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14.

Rogers, der Editor, hörte ihn ruhig an, als er ihm alles erzählte, von seinem Besuche des Speisehauses, seiner Unterredung mit Dreifinger-Jack, seinem Briefe an Dolores Carranza bis zu der Warnung, die er eben erhalten.

Das nächste, was er dann tat, war, daß er auf einen Knopf druckte und dem eintretenden Officeboy befahl, Mr. Sinclair zu rufen.

»Wir hören besser auch seinen Rat. Das ist ja eine böse Geschichte«, sagte er ernst.

Seine Gedanken flogen aber schon weiter. Er war schon so lange im Zeitungsdienst, daß er jedes Ereignis und jede Lage immer zuerst auf ihren journalistischen Wert hin prüfte, hier ergaben sich ungeahnte Möglichkeiten. Er witterte einen Scoop.

Sich in seinen Sessel zurücklehnend, fragte er:

»Sind Sie bereits zu einem Entschluß gekommen?«

»Noch nicht. Ich wollte die Sache erst mit Ihnen besprechen.«

»Ganz recht. Well, Sie kennen die Gangster und wenn ich Ihnen in Ihrem Interesse raten soll, möchte ich Ihnen empfehlen, den nächsten fahrplanmäßigen Zug nach irgendwohin zu benutzen. Oder haben Sie die Absicht, die Sache an sich herantreten zu lassen?«

»Nein, das möchte ich nach Möglichkeit vermeiden«, erwiderte Tilton mit grimmigem Humor. »Trotzdem aber, das heißt, wenn Ihnen meine Arbeit von einigem Wert erscheint, würde ich vorziehen, hier zu bleiben.«

»All right. Ich hatte auch kaum etwas anderes von Ihnen erwartet. Nun lassen Sie uns sehen, was wir tun können, um diesen Herrn Piggy Donnovan, trotz seiner Verbindungen mit der Polizei, die er zweifellos hat, und trotz unserer famosen Strafgesetze und ihrer noch eigenartigeren Handhabung nicht dorthin bringen können, wohin er gehört, nämlich auf den elektrischen Stuhl.«

Wenn er noch hatte etwas hinzufügen wollen, so wurde er durch den Eintritt Sinclairs daran verhindert.

»Well, Sinclair, wir brauchen Ihren Rat als Kriminalist«, sagte der Editor. »Tilton hat eine kleine Differenz mit einem Gangster, Piggy Donnovan. Kennen Sie den?«

»Habe nicht die Ehre. Ich meine persönlich. Dem Rufe nach kenne ich ihn leider zu gut. Was ist's mit ihm?«

»Er hat die Absicht geäußert, Tilton auf den Platz zu bringen. Wiederholen Sie ihm, was Sie mir gesagt haben, Tilton. Ich werde inzwischen sehen, daß ich unsern Korrespondenten in San Franzisko, Mr. Manglin, an die Leine bekomme.«

Er drückte wieder auf einen Knopf, diesmal zweimal und wies dann durch den Apparat die Telephonistin im andern Zimmer an, ein Ferngespräch mit Mr. Manglin in San Franzisko anzumelden.

Tilton hatte währenddem Sinclair in kurzen Worten mitgeteilt, um was es sich handelte. Sie hatten sich beide Stühle an den Schreibtisch herangerückt und darauf Platz genommen.

»Well, was ist Ihre Meinung, Sinclair?« fragte Rogers, sich an den Kriminalreporter wendend.

»Ich halte die Sache für blutig ernst«, entgegnete dieser. »Es ist hohe Zeit, daß den Gangstern endlich einmal gezeigt wird, daß sie Chikago nicht vollständig in den Händen haben.«

»Es ist versucht worden, wie Sie wissen«, warf Rogers ein.

»Ja. Und es muß wieder und immer wieder versucht werden.«

»Haben Sie große Hoffnung auf den Erfolg?«

»Nicht unter den jetzigen Gesetzen. Wir haben zu viele Reformer und zu wenig Reform. Verbrecher wird es immer geben, aber die jetzigen Gesetze begünstigen sie zu sehr. Wir brauchen nur über die Grenze zu gehen, nach Kanada, dort wäre ein solches Verbrechertum ganz unmöglich. Einzelne haben es versucht, der Versuch ist ihnen aber sehr schlecht bekommen.«

»Das liegt wohl mehr daran, daß Kanada noch so wenig bevölkert ist. Jeder sitzt dort in einem Glashause und der andere weiß immer, was er tut.«

Sinclair zuckte die Achseln.

