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28.

Fünf Wochen waren ungefähr vergangen.

Tilton hatte Dolares noch am selben Abend zur Bahn gebracht und sie war nach San Franzisko abgereist. Dann war er sofort wieder nach der Redaktion geeilt und nach einer kurzen Besprechung mit dem Nachteditor hatte er sich hingesetzt und den Bericht über das gegen Dolores Carranza und ihn beabsichtigt gewesene Verbrechen geschrieben.

Das war wieder ein Scoop für die Zeitung. Eine Stunde später lief allerdings die Nachricht über den Tod Piggy Donnovans auch von der Agentur ein. Er hatte es nicht verhindern können, daß diese auch Nachricht von dem Vorgefallenen erhielt, aber er war doch wieder der selbst dabei Beteiligte gewesen und konnte die Vorgänge in einer Weise schildern, wie kein einziges der anderen Blätter.

Er saß bis nahezu zwei Uhr, überreichte die Topp dann dem Re-write-Mann, nahm einige Durchschläge mit sich zur Versendung an andere Blätter und verließ die Redaktion. Sein nächster Weg war zur Telegraphenstelle, wo er sich mit dem ›San Franzisko Examiner‹ verbinden ließ, der einen direkten Draht nach Chikago hatte und nach einer längeren Besprechung mit dem Editor dort, händigte er dem Telegraphenbeamten einen Durchschlag aus, mit dem Auftrage, ihn ›dringend‹ nach San Franzisko zu übermitteln. Mit dem Zeitunterschied von nahezu vier Stunden würde er dort noch rechtzeitig eintreffen, um in der Morgenausgabe veröffentlicht zu werden.

Dolores würde ihn also noch auf der Reise lesen können und er würde auch in San Franzisko ungeheures Aufsehen erregen, da die Familie Carranza dort so gut bekannt war. Den Namen Beesemyer hatte er nicht genannt, aber doch erwähnt, daß die Vermögensverwaltung durch den Vormund die Veranlassung zu der schnellen Heimreise des Mädchens gegeben habe, da sie in mehr als einer Hinsicht bedenklich erscheine, von des Vormunds Mitschuld an dem Morde des Mr. Carranza hatte er geschwiegen, denn er wußte nicht, wie Dolores unter den jetzigen Umständen darüber dachte, da die beiden Hauptzeugen tot waren. Er hatte vor Dolores' Abreise keine Zeit mehr gefunden, das mit ihr zu besprechen, und wollte sich doch erst noch einmal mit ihr darüber verständigen.

Zwei Tage später meldete der Draht die Verhaftung Beesemyers wegen Unterschlagung von acht Millionen Dollar und den Zusammenbruch seiner Gesellschaften infolge Geheimspekulationen, die noch weit über diese Summe hinausgingen, und Tilton fragte sich, ob sein Artikel dazu beigetragen hatte, oder ob sie auch sonst gekommen wäre.

Gleich nach ihrer Ankunft in San Franzisko hatte ihm Dolores ein paar Zeilen geschrieben, daß sie die Reise gut überstanden habe, aber für einige Zeit nicht mehr würde schreiben können. Sie habe ihre Angelegenheiten in der denkbar größten Verwirrung gefunden, wie sie gefürchtet, habe ihr Vormund ihr Vermögen und das ihrer Schwester benützt, um seine Gesellschaften zu retten. Es wäre ihm vielleicht auch gelungen, aber der beängstigende wirtschaftliche Niedergang in den Vereinigten Staaten hatte das verhindert und alles um ihn herum sei zusammengebrochen. Kaum eine Stunde vor ihrer Ankunft habe man ihn verhaftet. Sie würde die nächsten Wochen kaum eine Minute frei haben mit all den Besprechungen mit ihrem Rechtsanwalt und den Gerichtsbeamten, und infolge hundert anderer Dinge, die sie persönlich ordnen müsse.

So vergingen die Wochen.

