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Siebentes Kapitel.

Volksmässige, vornehmlich lateinische Poesie Deutschlands.

Der aus der Schule hervorgegangenen gelehrten lateinischen Dichtung tritt aber bei uns auch in diesem Zeitabschnitt eine volksmässige lateinische zur Seite, und zwar weltlicher Art, die mit Vorliebe jetzt sich der Form der geistlichen Sequenzen, dieselbe mehr oder weniger modificirend, bedient. Es sind Gedichte sowohl von ernstem als scherzhaftem Charakter, die Geschichten, Sagen und Schwänke in volksliederhafter Form behandeln; welche Bedeutung dieselbe bei den sequenzenartigen hat, zeigen oft schon deren Ueberschriften, welche nur die Melodie ( modus ) anzeigen, die einem andern bekannten Gedicht entlehnt ist: so modus Liebino, modus Ottine. Wie der Eingang des alsbald oben erwähnten nach diesem modus verfassten Gedichts zeigt, haben diese modi ihren Namen recht in der Art des Volkslieds von den besungenen Helden, nicht von den Verfassern erhalten; so erklärt sich auch die Bezeichnung modus Florum , die Blumen wurden in dem Gedicht, für welches der modus componirt war, besungen, und die andre: modus qui et Carelmanninc bei einer geistlichen Sequenz, die also die Composition von einer weltlichen, deren Held Carlmann war, entlehnt hatte. Diese Poesie blüht erst im folgenden Jahrhundert recht auf und an sie reiht sich zum Theil die spätere Vagantendichtung an. Unserm Zeitalter sind noch mit mehr oder weniger Sicherheit die folgenden Gedichte zuzuschreiben. Einmal das modus Ottinc überschriebene, 344 worin die drei Ottonen, insonderheit der erste, gepriesen werden. Bei Müllenhoff und Scherer, Denkmäler No. XXII, S. 33 ff. (vgl. Anmerk. S. 338 ff.). – Auf die Besonderheit der Form dieses sowie der folgenden sequenzenartigen Gedichte einzugehen, würde hier zu weit führen. Ich verweise deshalb auf Scherers Anmerkungen und Bartsch's Lateinische Sequenzen S. 145 ff. Es ist nach der Melodie einer andern letzterem geweihten Sequenz verfasst, mit welcher, wie es selbst im Eingang berichtet, Otto I. eines Nachts geweckt und so gerettet wurde, als sein Palast in Flammen stand. Gerade damals machten die Ungarn einen verwüstenden Einfall; um so wichtiger war Otto's Rettung. Das Lied gedenkt dann seines grossen Siegs am Lech, wobei es seinen unerschrockenen Eidam Konrad, den Frankenherzog, besonders feiert. Die Sitten des ersten Otto gingen auf den zweiten als Erbschaft über: den dritten rühmt das Lied besonders auch als Vater der Armen. Man möchte fast glauben, der Dichter habe selbst seine Mildthätigkeit erfahren.

Auch einen ernsten Charakter trägt ein sequenzenartiges Gedicht De Lantfrido et Cobbone , das die Freundschaftssage, welche in der späteren mittelalterlichen Literatur, namentlich der Volkssprachen, mannichfach bearbeitet erscheint, schon und zwar in eigenthümlicher Form bietet. Bei Müllenhoff und Scherer a. a. O. No. XXIII, S. 35 (und vgl. Anmerk. S. 341 ff.) und Jaffé, Cambridger Lieder in: Zeitschr. für deutsches Alterth. N. F. Bd. II, S. 470 f. Die beiden Freunde, die »nimmer uneins, als wären beide einer, in allem sich ähnlich waren«, heissen hier Cobbo und Lantfrid. Sie sind von sehr edlem Geschlecht. Cobbo, den der königliche Dienst lange von der Heimath, jenseits des Meeres, und von seiner Familie entfernt gehalten, will diese besuchen. Lantfrid vermag seine Abwesenheit nicht zu ertragen, er will mit seiner Gemahlin ihn begleiten. Cobbo fordert ihn auf daheim zu bleiben; er werde wiederkommen, wenn er am Leben bliebe, nur möge Lantfrid als Andenken         Unum memoriale
        Frater fratri facias.
  v. 14 f.
sein Weib ihm überlassen. Der Freund willigt ohne Zögern ein. Cobbo segelt mit ihr ab. Lantfrid aber singt am Ufer zur Cither, dass der Freund ihm die Treue bewahre, und keine Schande anthue; und zerschlägt, als jener aus den Augen ihm schwindet, das Instrument an einem Felsen. 345 Da vermag Cobbo den Schmerz des Bruders nicht zu ertragen, er kehrt alsbald um, gibt ihm sein Weib unberührt zurück und unterlässt die Reise. Es war wohl nur eine Freundschaftsprobe nach dem vorletzten Vers zu urtheilen, wo Cobbo sagt: iam non est quod experiatur ultra. – Dem Gedicht geht in der Handschrift ein eigenthümliches »Prooemium« voraus, worin drei verschiedene Arten der Musik unterschieden werden, die der Saiteninstrumente, der Blasinstrumente und des Gesangs.