»Ich glaube, es liegt am Gesetz. Unsere Gesetze sind viel zu sehr verwickelt und Kongreß und Senat stets dabei, immer noch neue zu fabrizieren. Unsere Gesetzsammlung bildet eine Bibliothek von dreitausendfünfhundert starken Bänden. Wir lassen ein Übel sich immer erst so weit entwickeln, bis es beinahe unausrottbar geworden ist.

Sehen Sie sich den Ku Klux Klan an. Die Leute dachten auch, sie könnten Amerika beherrschen und alles müßte nach ihrer Pfeife tanzen, die Mitgliedschaft war geheim und wenn sie sich außen in großen Banden sehen ließen, trugen sie weiße Gewänder mit einer Kapuze über dem Kopf, in der sich nur Schlitze für die Augen befanden. Eine Zeitlang hatten sie tatsächlich Amerika unter ihrer Fuchtel und wollten sich in Kanada ausbreiten. Der kanadische Justizminister erklärte ihnen aber durch die Presse, sie möchten nur kommen, er hätte für jeden eine Gefängniszelle offen. Well, sie wußten, daß das keine leere Drohung war und gaben den Gedanken auf.

Dann besann sich jemand bei uns, daß es doch eigentlich gegen das Gesetz sei, Paraden zu veranstalten, bei denen die Teilnehmer vermummt durch die Straßen wandern – in den dreitausendfünfhundert Bänden unserer Gesetzsammlung scheint auch manchmal eine Selbstverständlichkeit vergraben zu sein. Man verbot ihnen also die Vermummung und drohte ihnen nicht nur mit der Polizei, sondern nötigenfalls auch noch mit Militär. Das half. Ohne die geheime Mitgliedschaft konnte die Geheimbündelei des Ku Klux Klans nicht mehr bestehen. Er ist ja noch da, aber seine Krallen sind ihm beschnitten. Mit den Gangstern ist es nicht anders. Lassen Sie Kongreß und Senat ein paar tausend veraltete oder unnütze Gesetze aus unserer Gesetzsammlung herauswerfen und ein paar an ihre Stelle setzen, die die Verbrecher weniger begünstigen, und wir werden imstande sein, mit ihnen fertig zu werden.«

»Kongreß und Senat?« sagte Rogers geringschätzig.

»Gewiß, wir kennen ja die Herren, die dort sitzen«, gab Sinclair zu. »wenn wir sie genau prüfen, werden wohl wenige übrig bleiben, die nicht selbst Gangster in großem Stile und für irgendein Großunternehmen sind. Aber auch abgesehen vom Gesetz. Solange wir keine Jury finden können, die ein paar Dutzend Gangführer auf Indizienbeweise hin einladet, auf dem elektrischen Stuhle Platz zu nehmen, und den vollen und uneingeschränkten Nachweis ihrer Täterschaft verlangt, wird es nicht anders werden. Richter Lyle, den wir jetzt am Racketeergericht haben, versucht ja sein Bestes, dem Gangstertum die Giftzähne auszubrechen. Er verlangt in jedem Verhaftungsbefehle so hohe Bürgschaft, daß nur noch die reichen Gangster sie erlegen können und die andern einfach ins Gefängnis wandern. Und das geschieht erfreulicherweise jetzt ziemlich häufig, denn auch die Gangster fühlen die Not der Zeit, haben ihre Preise schon bedeutend herabsetzen müssen und ihre Kassen sind leer. Aber es ist wie mit den Klapperschlangen, die Giftzähne, die Sie ihnen ausbrechen, wachsen immer schnell wieder nach. Es ist unser Strafgesetz, das geändert werden muß. Und das bringt mich wieder auf den Fall des Kollegen Tilton zurück. Er hat von Dreifinger-Jack gehört, daß Piggy Donnovan den Mord an Carranza begangen hat. Ich zweifle keinen Augenblick daran, daß das die Wahrheit ist. Aber genügt das für die Polizei und die Jury? Nicht im entferntesten. Dreifinger-Jack ist tot und Piggy würde einfach behaupten, daß er gelogen hat. Vielleicht hat er auch ein Alibi bereit. Für ein paar Dollars bekommen Sie stets Leute, die Ihnen alles beschwören, was Sie haben wollen.«

