die letzte allemal durch den Refrain »Kyrie eleyson, Christe eleyson« gebildet wird. Dies Lied feiert die Schlüsselgewalt Petri und fordert zum Gebet zu ihm mit den Worten auf: Bitten wir den Freund Gottes alle gesammt gar laut, dass er uns schuldige der Gnade würdige.

Das andre, ein längeres Gedicht, das, am Schlusse verstümmelt, noch 58 Zeilen zählt, ist dem heiligen Georg gewidmet und besingt sein Martyrthum. Müllenhoff und Scherer, Denkmäler No. XVII. – *Braune, Althochd. Lesebuch No. XXXV. – – Zarncke, Ueber den althochdeutschen Gesang vom heil. Georg. In den Sitzungsber. der k. sächs. Ges. d. Wiss. philol. hist. Cl. Bd. XXVI (1874), S. 1 ff. Der »berühmte Graf Georg« erscheint zum Gerichte, das der Kaiser Dacian über die Christen hält, um offen seinen Glauben zu bekennen, nachdem er der Welt entsagt. Vergeblich suchen ihn die vielen Könige, Nach der lateinischen Legende sind es 72. welche Dacian um sein Tribunal versammelt hat, zur Bekehrung zu verlocken: er bleibt standhaft. Man wirft ihn in den Kerker, aber Engel begleiten ihn dahin. Dort thut er Zeichen und Wunder. Zwei Weiber, die hier verhungerten, erhalten durch ihn Speise; Blinde, Lahme, Stumme und Taube stellt er wieder her; aus einer Säule, welche dort viele Jahre stand, sprang Laub hervor. Dacian wüthet, er erklärt Georg für einen Gaukler, und lässt ihn mit wunderscharfem Schwert erschlagen. Aber der Heilige steht wieder auf und predigt, die Heiden beschämend. Wenn wir mit Zarncke v. 28 giscanta lesen; sonst »verjagend«. Nun wird er auf ein Rad geflochten, das ihn in zehn Stücke zerbricht: mit demselben Erfolg. Ein neues Martyrthum folgt: man schindet ihn, mahlt ihn und verbrennt ihn zu Pulver, wirft dies in den Brunnen, und wälzt viele grosse Steine darauf; aber Georg erhebt sich von neuem und springt heraus. In den folgenden, theilweis unvollständig überlieferten Strophen werden noch zwei Thaten von ihm erzählt, die Zerstörung des Götzen »Abollin«, der erst sich selbst als vom Teufel betrogen anklagen muss, Darauf bezieht sich offenbar die drittletzte Strophe, von welcher die letzte nicht zu trennen ist, beide sind der vorletzten entweder voraus- oder nachzusetzen. In Betreff der ersten Stellung, welche Haupt wählte, s. Zarncke's Bedenken a. a. O. S. 8. Ob dasselbe, an sich gerechtfertigt, auch dem Dichter unseres Lieds zugetraut werden darf, scheint mir doch zweifelhaft. Auch kann derselbe absichtlich die Bekehrung der Königin ihrem öffentlichen Bekenntniss, das die folgende Strophe erzählt haben wird, unmittelbar vorausgeschickt haben. und die Bekehrung 110 der Königin »Elossandria« (Alexandra), der Gemahlin des Dacian. Das Ende der Dichtung fehlt ganz, welches mindestens noch das Bekenntniss der Königin, ihre und Georgs Hinrichtung zu erzählen hatte.

