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Zehntes Kapitel.

Didaktisch-polemische Literatur. Remigius, Auxilius, Vulgarius.

Es bleibt uns noch übrig, einiger didaktischen und polemischen Werke der lateinischen Literatur dieses Zeitraumes zu gedenken, die in den Bereich der allgemeinen Literatur fallen oder kulturgeschichtlich von Interesse sind.

Die ersteren gehören einem Manne an, der in Westfrancien neben Hucbald vor allen andern um die Fortpflanzung der Wissenschaft sich verdient gemacht hat und schon deshalb 234 eine besondere Betrachtung hier auch als Autor verlangt, zumal seine Schriften, wie die des Raban, meist aus seiner Lehrthätigkeit hervorgegangen und in ihrem Dienste verfasst worden sind. Es ist Remigius von Auxerre, Remigii monachi S. Germani etc. Opera in: Migne's Patrol. lat. T. 131, p. 51 ff.; T. 117, p. 295 und 361, und T. 101, p. 1246 ff. – – Hist. littér. T. VI, p. 99 ff. – Hauréau, Histoire de la philosophie scolastique. Paris 1872. T. I, p. 199 ff. Mönch des dortigen Klosters des heiligen Germanus. Wohl gegen die Mitte des neunten Jahrhunderts geboren, wurde er in demselben Kloster von dem berühmten Heiric S. Bd. II, S. 285 ff. gebildet. Nach dem Tode desselben um 877 ward Remi sein Nachfolger in der Leitung der Schule. Später aber folgte er dem Rufe des Erzbischofs Fulco nach Reims, Vgl. oben S. 166. um die jungen Kleriker in den humanen Wissenschaften zu unterrichten, ein Unterricht, an dem der Erzbischof selbst noch Theil nahm. Flodoard, Histor. eccles. Remens. 1. IV, c. 9 fin.: Praefatus denique praesul honorabilis Fulco, sollicitus circa Dei cultum et ordinem ecclesiasticum, amore quoque sapientiae fervens, duas scholas Remis, canonicorum scilicet loci, atque ruralium clericorum, jam pene delapsas restituit, et evocato Remigio Antissiodorense magistro, liberalium artium studiis adolescentes clericos exerceri fecit, ipseque cum eis lectioni ac meditationi sapientiae operam dedit. Ohne Zweifel aber hat er dort zugleich Theologie docirt, namentlich die Bibel erklärt. Eine Frucht dieser Thätigkeit waren seine Commentare. Nach Fulco's Tod (900) begab sich Remi nach Paris, wo er seine Lehrthätigkeit fortsetzte und solche Schüler, wie einen Odo von Cluny, bildete. S. oben S. 171. Er lehrte dort namentlich auch die Dialektik im Anschluss an das dem Augustin beigelegte Buch von den zehn Kategorien und erklärte das Werk des Martianus Capella über die sieben freien Künste; Dies erfahren wir von Odo's Biographen, Johannes, Vita Odonis c. 19: His diebus abiit (Odo) Parisius ibique dialecticam S. Augustini Deodato filio suo missam perlegit et Martianum in liberalibus artibus frequenter lectitavit: praeceptorem quippe in his omnibus habuit Remigium. Ueber Martians Werk s. Bd. I, S. 459 ff. so haben sich denn auch commentirende Glossen Remi's über das vierte Buch, die Dialektik, und über das neunte, die Musik, erhalten, von welchen die ersteren sich auf einen Commentar des Scotus Erigena gründen, 235 aber doch auch von selbständigem Denken zeugen. S. Ueberweg-Heinze, Grundriss der Gesch. der Philosophie. 7. Aufl. Bd. II, S. 142 f. und Hauréau, l. l. p. 203 ff. Auch besitzen wir zu Priscians und Donats Grammatiken Glossen Remi's, welche durch das ganze Mittelalter gebraucht und hochgeschätzt wurden. Notices et Extr. T. XXII, p. 2; pag. 94, Anm. 2. – Nachrichten über die Mss. derselben ebendort p. 8 ff. – S. auch Hümer, Ueber ein Glossenwerk zum Dichter Sedulius, S. 15 f. (Der Verf. legt Remi auch dies Glossenwerk bei). Schon hieraus geht hervor, welche Bedeutung Remi als Lehrer der weltlichen Wissenschaft in seiner eigenen Zeit haben musste. Das Jahr seines Todes ist so wenig als das seiner Geburt überliefert, doch lehrte er noch im Anfang des zehnten Jahrhunderts in Paris, zu welcher Zeit Odo sein Schüler war.