Den Uebergang zu den schwankhaften volksmässigen Gedichten kann das unter dem Namen Heriger publicirte bilden. Bei Müllenhoff und Scherer a. a. O. No. XXV, S. 40 ff. (und vgl. Anmerk. S. 346) und Jaffé a. a. O. S. 455 f. Es enthält eine Vision, die wie eine Satire auf die Gesichte von der jenseitigen Welt sich ausnimmt und zugleich den Charakter der Lügenmärchen hat. Vor dem Mainzer Erzbischof Heriger (913–927) behauptete ein »Prophet«, zur Hölle und zum Himmel gefahren zu sein. Jene fand er unter anderm mit dichten Wäldern bedeckt, worauf der Erzbischof lächelnd erwiedert, er wolle seine Schweine dort auf die Weide treiben. Im Himmel aber sah der Prophet Christus fröhlich mit seinen Heiligen speisen – den Mundschenk machte Johannes der Täufer, den Koch Petrus. Die sechste Strophe, worin das letztere erzählt wird, ist in der Handschrift ausgefallen, wie dies die Entgegnung Herigers in Strophe 8 klar zeigt. Klug that Christus daran, entgegnet Heriger, den Johannes zum Schenken zu wählen, da derselbe niemals Wein trank, aber du lügst, wenn du Petrus zum Oberkoch machst, da er Thürhüter ist. Aber wo sassest du? Was hast du gespeist? – Der Prophet gesteht darauf, er hätte ein Stück Lunge den himmlischen Köchen gestohlen. – Für diesen Diebstahl befiehlt dann Heriger den Lügenpropheten zu stäupen: damit schliesst das Gedicht, welches in rythmischen adonischen Versen verfasst ist, die zu sechszeiligen Strophen sich verbinden.

Wieder in Sequenzenart und zwar im modus Florum ist ein eigentliches Lügenmärchen gedichtet, Bei Müllenhoff und Scherer a. a. O. No. XX, S. 30 f. (und vgl. Anmerk. S. 333 ff.) und Jaffé a. a. O. S. 471 f. eine mendosa cantilena , wie sie der Verfasser selbst im Eingang nennt, die er für die Knaben puerulis commentatam dabo: es sind offenbar Schüler, wohl einer Klosterschule gemeint. In manchen fehlte ja auch eine fröhliche Unterhaltung nicht. geschrieben haben will, damit sie durch 346 »lügnerische Weisen« ( modulos per mendaces) die Zuhörer gewaltig lachen machen. Der erzählte Schwank ist dieser: Ein König will seine schöne Tochter nur dem zum Weibe geben, welcher so zu lügen versteht, dass der König selbst ihn einen Lügner nennen muss. Eine Schwabe unternimmt das Wagstück ohne Verzug und erzählt eine wahre Jagdgeschichte: Interessant ist, dass das älteste Lügenmärchen gerade eine solche ist. Er schoss einen Hasen und hieb ihm den Kopf ab. Als er diesen aufhob, ergossen sich 100 Mass Honig aus seinem linken Ohr, und ebensoviel Erbsen aus dem rechten. Als der Hase aber aufgeschnitten, fand sich am Schwanzende ein königliches Schreiben, worin der König selbst sich für des Schwaben Knecht erklärt. Wie dies der König hört, kann er nicht sich enthalten auszurufen: das Schreiben lügt und du selber. So wird der Schwabe des Königs Eidam.