»Ganz recht«, gab der Editor zu, »und es ist dasselbe mit der Warnung, die Tilton erhalten hat. Er weiß nicht einmal, von wem sie gekommen ist. Ich stimme mit Ihnen überein, daß es blutiger Ernst ist. Wenn wir die Sache aber der Polizei übergeben, wird sie uns sagen, daß sie gegen den Mann auf eine solche anonyme Mitteilung hin nichts unternehmen kann. Das ist ja vielleicht auch richtig. Trotzdem müssen wir es aber tun, schon um ihnen später, im Falle Tilton wirklich etwas zustoßen sollte, die Ausrede zu nehmen und uns den Vorwurf zu ersparen, daß wir ihr keine Mitteilung gemacht haben.«

»Sie könnten Tilton ein paar Detektive zu seinem Schutze stellen.«

»Das werden sie wohl auch tun. Damit können wir uns aber nicht begnügen.«

»Gewiß nicht. Woran denken Sie?«

»Well, ich habe mir die Frage vorgelegt: warum will Piggy Donnovan Tilton beseitigen?«

»Das ist völlig klar«, meinte Sinclair. »Um einen Zeugen für seine Täterschaft stumm zu machen. Es ist zwar nur ein Zeuge aus zweiter Hand, aber man weiß doch nie, welche Wendung eine solche Sache nimmt, und er muß fürchten, daß er ihm, vielleicht in Verbindung mit anderen Feststellungen, die möglicherweise noch erfolgen, doch gefährlich werden könnte.«

»Wenn ich Sie recht verstehe, meinen Sie, wir müßten Piggy den Grund für den Mord nehmen, indem wir die ganze Geschichte veröffentlichen. Wenn das geschehen ist, hat es für ihn keinen Sinn mehr, den Mord ausführen zu lassen, denn das, was er verhindern sollte, ist bereits geschehen. wir müßten ihm also zuvorkommen.«

»Ja, das meine ich. Allerdings dürfen wir nicht vergessen, daß wir damit Piggy zwar das eine und dringendste Motiv entzogen, aber ein anderes, freilich viel weniger dringendes geliefert haben: die Rache.«

»Das hilft schon viel. Rache ist etwas, das warten kann. Am allerwenigsten würde er jetzt etwas gegen Tilton unternehmen, wo ihn jeder sofort mit der Tat in Verbindung brächte. Tiltons Sicherheit kann aber nicht aufgeschoben werden.«

»Das ist wahr, ich bin aber nicht sicher, daß Piggy so denken würde. Leute von seinem Schlage denken in der Regel nicht tief und nicht weit genug, Gewaltmittel liegen ihnen immer am nächsten. Irgendein gerissener Rechtsanwalt würde zweifellos zu seiner Verteidigung geltend machen, daß gerade dieser Umstand jemand ermutigt haben könnte, ein Attentat auf Tilton zu unternehmen, da er sicher gewesen wäre, daß der Verdacht der Täterschaft auf Piggy fallen würde. Immerhin, Rache ist ein weniger dringender Grund für einen Mord, als die eigene durch den Zeugen gefährdete Sicherheit. In dem einen Falle könnte er wähnen, dazu gezwungen zu sein, besonders so lange er noch der Meinung ist, daß niemand seine Absicht kennt und seine Täterschaft daher auch kaum beargwohnt werden würde. Im andern Falle hätte er alle Ursache, irgendwelche Rachegedanken für den Augenblick zurückzustellen.

Der Editor dachte einen Augenblick nach.