Die für jene Zeit seltene Gelehrsamkeit, welche jene Commentare zu dem Werk des Capella, namentlich auch der zu dem Buch von der Musik zeigen, gibt sich nicht minder in den theologischen Werken des Remigius kund, denen eben seine weltliche wissenschaftliche Bildung zum Vortheile gereichte, was schon ihr Stil bezeugt. Er hat einmal eine Anzahl ausführlicher Commentare zu biblischen Büchern verfasst, so zu der Genesis, dem Hohenlied, den Psalmen und den Paulinischen Briefen, welche Commentare mir authentisch erscheinen. Es sind ihm noch andre beigelegt, wie auch die genannten zum Theil unter anderm Namen in den Handschriften sich finden; s. darüber Hist. littér. l. l. Hier beschränkt er sich doch nicht bloss auf die erbaulichen Zwecken dienende allegorische Interpretation, sondern geht auch, wie namentlich in den Psalmen, auf das wörtliche Verständniss und eine sachliche Erklärung ein: dieser Psalmencommentar erfreute sich auch noch längere Zeit grossen Beifalls, wie ihn denn auch Abälard citirt. Hauréau l. l. pag. 201. Er enthält auch Stellen wahrer Beredsamkeit. Dass das Material der Erklärung grösstentheils aus älteren Commentaren, vornehmlich des Ambrosius, Augustin und Cassiodor geschöpft ist, ist für diese Zeit selbstverständlich.

Von allgemeinerem Interesse wie zugleich für ein grösseres Publikum bestimmt sind seine Homilien und sein Buch über die Messe ( De celebratione missae et eius significatione ). Unter diesem Titel findet sich das Buch als vierzigstes Kapitel in einer dem Alcuin fälschlich beigelegten grossen Compilation: De divinis officiis. Für die Autorschaft des Remigius spricht durchaus die Angabe Sigeberts in seiner Notiz über diesen Schriftsteller Scr. eccl. (c. 123): Exposuit canonem missae, quid a quibus in ea sit positum vel additum, demonstrans. Ist diese Charakteristik des Buchs auch eine recht oberflächliche, sie passt aber auf dasselbe. 236 Letzteres erklärt die Bedeutung aller einzelnen Handlungen derselben, und in einer nach dem Urtheil der gelehrten Benedictiner, der Verfasser der Histoire littéraire, so belehrenden und erbaulichen Weise, dass dieselben noch eine Uebersetzung von ihm wünschten. Den zwölf edirten Homilien liegen Texte aus dem ersten Evangelium zu Grunde. Die Behandlung derselben schliesst sich an die der Bibelcommentare des Remigius an.

 

Die polemische Literatur ist vertreten durch eine Anzahl Flugschriften, welche die Formosianische Streitfrage in Italien etwa von 908 bis 911 hervorgerufen hat. Es handelte sich in dieser Frage namentlich um zwei Punkte: um die Rechtmässigkeit der Wahl des Formosus zum Papst und um die davon abhängig gemachte Gültigkeit der von ihm vollzogenen Ordinationen. Die letzteren erkannte nämlich der Papst Sergius III., der von 904 bis 911 die Tiara trug, nicht an, indem er auf den Standpunkt Stephans VII. zurückging, welcher im Jahre 897 auf der römischen Synode das entsetzliche Todtengericht über seinen Vorgänger gehalten hatte; ja Sergius ging sogar noch weiter als Stephan, insofern er nicht bloss die Weihen cassirte, sondern auch verlangte, dass die von Formosus Ordinirten sich von neuem weihen liessen.