Dem Lied liegt eine lateinische Redaction der Legende des Heiligen zu Grunde, die uns nicht erhalten ist, die sich aber von der ältesten uns bekannten lateinischen Dieselbe hat zuerst Arndt im Anhang von Zarncke's Aufsatz veröffentlicht. S. 43 ff. – Eine andre, kürzere lateinische Redaction aus dem neunten Jahrhundert hat Zarncke 1875 in denselben Sitzungsber. Bd. XXVII S. 256 ff. herausgegeben. nicht zu weit entfernte, indem in dieser fast alle hauptsächlichen Züge des Lieds sich wiederfinden. Sehr nahe verwandt der Quelle unseres Lieds war die lateinische Redaction, welche die Vorlage des französischen von Luzarche (Tours 1859) herausgegebenen Gedichts und des deutschen des Reinbot von Dorn bildete, so dass diese Gedichte zur Erklärung unseres Lieds herangezogen werden können, wie dies Zarncke mit Erfolg gethan hat. Den lateinischen Redactionen der Legende geht aber eine griechische voraus, wie sich dies bei dem orientalischen Heiligen, der in Kappadocien geboren sein und dort auch das Matyrium erlitten haben sollte, von selbst versteht; in der griechischen Redaction wird indess der Kaiser Diocletian genannt. Dass aber der Kultus dieses Heiligen nur eine christliche Umbildung des Mithraskultus ist, und daher die Legende selbst ein reines Werk der Phantasie, hat Gutschmid mit vollster Sicherheit nachgewiesen. Ueber die Sage vom heiligen Georg, als Beitrag zur iranischen Mythengeschichte, in den Sitzungsber. der k. sächs. Ges. d. Wiss. Philol. hist. Cl. Bd. XIII (1861) S. 175 ff.

Das in alemannischer Mundart verfasste Gedicht ist in einfachem volksmässigen Tone gehalten, der an die Balladen der neueren Literatur erinnert. Die Darstellung wird aber durch die metrische Form wesentlich bedingt. Das Gedicht hat ebenso wie das vorausgehende, dem heiligen Petrus gewidmete, durchaus den Charakter des Liedes. An der Stelle der Alliteration bindet der Endreim, theils stumpf, theils gleitend, die Halbverse der Langzeile, die Strophen aber schliessen Refrainzeilen, offenbar bestimmt vom Chor gesungen zu werden. Das Georgslied 111 hat aber die besondere Eigenthümlichkeit, dass seine Strophen von verschiedener Dimension und auch die Refrainzeilen der Zahl wie den Worten nach verschieden sind. Die beiden ersten Strophen (I von 6, II von 5 V.) verbindet nur eine und dieselbe Refrainzeile, dasselbe gilt von den zwei folgenden (beide von 5 V.), Strophe 6, 7 und 8 (die beiden ersten von 7, die letzte von 8 V.) haben wieder einen besondern und zwar dreizeiligen Refrain. Ueber den Rest der Dichtung lässt sich bei der unvollständigen Ueberlieferung nur sagen, dass die eine, noch ganz erhaltene Strophe (von 7 V.) bloss eine und zwar wieder eine neue Refrainzeile hat.

 

Diese Anwendung des Endreims an der Stelle der Alliteration zur Bindung der Halbverse der Langzeile, die in der deutschen Lyrik offenbar schon früher sich eingestellt hatte, wie auch ihr sporadisches Vorkommen in erzählenden Gedichten, wie dem Muspilli, zeigt, wurde wohl gefördert durch die lateinische kirchliche Dichtung, in welcher, wie wir sahen, der Reim mehr und mehr von Bedeutung geworden war, nachdem sie der quantitativen Bildung des Verses entsagt hatte. Diese Anwendung des Reimes wurde aber in der deutschen Poesie erst eine allgemeine, so dass der Endreim an der Stelle der Alliteration zur Alleinherrschaft gelangte, als sie auch auf epischem und didaktischem Gebiete erfolgreich versucht wurde. Dies geschah in dem in dieser Beziehung Epoche machenden Werke des Franken Otfrid.