Dann fragte er:

»Sind Sie damit einverstanden, Tilton, daß wir die Sache veröffentlichen? Ich halte es für das beste. Es schützt Sie wenigstens für einige Zeit. Aber es handelt sich hier um Sie. Das ist es, was mich beunruhigt. Es ist nicht, als ob wir nur einen Zeitungskampf gegen die Gangster führten, wir setzen hier unsere eigenen Leute ein. Deren Sicherheit kommt zuerst, dann erst der Scoop für die Zeitung.«

»Ich bin ganz damit einverstanden«, entgegnete Tilton, der sich an dem Meinungsaustausch des Editors mit dem Kriminalisten bisher nicht beteiligt hatte, denn es interessierte ihn viel mehr, zu erfahren, was diese beiden über die Sache dachten und zu welcher Entscheidung sie gelangen würden. »Wenn wir jetzt losschlagen, entziehen wir Piggy Donnovan den Hauptgrund zu seinem Attentat auf mich. Das ist immerhin etwas. Im übrigen werde ich einige Vorsichtsmaßregeln treffen. Ich werde das Haus einstweilen nur durch den Hofausgang verlassen und kein Auto benützen, sondern möglichst immer die Straßenbahn, oder die Hochbahn oder andere öffentliche Verkehrsmittel. Dann sind Sie wohl so freundlich und ersuchen die Polizei, mir ein paar Detektive zu stellen, die aufpassen, ob mir jemand folgt. Es gibt einem immer ein Gefühl größerer Sicherheit, wenn man seinen Rücken gedeckt weiß.«

»Dafür werde ich sorgen«, versprach ihm der Editor. »Ich werde den Herren auch mitteilen, daß wir unsern Kampf mit den Gangstern mit der heutigen Abendnummer von neuem beginnen und es sollte mich nicht wundern, wenn Piggy Donnovan von ihnen einen Wink erhält, jetzt um Gottes willen von allen Unvorsichtigkeiten abzustehen und die Sache nicht noch schlimmer zu machen. Schreiben Sie also einen Artikel, in dem Sie Piggy Donnovan des Mordes an Dreifinger-Jack beschuldigen und geben Sie dann den Grund an, warum er ihn hat verüben lassen. Das gibt uns einen Scoop, wie wir ihn lange nicht gehabt haben, und die Polizei muß irgend etwas tun. Gott sei Dank haben wir in Ihrem Falle wenigstens die Hände frei und brauchen nicht zu fürchten, daß es uns so geht wie mit Lingle.«

»Es ist da aber noch eine Sache, die mir Bedenken einflößt«, bemerkte Tilton nachdenklich. »Ich fürchte, wir könnten Miß Barranca damit in Gefahr bringen, und das wäre ein schlechter Dank für ihre Warnung. Irgend jemand muß mir doch die Absicht Piggy Donnovans, mich ›auf den Platz zu bringen‹, verraten haben, und er wird darüber nachdenken, wer das gewesen sein kann. Mit allzuvielen Personen wird er nicht darüber gesprochen haben, auch in der Betrunkenheit nicht. Es ist also mehr als wahrscheinlich, daß sein Verdacht auf Miß Barranca fallen wird. Das würde für ihn völlig genügen, sie ›mit auf eine Fahrt zu nehmen‹.«

»Das glaube ich nicht«, entgegnete Rogers, seine Fingernägel betrachtend, die er stets ausnehmend sauber hielt. »Sie wird die letzte Person sein, auf die sich sein Verdacht richtet. Einer Frau gegenüber, besonders wenn sie einem nahesteht – und das muß doch hier der Fall sein, denn sonst hätte er ihr gegenüber nicht alle Vorsicht außer acht gelassen und geplaudert –, sind wir alle blind. Nein, er wird eher an einen seiner Leute denken. Von der Seite sind die Gangster ja niemals vor Verrat sicher. Vielleicht könnten wir aber das Mädchen veranlassen, für einige Zeit fortzugehen. Irgendwohin. Die Kosten übernehmen wir natürlich. Wissen Sie, wo sie herstammt?«

»Ich weiß gar nichts.«

»Wie kommt es dann, daß sie Sie gewarnt hat?«

»Das ist doch nur natürlich. Ein Mädchen wird doch nicht zulassen, daß jemand ermordet wird, wenn sie das verhindern kann.«

»Dessen bin ich nicht so sicher. Jeder Gangster hat seine Moll, und die ist meist noch abgefeimter als der Gangster selbst.«