Der bedeutendste und fruchtbarste Autor auf diesem Felde der Polemik ist der Priester Auxilius, Dümmler, Auxilius und Vulgarius. Quellen und Forschungen zur Geschichte des Papstthums. Leipzig 1866. – Mabillon, Vetera Analecta. Nova ed. Paris 1723, pag. 32 ff. – – Histoire littér. de la France, T. VI, p. 122 ff. der wahrscheinlich ein Deutscher, jedenfalls kein Italiener war, aber in Italien und wohl in Neapel sich aufhielt. Dümmler a. a. O. S. 30 f. Er schrieb auch im Interesse der Bischöfe von Nola und Neapel, von denen der erstere von Formosus ordinirt war, nicht minder aber auch in seinem eigenen, da auch er von diesem Papst die Weihen empfangen hatte. Seine auf Wunsch des Nolaner Bischofs verfasste Schrift 237 ist durch ihre dialogische Form beachtenswerth, ein Zwiegespräch zwischen einem Ankläger ( Infensor) und einem Vertheidiger ( Defensor). S. in: Mabillon, Vet. Anal. p. 39 ff. Hier will der Autor nur den zweiten der obigen Streitpunkte behandeln; um die Frage der Gültigkeit der Papstwahl des Formosus will er sich hier nicht kümmern, da die Gültigkeit der Weihen von ihr nicht abhängt, wie er hier nachweist. Den ersten Streitpunkt behandelt er vielmehr zugleich mit dem andern in der stilistisch bedeutendsten seiner Schriften, den beiden Libelli in defensionem sacrae ordinationis Papae Formosi Von Dümmler zuerst edirt a. a. O. S. 59 ff. – Der zweite Libellus ist aber später als der erste verfasst und herausgegeben, wie der Eingang desselben zeigt. Der Verfasser hatte die vergebliche Hoffnung gehegt, dass Sergius von seinem Verfahren ablassen werde, namentlich die Wiederholung der Ordination zu verlangen; dagegen ist dies zweite Buch vornehmlich gerichtet. einer Schrift, die zugleich die heftigste und kühnste Polemik gegen den Papst Sergius enthält. Der klare und für jene Zeit reine Ausdruck des Auxilius erhebt sich hier mitunter selbst zu einer kraftvollen Beredsamkeit; so wo er die Consequenzen des Verfahrens des Sergius schildert (l. I, c. 8), oder wo er die Tugenden des Formosus rühmt und den abscheulichen Process, der seinem Leichnam von Papst Stephan gemacht wurde, schildert (ib. c. 10). So bietet diese Schrift auch geschichtliches Material von Werth.

Im Interesse des Neapeler Bischofs ist von Auxilius der Libellus in defensionem Stephani episcopi Bei Dümmler a. a. O. S. 96 ff. verfasst, aber erst nach dem Tode dieses Prälaten, den jetzt seine Feinde anklagten, gegen das canonische Recht inthronisirt worden zu sein, indem sie zugleich, wie Sergius im Falle des Formosus, die von Stephan vollzogenen Ordinationen für ungültig erklärt wissen wollten, offenbar ein treffliches Mittel für ehrgeizige Kleriker gute Pfründen zu erledigen. Der Fall des Stephanus glich nämlich insoweit dem des Formosus als er, zuerst Bischof von Sorrent, später das Bisthum von Neapel übernommen hatte, wie Formosus das Bisthum von Porto mit dem von Rom vertauscht hatte; solche Vertauschung aber durch verschiedene Concilien verboten worden war. Auxilius zeigt nun, dass dieses Verbot, das gegen den Ehrgeiz der Prälaten gerichtet war, hier keine 238 Anwendung finden könnte, wo Stephan, aus seinem ursprünglichen Bisthum vertrieben, erst nach fast dreissigjährigem Exil das andre erhielt. – Noch eine Schrift des Auxilius, an deren Authenticität nicht zu zweifeln ist: De ordinationibus a Formoso papa factis hat keinen literarischen Werth, da sie nur eine Sammlung von Beweisstücken ist. S. die Schrift bei Mabillon l. l. p. 32 ff. und vgl. Dümmler p. 107 ff.