Otfrid, Otfrids von Weissenburg Evangelienbuch, Text und Einleitung von Kelle. Regensburg 1856. – Dasselbe herausgeg. von Piper. Paderborn 1878; von Erdmann. Halle 1882. – Otfrid, Art. von Lachmann in: Ersch und Grubers Encyclop. Abth. 3, Bd. 7 1836. (Kl. Schriften S. 449 ff.). von dessen Leben wir nur sehr wenige beglaubigte Daten, diese aber durch ihn selbst haben, war Mönch, dann auch Presbyter des Klosters Weissenburg, als er sein »Evangelienbuch« liber Evangeliorum theotisce conscriptus nennt er selbst die Dichtung in der Widmung an Liutbert. in den sechziger Jahren des neunten Jahrhunderts verfasste, und stammte wohl aus diesem Ort oder seiner Umgebung; er war ein Schüler des Raban in Fulda 112 gewesen, S. Bd. II, S. 122. auch nennt er den Bischof Salomo von Constanz seinen Lehrer. Seine gelehrte Bildung war, wie sein Werk zeigt, für seine Zeit in der That keine unbedeutende.

Die Dichtung Otfrids in zweizeiligen Strophen Die Strophenbildung geschieht hier nur durch die Sinnpause, da kein Refrain die Strophe abschliesst. Die Refrainzeilen, welche sich sporadisch darin finden (s. weiter unten), sind andrer Art. ist eine Evangelienharmonie in Versen wie die sächsische des Heliand, nur mit dem Unterschied in stofflicher Beziehung, dass sie nicht auf einem lateinischen Werk dieser Art beruht, wie die andre, sondern Otfrid selbst sich das Material aus den vier Evangelien zusammengetragen hat, dabei eine Vollständigkeit gar nicht beabsichtigte Er sagt selbst in der Widmung an Liutbert: scripsi evangeliorum partem; dasselbe auch in der Dichtung selbst. S. auch weiter unten. und in der Anordnung zum Theil mit grosser Freiheit verfuhr. Dazu kommt, dass er den Stoff der biblischen Erzählung selbst noch erweitert hat, indem er auch Christi Wiederkehr zum jüngsten Gerichte ausführlich behandelt. Endlich hat er gar manche rein didaktische Digressionen als ganze commentirende Kapitel eingelegt.

Otfrid hat sehr allmählich das umfangreiche Werk, das ihm nicht wenige und nicht geringe Schwierigkeiten darbieten musste, verfasst und wie es scheint auch ebenso edirt, d. h. hier: seinen Freunden mitgetheilt. indem er zunächst die ersten und letzten Theile, partes , wie er in der Zuschrift an Liutbert sagt, nicht libri . Trotzdem ist vielleicht libri hier zu verstehen, und dieser Ausdruck hier nur nicht gewählt, weil er das Werk selbst an dieser Stelle liber nennt ( partes libri). Für diese Annahme spricht sehr die Uebereinstimmung des Vorworts des dritten Buchs im Eingang mit der Charakteristik des mittleren Theils in der Zuschrift an Liutbert, namentlich die Stelle Ni scribu ih nu in alawar, so sih ther ordo dregit thar | suntar so thie dati mir quement in githahti mit: In medio – – non iam ordinatim procuravi dictare, sed qualiter meae parvae occurrerunt memoriae. dann erst die Mitte dichtete; das Ganze theilte er dann in fünf Bücher, die wieder in Kapitel zerfallen, und widmete es mit einem deutschen acrostichischen Gedicht Das Acrostichon, welches die Ueberschrift enthält: Luthouuico orientalium regnorum regi sit salus aeterna , ist von den Anfangsbuchstaben der Strophen gebildet; die Spielerei geht aber noch weiter, indem sich mit ihm ein Telestichon verbindet, von den Endbuchstaben der Strophen gebildet, so dass also jede Strophe mit demselben Buchstaben anfängt und endet. Dasselbe Verfahren hat Otfrid in den beiden andern acrostichischen Gedichten beobachtet. Solche Spielereien konnte er auch in der Schule Rabans gelernt haben. S. oben Bd. II, S. 142 f. von 96 Langzeilen seinem König Ludwig. 113 Zugleich übersandte er es seinem Metropolitan, dem Erzbischof von Mainz, Liutbert zur Approbation mit einem lateinischen Schreiben, das uns die wichtigsten Aufschlüsse über das Werk bietet. Zwei andre acrostichische Zuschriften, die eine an den Bischof von Constanz, Salomo (48 Langzeilen), die andre an die St. Galler Mönche Hartmut und Werinbert (168 Langzeilen), welche mit den Handschriften der Dichtung verbunden sich finden, sind vielleicht bei Uebersendung einzelner Theile derselben verfasst worden. In der ersteren Zuschrift wird der Bischof gebeten, zu prüfen, ob das Buch von Nutzen, des »Lesens« würdig sei.

