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7.

Es war gegen neun Uhr am nächsten Morgen. Tilton saß in seiner Wohnung, die aus einem Zimmer mit anstoßendem kleinem Schlafraum bestand, beim Frühstück. Er hatte eine etwas verkürzte Nachtruhe gehabt, denn er war gleich nach dem Attentat auf Zuta und ohne erst die weitere Entwicklung der Dinge abzuwarten, die doch den üblichen Verlauf nehmen und von den Nachrichtenbüros mitgeteilt werden würde, nach der Redaktion gefahren. Nach einer Unterredung mit dem Nachtredakteur hatte er sich an seine Schreibmaschine gesetzt und seinen Bericht über den Mord, der mit einer dreispaltigen Überschrift auf der ersten Seite erscheinen und die halbe Länge dieser einnehmen sollte, heruntergehämmert.

Es war gegen drei Uhr, als er ihn dem Re-write-man, der sein nächster Vorgesetzter war, übergab und sich mit dem Gefühl, ein erfolgreiches Tageswerk hinter sich zu haben, nach Hause begab.

Seine Wirtin hatte ihm soeben eine Schüssel mit Maisflocken, Eier und Speck und Kaffee auf den Tisch gestellt und die Morgenzeitungen daneben gelegt.

Voll Spannung griff er erst zu diesen, ehe er sich daranmachte, sein Frühstück zu verzehren.

Da war zunächst die Tribune. Richtig, der Bericht stand auf der ersten Seite.

» Von unserem Reporter, der Augenzeuge des Mordes war

stand unter der Überschrift. Mit hast überflog er den Artikel. Der Re-write-man hatte seine Bedeutung nicht verkannt, daher nur wenig gestrichen und sich in der Hauptsache damit begnügt, ein paar Sätze zu kürzen oder zu ändern, die in der Eile der Arbeit wohl etwas zu lang oder ungelenkig ausgefallen waren. Es war kein Scoop, den die Tribune damit erzielt hatte, denn der Mord war so zeitig an dem vergangenen Abend geschehen, daß die »Associated Preß« und die Nachrichtenagentur der Chikagoer Blätter zweifellos den Polizeibericht darüber erhalten hatten. Ihre Nachtreporter waren dann, wie es die Übung vorschrieb, vermutlich sofort nach dem Schauplatze des Ereignisses geeilt, um dort von jedem, der ihnen etwas darüber sagen konnte, weitere Einzelheiten über den Vorgang zu erkunden, um den Polizeibericht, der nur die nackten Tatsachen enthielt, entsprechend aufzupolstern.

Immerhin und in gewissem Sinne war es aber doch ein Scoop. Die andern Blätter würden durch ihre nach dem Tatort entsandten Reporter natürlich alles erfahren haben, was sich tatsächlich ereignet hatte. Der Übung gemäß würden diese dann noch einiges hinzuerfunden haben, was sich nicht ereignet hatte, um das »menschliche Interesse« zu liefern, das kein Artikel von einiger Länge in amerikanischen und englischen Zeitungen entbehren darf. Im Zusammenhang damit würde dann noch einmal das Attentat auf Zuta bei Gelegenheit seiner Entlassung aus der Haft kurze Erwähnung gefunden haben.

Die Tribune hatte ihren Reporter aber als Augenzeugen bei der Tat gehabt. Daß dies nur ein reiner Zufall gewesen war, verschwieg der Artikel natürlich sorgfältig und einige absichtlich undeutlich gehaltene Redensarten darin konnten den Leser noch mehr zu der Überzeugung bringen, daß der Reporter Zuta wahrscheinlich schon längere Zeit »beschattet« und zuletzt, wie ein Detektiv, bis in das Mordlokal verfolgt hatte.

Das war ein vielversprechender Anfang für Tiltons Tätigkeit an der Tribune.

Und da war die andere Neuigkeit, die er Dreifinger-Jack verdankte, die über die Veranlassung zu dem Attentat auf Jack Diamond. Sie war nicht so wichtig und ihre Einschätzung seitens des Re-write-man war daraus zu erkennen, daß er ihr fünfundzwanzig Zeilen auf der fünften Seite gegeben. Aber es war immerhin eine Neuigkeit, die die andern Zeitungen nicht hatten und auch das war ein Erfolg des neuen Reporters, der nicht unbemerkt bleiben konnte.

Er nahm die anderen Zeitungen zur Hand und sein Auge glitt über die Seiten hin. Ihre Berichte über den Mord waren wesentlich kürzer als sein eigener. Für sie war der Vorfall nur eben einer der so häufigen Gangstermorde gewesen, aber die Reporter hatten ihn nicht selbst miterlebt.

Immerhin hatten sie geschickt gearbeitet, keine Einzelheit war übersehen, auch die Namen und Adressen der Polizeibeamten und des Polizeiarztes, die bei den Feststellungen der Tatsachen und später bei der Fortschaffung der Leiche mitgewirkt hatten, waren erwähnt. Diese Mitteilung, die von der Associated-Preß und der Nachrichtenagentur der Stadtzeitungen kam, war auch dem Artikel Tiltons angefügt worden.

Die Reporter beider Agenturen hatten aber auch ganz nach seinen Erwartungen Einzelheiten gebracht, die sich gar nicht ereignet hatten. Des »menschlichen Interesses« wegen. Sie hatten zweifellos geglaubt, das um so eher tun zu können, als sie nicht ahnen konnten, daß ein Kollege von ihnen Augenzeuge gewesen war und eine von ihren Berichten abweichende Schilderung geben würde.