Ein paar andre dieser Streitschriften haben einen Italiener, Eugenius Vulgarius S. Dümmler a. a. O. S. 39 ff. zum Verfasser, von dem sich auch eine Anzahl Gedichte erhalten haben. Er schrieb um dieselbe Zeit als Auxilius, und wenn er auch, wie dieser, von Formosus geweiht worden, so war er doch offenbar seinem Beruf nach ein Schulmeister, ein »Magister«, wie dies nicht bloss seine Verse, sondern auch jene Streitschriften bekunden, zumal eine, welche durch ihre Form uns am meisten interessirt; sie ist betitelt: Super causa et negotio Formosi papae . Bei Mabillon l. l. p. 28 ff., hier aber Auxilius fälschlich beigelegt. Sie ist auch ein Dialog, wie die zuerst erwähnte des Auxilius, aber doch von andrer Art: ein Disput in der Sprache der Rhetorik – wie der Verfasser selbst sich ausdrückt, Sub rhetorico fasmate. – d. h. ein mit allen dialektischen Künsten, welche die spätere Scholastik ins Gedächtniss rufen, So bemerkt schon die Hist. littér. l. l. p. 124. geführter Wortstreit zwischen zwei Advocaten, von denen der eine, Insimulator , der Ankläger, der andre, Actor , der Vertheidiger des Formosus ist. Der Actor gibt zwar zu, dass Formosus den päpstlichen Stuhl illicite bestiegen habe, trotzdem aber behauptet er, jure , weil es im Interesse des öffentlichen Wohles geschah. – In einer andern Streitschrift De causa Formosiana libellus Von Dümmler herausgeg. a. a. O. S. 117 ff. vertheidigt unser Autor die von diesem Papst vollzogenen Ordinationen. Wie sollen die von ihm Geweihten bestraft werden können, während die, welche ihn zum Papst wählten, frei ausgehen! Er verlangt hier zur Schlichtung der Wirren ein allgemeines Concil. – Eine nahe Verwandtschaft mit diesem Libell zeigt ein anderes, das aber viel gewandter im Ausdruck ist: die heftige Invectiva in Romam pro Formoso papa , Herausgeg. von Dümmler in seiner Ausgabe der Gesta Berengarii s. oben S. 138, Anm. 4). S. 137 ff. und vgl. dort S. 66 ff. vielleicht eher ein Werk des Auxilius, 239 frühestens 914 verfasst. In ihr finden sich einzelne wahrhaft beredte Stellen.

Von Vulgarius besitzen wir auch eine Anzahl Gedichte, Herausgeg. von Dümmler in Auxil. und Vulgar. S. 140 ff. die, grösstentheils blosse Gelegenheitspoesie, Schmeicheleien geistlichen und weltlichen Grossen darbringen, wie demselben Papst Sergius, den Vulgarius in seinen Flugschriften angriff, dem byzantinischen Kaiser Leo, Bischöfen von Neapel, von Salerno u. s. w. In ihrem mitunter recht gesuchten und schwer verständlichen Ausdruck, wie er sich ähnlich auch in der Prosa des Vulgarius findet, geben sie sich als ausstudirte Producte eines Grammatikers zu erkennen. Sie sind nur interessant durch die Mannichfaltigkeit ihrer Metren. Ausser Hexametern, iambischen Tetrametern, adonischen Versen begegnen wir hier dem kleineren asklepiadeischen Metrum, catalect. anapästischen Dimetern ( paroemiaci) und phaläcischen Versen. Auch die Spielereien des Buchstaben- wie des Bildergedichts hat Vulgarius nicht verschmäht. Seine Vertrautheit mit den Werken des römischen Alterthums hat Dümmler nachgewiesen. Nach ihm a. a. O. S. 44 citirt Vulgarius Cicero, Lucan, Virgil, Juvenal, Petronius, Martianus Capella, Boëtius, Ennodius, Augustinus. – Auch des Namens des Plautus gedenkt er einmal S. 148.

 


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