Der Stoff ist also auf die fünf Bücher vertheilt: das erste geht nach einem Vorwort, worin der Verfasser erklärt, warum er das Werk deutsch geschrieben, und nach einer Anrufung des Herrn, von dem Geschlechtsregister Christi (Matth. c. 1) bis zu seiner Taufe; das zweite behandelt in Anknüpfung an das Zeugniss, das der Täufer von Christus ablegt, in den ersten drei Kapiteln zurückgehend die Bedeutung der Sendung Christi (im Anschluss an Joh. c. 1) und die Zeichen bei seiner Geburt, um dann das Leben Christi von seiner Versuchung in der Wüste bis zur Heilung des Aussätzigen nach der Bergpredigt (Matth. c. 8 init.) fortzuführen, indem diese Heilung nach unserm Dichter, der hierin Raban folgt, zur Bekräftigung von Christi Predigt dienen sollte. Das dritte Buch hebt mit einer Vorrede an, worin besonders die Wunder Christi als sein Inhalt bezeichnet werden, worauf im folgenden Kapitel die Heilung des Sohns des Hauptmanns von Kapernaum erzählt wird; das Buch endet mit dem von den Hohenpriestern gefassten Beschluss des Todes Christi (Joh. c. 11, v. 47 ff.). Den Gegenstand des vierten Buchs bildet die Passion, der Tod und die Bestattung Christi; es schliesst mit der Bewachung des Grabes und hebt an mit einer Praefatio, worin der Dichter erklärt, warum er nicht alle Erzählungen der Evangelien wiedergegeben. Das fünfte Buch eröffnet mit Betrachtungen über das Kreuz, seine Bedeutung und seinen Nutzen, und behandelt dann die Auferstehung, Erscheinung und Himmelfahrt, endlich in mehreren Kapiteln das 114 jüngste Gericht, und schliesst mit einer Mahnung an den Leser das Werk ab.

Diese Disposition ist mit Ueberlegung gemacht und nicht zu tadeln, da wichtige Wendepunkte in dem Leben Christi die Abschnitte bilden und auch die Scheidung des zweiten vom dritten Buche wohl motivirt erscheint, um so den einzelnen Büchern ein annähernd gleiches Volumen zu geben. Otfrids nachträgliche Motivirung der Fünfzahl durch die fünf Sinne in der Zuschrift an Liutbert ist für ihn recht bezeichnend.

Aber nicht bloss in stofflicher Beziehung, sondern auch in Rücksicht der Ausführung unterscheidet sich Otfrids Dichtung wesentlich vom Heliand. Sie hat ganz den Charakter eines gelehrten Werks, wie dies schon die Kapiteleintheilung, die lateinischen Ueberschriften derselben, die Präfationen zeigen. Sie schliesst sich nicht selten mehr an die paraphrasirenden Bibelcommentare, als an die Bibel selbst in der Darstellung an, wie denn auch solche Otfrid direct benutzt hat, so für Matthäus den des Raban, für Lucas den Beda's, für Johannes den des Alcuin, also dieselben, welche auch der Dichter des Heliand befragte. Ganze Kapitel werden der Erklärung gewidmet, und mit den Ueberschriften Mystice, Moraliter oder Spiritaliter versehen, nach dem Vorgange Rabans, in dessen Commentar sich auch diese Titel finden. Das didaktische Moment tritt in Otfrids Werk viel entschiedener als im Heliand hervor, das epische verdrängend; ihm gesellt sich das lyrische zu, das sogar in einzelnen Kapiteln metrisch einen Ausdruck durch Refrainzeilen findet. So hat diese Dichtung einen weit subjectiveren Charakter als die sächsische. Die Persönlichkeit des Dichters durchdringt durchaus das Ganze, selbst in der reinen Erzählung macht sie sich im Ausdruck geltend, so in der Anrede an den Leser (z. B. I, 23 v. 17), in kleinen Flicksätzen, wie »ich weiss« (z. B. I, 27 v. 69), in der Ankündigung des Inhalts der folgenden Erzählung, wie: »ich beginne hier nun zu berichten« (z. B. II, 7 v. 1), u. s. w.