Noch ein andrer Schwank in Sequenzenart und zwar im modus Liebinc , Bei Müllenhoff und Scherer a. a. O. No. XXI, S. 32 f. (Vgl. Anmerk. S. 335 ff.). – Jaffé a. a. O. S. 472 ff. in welchem auch ein Schwabe wieder der Held ist, mag schon in unsere Zeit fallen. Dieser Schwank von dem Schneekind ist um so interessanter, als er in den Nationalliteraturen des späteren Mittelalters, namentlich der deutschen und altfranzösischen, wiederkehrt, S. die beiden altdeutschen bei Hagen, Gesammtabenteuer, Stuttgart 1850, Bd. II, S. 383 ff. und III, S. 726 und den altfranzös. bei: Barbazan-Méon Contes et Fabliaux T. III, p. 216. und auch noch in die Novellistik seit dem fünfzehnten Jahrhundert Eingang fand. So findet er sich in den Cent Nouvelles nouvelles Nouv. 19 und auch in italienischen Novellensammlungen, s. darüber Hagen a. a. O. S. LIV. Auch Galfridus de Vinosalvo erzählt den Schwank in fünf Hexametern. Noch zwei spätere ausführliche Bearbeitungen, von denen die eine in rythmischen Versen ist, bat Wattenbach in der Zeitschr. f. deutsch. Alterth. N. F. Bd. VII, S. 119 ff. mitgetheilt. Er erscheint hier zuerst in der Literatur und zwar in dieser Gestalt. Sie findet sich in den späteren Bearbeitungen des Stoffs mehr oder weniger modificirt. Ein Kaufmann von Constanz unternimmt eine Seereise und lässt daheim ein wollüstiges Weib. Stürme entführen ihn weit. Erst nach zwei Jahren kehrt er zurück. Indessen hat sein Weib mit jungen Männern Vagirenden Künstlern: mimi iuvenes v. 13. sich vergnügt 347 und – eine Folge davon – einen Sohn geboren. Das Knäblein an der Hand, wagt sie dem heimkehrenden Gatten entgegenzutreten. Auf seine Frage, von wem das Kind sei, antwortet sie listig: einmal löschte ich in den Alpen meinen Durst mit Schnee, davon wurde ich schwanger. Der Mann beruhigt sich scheinbar dabei. Fünf Jahre später aber begibt er sich auf eine neue Seefahrt und nimmt den Schneesohn ( nivis natus ) mit sich. Unterwegs verkauft er ihn für 100 Pfund und kehrt so reich heim. Seiner Frau aber erzählt er, ein Sturm habe sie auf die Sandbänke Afrika's geschleudert, wo sie alle von der Sonne gedörrt wären, da sei das Schneekind zerflossen. – »So hatte Trug den Trug besiegt.«

Diese lateinischen Gedichte zeigen recht in ihrem ächt volksmässigen Charakter, der sich im Inhalt und in der Form zugleich bekundet, wie sehr in Deutschland damals im Kreise der Gebildeten die Nationalsprache von der lateinischen in den Hintergrund gedrängt war, sodass es nicht Wunder nimmt, wenn wir aus diesem Zeitabschnitt nur ein Gedicht in deutschen Versen besitzen, und dieses in der Sprache selbst zur Hälfte lateinisch ist. Man hat es De Heinrico betitelt. Bei Müllenhoff und Scherer a. a. O. No. XVIII, S. 27 (vgl. Anmerk. S. 324 ff.), und in Braune's Althochd. Lesebuch S. 144. Das Gedicht ist in den deutschen Langzeilen mit Binnenreim, wie sie die Dichtung Otfrids zeigt, verfasst. Sie sind zu Strophen von vier und von drei Zeilen verbunden, eine Unregelmässigkeit, wie wir ihr ähnlich schon in andern deutschen Gedichten früher begegneten. S. oben S. 111, 117 und 178. Das Gedicht zählt 27 Langzeilen. Sie bilden acht Strophen, von denen die zwei ersten und die sechste vierzeilig, die andern dreizeilig sind. Die erste Halbzeile ist stets lateinisch, Nur der Name Heinrich erscheint immer in deutscher Form. die zweite deutsch verfasst, die Art der Betonung und des Reims aber in der ersten wie in der zweiten die deutsche. Indess ist der Reim an ein paar Stellen nur Assonanz. Als Beispiel für die Form mag die erste Strophe dienen:
        Nunc almus assis filius     thero êwîgero thiernûn
        Benignus fautor mihi,     thaz ig iz côsan muozi
        De quodam duce,     themo hêron Heinrîche,
        Qui cum dignitate     thero Beiaro rîche bewarôde.

Das Gedicht feiert Heinrich, den Bruder Otto's des Grossen, 348 den Baiernherzog, indem es die Aussöhnung des Kaisers mit ihm Weihnachten 941 erzählt, welche zu einem dauernden Bunde der früher so oft entzweiten führte. Das epische Lied ist nach dem Jahre 962 verfasst, da Otto Kaiser genannt wird, wie es denn auch von Heinrich als von einem Verstorbenen redet (er starb 955). Es schont Heinrich vollkommen, indem es von der Art seines Zerwürfnisses mit Otto, von seiner Empörung, Bestrafung und Reue kein Wort sagt, vielleicht diese Dinge als bekannt voraussetzt. Aber man kann sie nicht einmal ahnen. Denn die Schilderung der Aussöhnung ist eine ganz andre als sie in der That stattfand. Nicht im Büssergewande und mit blossen Füssen erscheint Heinrich hier in der Kirche um Otto's Gnade zu erflehen, sondern angemeldet im Palaste, wo ihm Otto entgegengeht und ihn mit vielen Ehren aufnimmt. Erst dann geleitet er selbst ihn in das Gotteshaus, wo, nachdem beide gebetet, Heinrich abermals von Otto empfangen und in den Rath geführt wird, um ihn an allem, was der Kaiser hatte, die Krone ausgenommen, Theil nehmen zu lassen.

 


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