May Dryden wurde nicht unter Anklage gestellt. Tilton hatte in seinem Bericht überzeugend darauf hingewiesen, daß sie sich zwar in einem Irrtum über die Sachlage befunden habe, aber nur in Selbstverteidigung handelte, als Piggy Donnovan, ein berüchtigter Killer, der aus der Tasche schießen könne, auf sie zugestürzt sei. Sie verdiene nicht nur alles Mitleid, sondern man müsse ihr noch dankbar sein, denn sie habe etwas getan, was der Polizei wohl niemals gelungen wäre, nämlich einem der schlimmsten Gangster Chikagos das Ende bereitet, das noch viel zu gut für ihn gewesen sei. Der Bericht mußte ihr unbedingt die Anteilnahme aller Leser sichern und es hätte sich keine Jury gefunden, die sie verurteilt hätte.

Das wußte die Polizei auch. Sie war vielleicht sogar ganz zufrieden damit, daß die Dinge diesen Verlauf genommen hatten, und wenn sie vielleicht auch ihre eigenen Ansichten über die Notwehr einer Frau hatte, die mit dem Revolver in ein Zimmer dringt, weil sie dort den Geliebten mit einer Nebenbuhlerin vermutete, so tat sie doch das Klügste, das sie unter den Umständen tun konnte, und behelligte sie nicht.

Piggys verhaftete Gangster machten allerdings trübere Erfahrungen mit dem Gesetz, das sie nur als eine Posse anzusehen gewöhnt waren, gut genug für ein paar schüchterne Leute, die sich danach richteten, mit dem die Gangster und Racketeers aber machen konnten, was sie wollten. Zu ihrem unangenehmen Erstaunen wurden sie gewahr, daß es Fälle gibt, wo das nicht zutrifft, und der ihre war ein solcher. Sie waren überführt und wunderten für fünf bis vierzehn Jahre ins Gefängnis. Richter Lyle hatten ihnen das höchste Strafmaß zugesprochen, das ihm das Gesetz gestattete.

Tiltons Stellung bei der Zeitung hatte sich gebessert. Wenn ihm auch die Ereignisse zu Hilfe gekommen waren, so hatte er es doch verstanden, sie journalistisch in einer ausnehmend geschickten Weise zu bearbeiten. Auf jeden Fall hatten sie ihm Gelegenheit gegeben, seinen Namen beim Publikum bekannt zu machen, und das ist etwas, was sich in Amerika und wohl auch sonstwo, immer in Geld umrechnen läßt. Es fehlte daher auch nicht an Angeboten von seiten anderer Blätter, von Kollegen ihm vertraulich zugetragen, daß ihm dort bei Bewerbung eine bessere Stelle offenstehen würde.

Ohne von diesen Angeboten Kenntnis zu haben, hatte Mr. Rogers, der Editor der Tribune, sie doch als selbstverständlich und als das natürliche Ergebnis der Dinge erwartet, und da ihm nichts daran lag, einen tüchtigen Mitarbeiter, der sich einen Namen geschaffen hatte, zu verlieren, so hatte er ihn von dem üblichen Reporterdienste befreit und ihn angewiesen, hauptsächlich Featureberichte zu schreiben. Denn was Tilton für eine andere Zeitung wert war, war er auch der Tribune wert. Für Featureartikel hat eine Zeitung außerdem immer Bedarf, der größer ist als das Angebot.

Es ist freilich leichter, einen Reporterbericht nach Tatsachen, denen man nachgegangen ist, zu schreiben, als derartige Sonderartikel, zu denen man sich die Stoffe, die auf das allgemeine Interesse eines großen Leserkreises rechnen können, zu suchen. Die Aufgabe war Tilton aber doch lieb, denn sie war feuilletonistisch und brachte ihn seinem Plane, Romane zu schreiben, näher, während die reine Reporterarbeit mit ihrer notwendigen Beschränkung auf Tatsächlichkeiten in der knappsten Form keineswegs eine günstige Vorschule dafür ist.