Diese Charakteristik der Dichtung, welche aus ihrer Betrachtung sich ergibt, steht auch im Einklang mit dem was der Verfasser selbst in seiner Zuschrift an Liutbert über sie äussert, indem er der Veranlassung derselben und der Zwecke, die er mit ihr verfolgte, gedenkt. Von einigen Klosterbrüdern 115 und einer ehrwürdigen Matrone wurde er zu ihr aufgefordert. Ihre Frömmigkeit fühlte sich verletzt durch den gemeinen Gesang weltlicher epischer Lieder. Dum rerum quondam sonus inutilium pulsaret aures quorundam probatissimorum virorum, eorumque sanctitatem laicorum cantus inquietaret obscenus – – Die res inutiles weisen auf heidnisch epische Lieder hin; obscenus ist hier im allgemeinen Sinne, in dem von turpis zu nehmen. Diesen sollte das Werk Otfrids etwas verdrängen. Die Freunde machten ausserdem noch einen patriotischen Grund geltend: Wie wirksam dieser Grund bei Otfrid war, zeigt recht das Vorwort des ersten Buchs, wo er in nationalem Selbstbewusstsein die Franken den Römern und Griechen gleichstellt, und seiner Muttersprache ein schönes Lob zollt – ein Vaterlandsgefühl, wie es auch seinen Lehrer Raban beseelte. S. oben Bd. II, S. 139 und 127. sie klagten, dass die Römer nicht nur als Heiden ihre Thaten, sondern auch als Christen die des christlichen Glaubens in ihrer Muttersprache besungen hätten, wie ein Juvencus, Arator, Prudentius, die Franken dagegen, obgleich sie ebenso begnadigt wären, dies unterliessen. Sehr bezeichnend ist, dass Arator hier gleichsam unter den Vorbildern des Otfrid genannt wird, da es ihm ja vor allem auf die mystische Auslegung der Bibel ankommt und er auch, wie Otfrid, mit Auswahl verfährt und manche Partien des biblischen Textes ganz übergeht. S. Bd. I, S. 491 ff. Auch Otfrids Erklärung der Fünfzahl der Bücher seines Werks erinnert an Arators Zahlenmystik. Otfrid schrieb dann, wie er Liutbert weiter mittheilt, der Aufforderung entsprechend, »einen Theil« der Evangelien in fränkischer Sprache, indem er, wie er ferner sagt, hier und da mystische und moralische Erklärung einmischte, So lassen sich wohl die Worte: spiritalia moraliaque verba permiscens am besten wiedergeben. damit die, welche vor der Schwierigkeit der fremden Sprache zurückscheuten, qui in illis (sc. evangeliis) alienae linguae difficultatem horrescit. in ihrer eignen Sprache Gottes Gesetz kennen lernten, und so sich in Acht nähmen auch nur ein wenig von ihm abzuweichen.