Und diese wich sehr weit ab von den ihren, denn während sie alles Tatsächliche gesammelt und berichtet, hatte Tilton den Vorgang mit den Augen des Journalisten angesehen. Und der sieht manches, was dem gewöhnlichen Zuschauer völlig entgeht, aber den Dingen erst Farbe gibt und ein ganz anderes Aussehen verleiht.

Mit einem Lächeln legte Tilton die Zeitungen beiseite und machte sich über das Frühstück her, das inzwischen fast kalt geworden war, ein Umstand, der ihn heute nicht störte, ihn aber sonst um seine Stimmung gebracht hätte. Denn das Frühstück war für ihn die wichtigste Mahlzeit des Tages. Lunch und Dinner waren Dinge, die zu allen Stunden, aber nur selten zu den dafür angesetzten regelmäßigen in der Erscheinungen Flucht eingenommen werden konnten.

Während er mit dem Frühstück beschäftigt war, kam ihm noch einmal in den Sinn, was Dreifinger-Jack ihm und Dorsey über den Mord des Mr. Carranza erzählt hatte. Er erwog, ob es nicht seine Pflicht war, trotz aller Neutralität, die er als Reporter zu üben gezwungen war, der Polizei Mitteilung davon zu machen und es ihr dann zu überlassen, die Spur weiter zu verfolgen oder nicht. Er sah aber nicht ein, wie er das tun konnte, ohne Dreifinger-Jack preiszugeben. Das widerstrebte ihm. Es war ein häßliches Gefühl, das Vertrauen eines Menschen zu täuschen, auch wenn dieser Mensch ein Verbrecher war, der in einer mitteilsamen Stunde und aus Ärger über die Hinterhältigkeit eines Partners mehr verraten hatte, als gut für ihn war.

Was würde es auch der Polizei nützen? Hundertundfünfzig Morde waren in Chikago noch unaufgeklärt und er war sicher, daß die Polizei in bezug auf die Mehrzahl von ihnen so viel Spuren besaß, als er ihr für den Carranzamord hätte geben können. Selbst in den wenigen Fällen, wo ihr die Hände durch Bestechung nicht gebunden waren, mußte sie dem Verdächtigen oder Beschuldigten das Verbrechen nachweisen. Und wie konnte sie das, wenn sie nicht in der Lage war, die Zeugen vor Gericht zu bringen und zur Aussage zu zwingen?

Hier lief sie eben wieder gegen das organisierte Verbrechertum an, das das Publikum völlig eingeschüchtert hat, indem es keinen Zeugen am Leben läßt, der gegen eines seiner Mitglieder aussagt oder aussagen kann.

Einen Beweis – wenn ein solcher für ihn noch nötig gewesen wäre, was aber nicht der Fall war – hatte er ja erst am vergangenen Abend gelegentlich des Diebstahls in dem Speakeasy erhalten. Zweifellos kannte eine ganze Anzahl der Gäste das Mädchen, von Jim Bossini und seinen Angestellten gar nicht zu reden, aber keiner hatte sich als Zeuge gegen sie gemeldet. Sollte er, der nach dem ungeschriebenen Gesetz zur Neutralität verpflichtet war, anders handeln? Der Polizei Mitteilungen machen, die ihr kaum etwas nützen konnten, und dafür sein Leben aufs Spiel setzen? Und wenn, wie es höchstwahrscheinlich war, die Polizei Piggy Donnovan gegenüber keine freie Hand hatte und Enthüllungen fürchten mutzte, wenn sie etwas gegen ihn unternahm, was würden für ihn, Tilton, die Folgen sein? Das nächste war, daß Piggy sofort nach der Anzeige eine Warnung mit Nennung des Zeugen gegen ihn erhielt.

Nein, der Polizei einen Wink zu geben, mußte außer Frage bleiben. Aber da war Dolores Carranza.

Hatte er nicht ihr gegenüber die Pflicht, sie auf die Spur des Mörders ihres Vaters hinzuweisen?

Hm, das war zu überlegen.

Er wußte nicht, ob sie sich für dessen Entdeckung interessierte, aber sie war kein blutloses, schwächliches Geschöpf, das das Schicksal hinnimmt, wie es kommt und sich damit abfindet, weil es nicht den Mut hat, sich dagegen zu wehren. Nein, das war sie ganz entschieden nicht. Und da war der Vormund, der die Verwaltung ihres Vermögens und das ihrer Schwester oder ihres Bruders – denn Dreifinger-Jack hatte von zwei Kindern gesprochen – in Händen hatte. Bei der unbegreiflichen Schwerfälligkeit und Verwickeltheit der amerikanischen Gesetze war er ganz in der Lage, es als das seinige zu betrachten, wenigstens bis zum Tage des Mündigwerdens der Erben. Sollte er ihr nicht eine Warnung geben? war das nicht seine Pflicht? Sie mochte dann tun, was sie für richtig hielt.

Ja, es war das beste, wenn er ihr einen Brief schrieb. Ihre Adresse würde er in der Redaktion im Adreßbuch von San Franzisko finden.

Der Gedanke, einen Grund zu haben, wieder mit ihr in Verbindung zu kommen, verursachte ihm ein prickelndes Gefühl.

Ja, das wollte er tun.

Das heißt, erst wollte er es sich noch einmal reiflich überlegen.


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