Die Unterwelt von Chikago lieferte ihm aber reichlich Stoff, wenn anderer gerade fehlte, und klärte ihn gleichzeitig darüber auf, welche Art von Romanen er schreiben müsse, um gelesen zu werden. Es sollte nicht Literatur werden in dem Sinne, in dem man dieses Wort früher verstand, wo man jeden noch so guten Roman, sobald er eine abenteuerliche Handlung enthielt, als das Gegenteil ansah. Aber er sollte ihr in der künstlerischen Bearbeitung nahekommen, sollte Wahrheit enthalten, die heute abenteuerlicher ist, als jemals zuvor, und Logik und Tatsachen und den Lesern ein Bild ihrer Zeit geben. Das war es, was die Leser heute wünschten, nachdem sie sich von der Sentimentalität der Vorkriegsliteratur mit ihrer behaglichen Breite abgewandt haben. Wahrheit in Tatsachenromanen, interessant für den einfachen Leser, fesselnd für den gebildeten.

Im Laufe der fünften Woche endlich, als er seine Ungeduld kaum noch meistern konnte, erhielt er einen zweiten Brief von Dolores. Ein langes Schreiben, und schon dieser Umstand freute ihn. Nach einigen persönlichen Mitteilungen schrieb sie ihm:

»Das Schicksal Beesemyers wird Ihnen aus den Zeitungen bekannt sein. Meine Schwester und ich gehören zu seinen Opfern, so daß das, was Sie vor einiger Zeit fürchteten, nämlich daß ich ein reiches Mädchen sein könnte, nicht mehr zutrifft. Ich habe mich für verpflichtet gehalten, der Polizei Mitteilung von seiner Anstiftung des Mordes meines unglücklichen Vaters zu machen, damit sie ihr weiteres Suchen nach den Mördern einstellt. Er ist deswegen nicht unter Anklage gestellt worden, denn die Beweise gegen ihn hätten zu einer Verurteilung nicht ausgereicht, da sie jetzt, wo alle direkten Zeugen fehlen, nur noch aus Hörensagen bestanden. Er hat auch noch verschiedene andere Verbrechen begangen, gegen sein Versprechen aber, sich wegen Unterschlagung von acht Millionen Dollar schuldig zu bekennen, hat man sie nicht erst vorgebracht. Er verläßt San Quentin ohnehin nicht mehr.

Auch eine andere Mitteilung habe ich Ihnen noch zu machen, die Sie interessieren wird. Ich hatte vor einigen Tagen eine Unterredung mit dem Direktor der hiesigen Hearst-Gesellschaft, mit dem mein Vater seit langer Zeit befreundet war. Wir besitzen auch Anteile in ihr, die Bessemyer glücklicherweise nicht antasten konnte und die uns deshalb erhalten geblieben sind. Wir sprachen über meine Erlebnisse in Chikago und daher auch von Ihnen. Er kannte Ihren Namen recht gut, da Sie ja ein Mitarbeiter des ›Examiner‹ sind und er Ihre verschiedenen Berichte sehr aufmerksam gelesen hat. Ich habe Ihnen nun in seinem Namen einen Vorschlag zu machen. Wenn Sie wollen, können Sie am ›Cosmopolitan‹, das, wie Sie wissen, der Gesellschaft gehört, einen Posten als Subeditor mit hundert Dollar die Woche Anfangsgehalt und der Aussicht, später Managing Editor zu werden, übernehmen. Wollen Sie das tun? Die Stellung wäre sofort anzutreten, und ich glaube, Sie würden sich hier wohlfühlen.«

»Wollen Sie das tun?« hatte sie gefragt.

Er überlegte.

Seine Stellung hier war angenehm. Die Stadt war schön, mit Ausnahme der Teile, wo das nicht der Fall war. Er hatte hier fünfundsiebzig Dollar die Woche und sollte in San Franzisko mit hundert beginnen. Und Dolores wünschte offenbar, daß er kam.

Das entschied.

Er ließ sich einen Telegraphenvordruck geben und schrieb darauf: »Komme. Freue mich darauf. – Tilton.«


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