Hier wird also der didaktische Zweck der Dichtung ganz offen ausgesprochen. Zugleich aber sieht man, dass das Publikum, an das sich dieselbe wendet, das schulmässig gebildete ist, denn es ist nur von der Schwierigkeit der fremden Sprache die Rede, von der also einige Kenntniss vorausgesetzt wird. Die weiteren Erörterungen Otfrids über die deutsche 116 Sprache, die Beobachtung der Synalöphe u. s. w. zeigen recht den gelehrten Charakter des Werks. Dem widerspricht auch nicht, dass die Dichtung in einzelnen Partien von Otfrid auch zum Gesange bestimmt war, In einer Handschrift finden sich auch mehrere Wörter mit Neumen überschrieben. nur darf man nicht wohl, mindestens nicht zunächst, an einen Gesang des Volkes denken. Wie auch die Laien, deren gemeiner Gesang die frommen Freunde Otfrids verletzte, sicher Laien ihres Standes, also der Gebildeten, waren. Die lyrischen Abschnitte, die sich zerstreut in der Dichtung finden, gehören zu den allerbesten in der Ausführung und konnten in der That zum Gesange einladen. In der Lyrik lag offenbar die Stärke dieses ganz subjectiven Poeten, der in dem Ausdruck seines reichen Gemüthes so recht seine deutsche Natur offenbart. Es war eben der Lyriker auch, der zuerst den Reim in der didaktisch erzählenden Dichtung durchzuführen berufen war. Die lyrische Neigung und Begabung Otfrids zeigt sich auch in der Anwendung des Refrain, und zwar von Refrainstrophen, die in einzelnen Kapiteln, namentlich des letzten Buchs, entweder nach einer bestimmten, oder nach einer beliebigen Zahl von Versen bzw. Strophen wiederkehren; Vergl. Erdmann, Bemerkungen zu Otfrid in der Zeitschr. f. deutsche Philol. I, S. 439 ff. eine Erscheinung, die sich aber in ganz derselben Weise auch in der kirchlich lateinischen Hexameterdichtung dieses Jahrhunderts und schon früher in den Eklogen des Virgil fand. S. Bd. II, S. 275, Anm. 2, und S. 272, Anm. 1; vergl. auch S. 64. Man sieht daraus, dass diese Anwendung des Refrain bei Otfrid nicht für den Gesang berechnet zu sein braucht, wie Kelle S. 39 seiner Ausg. annimmt und auch Piper, Ausg. S. 267.

Der poetische Stil Otfrids ist namentlich in der Erzählung ein sehr unvollkommner, zum Theil offenbar in Folge der neuen Anwendung des Reims, der übrigens selbst mitunter noch mangelhaft genug ist. Durch Flickwörter und Phrasen, wie durch Wiederholungen desselben Gedankens, durch blosse Wortvariationen, gewiss eine Reminiscenz der epischen Alliterationspoesie, wirkt sein Ausdruck wahrhaft ermüdend. Freilich den durch den Reim bedingten neuen Stil zu schaffen und in einem so grossen Werke durchzuführen, diese Aufgabe vollkommen zu erfüllen, war Otfrid nicht befähigt, doch hat auch hier das 117 Wort Seneca's sich bewährt, dass das Grosse gewollt zu haben genug ist.

 

Besser erscheint der neue epische Stil in einer kleinen, unvollständig überlieferten Dichtung, welche nur eine Episode der Bibel, die Begegnung Christi mit der Samariterin Müllenhoff und Scherer, Denkmäler No. X. *Braune, Althochd. Lesebuch No. XXXIV. auf Grund von Joh. c. 4, v. 6 ff. zum Gegenstand hat. Das Gedicht, dessen Schluss fehlt, zählt 31 Langzeilen, die zu zwei- oder dreizeiligen Strophen verbunden sind. Auf vier zweizeilige folgen vier dreizeilige, darauf zwei zweizeilige, dann eine dreizeilige und wieder zwei zweizeilige. In wie weit dieser Wechsel beabsichtigt war, lässt sich um so weniger erkennen, als der Schluss fehlt. Das Gedicht geht nur bis v. 20 der Bibel, die noch bis v. 30 desselben Kapitels die Erzählung fortsetzt. Obgleich der Verfasser sich nahe an die Bibel anschliesst, zeigt er doch eine solche nationale Selbständigkeit im Ausdruck, dass man eine poetische Uebertragung kaum ahnen kann. Die Lebendigkeit der Darstellung wird noch erhöht durch Weglassung der Einführung der das Zwiegespräch haltenden, und empfängt so fast einen dramatischen Charakter. Vergl. im übrigen die treffende Kritik von Müllenhoff und Scherer S. 296. 118

 


 


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