»In diesem Falle trifft das nicht zu. Sie würde mich dann nicht gewarnt haben.«

»Wir wollen die Frage lieber offen lassen«, warnte Rogers. »Ein Mädchen, das sich mit einem Kerl wie Piggy Donnovan abgibt, kann nicht besser sein als er. Ich kann mir daher auch nicht gut denken, daß sie Sie nur gewarnt hat, um einen Mord zu verhindern. Sie muß andere Gründe gehabt haben. Sie sagen, sie kennen sie nicht?«

»Ich habe sie nur das eine Mal im Restaurant gesehen.«

Rogers zuckte die Achseln. Er hielt die Frage damit offenbar nicht für gelöst, sie schien ihm aber nicht wichtig genug, um ihn augenblicklich weiter zu beschäftigen. Seine Gedanken waren schon wieder vorausgeeilt.

»Wir wollen den Grund für die Warnung, die Ihnen Miß Barranca zukommen ließ, nicht aus dem Gesicht verlieren, denn er enthält vielleicht den Schlüssel zu der ganzen Sachlage. Das Verhalten des Mädchens ist jedenfalls ungewöhnlich. Und merken Sie sich, Tilton, alles Ungewöhnliche ist einer näheren Prüfung wert. Wenn Sie die unterlassen, werden Sie meist finden, daß es zu Ihrem Schaden geschehen ist. Das aber nur nebenbei. Wie glauben Sie, daß das Mädchen Ihre Adresse erlangt hat?«

»Vielleicht hat Piggy ihr selbst gesagt, daß ich an der Tribune arbeite.«

»Möglich. Übrigens, sie wollte Sie ja noch einmal anrufen. Sagen Sie ihr dann, es sei das sicherste für sie, von Chikago wegzugehen und daß die Zeitung bereit sei, die Kosten dafür zu tragen. Am besten verabreden Sie mit ihr eine Zusammenkunft. Nicht hier in der Office. Irgendwo anders. Sie können dann alles weitere mit ihr besprechen. Ich möchte – warten Sie, das könnte San Franzisko sein.«

Der Fernsprecher hatte eben wieder geklingelt und er nahm den Hörer und lauschte.

Es war in der Tat San Franzisko, das sich meldete.

»Ist das Mr. Manglin?« fragte Rogers. »Schön. Ich habe einen besonderen Auftrag für Sie. Hören Sie.«

Und er erzählte ihm, was Tilton ihm mitgeteilt.

»Was ich jetzt von Ihnen wünsche, ist das folgende«, schloß er. »Gehen Sie nach Carranzas Hause und versuchen Sie, Dolores Carranza allein zu sprechen, wir müssen unter allen Umständen feststellen, ob sie Tiltons Brief empfangen und an Piggy Donnovan weitergegeben hat. Ich halte das ja für ausgeschlossen, es wäre geradezu ungeheuerlich, aber wir müssen sicher gehen. – Was ist das? Sie kennen die Familie? – Und Miß Dolores ist seit vier Monaten von San Franzisko verschwunden? Hat nur ein paar Zeilen zurückgelassen, daß sie zu einer Freundin ginge und man sich keine Sorgen um sie machen solle? – Sie kann aber inzwischen zurückgekehrt sein. – Nicht bis letzten Dienstag? Sie haben ihre Schwester Juana in der Market Street getroffen und nach Dolores gefragt? Sie sagte Ihnen, daß sie noch nicht zurückgekehrt sei und sie auch nichts von ihr gehört hätten? Sonderbar. Hier steckt wohl auch etwas dahinter. Well, gehen Sie mal hin und suchen Sie wenigstens ihre Schwester zu sehen. Wir müssen unbedingt erfahren, was aus Tiltons Brief geworden ist. Rufen Sie mich dann wieder an. – All right!«

Er hängte den Hörer wieder ab.

Tilton hatte mit größtem Erstaunen zugehört.

Dolores Carranza nicht in San Franzisko. Und niemand wußte, wo sie war?

Das löste verschiedene Rätsel. Er erwähnte indessen nichts davon zu dem Editor, denn die Vermutungen und Schlüsse, mit denen diese Tatsachen ihn überwältigt hatten, waren so ungeheuerlich, daß er sie einstweilen noch von sich wies. Dolores Carranza unter dem Namen Ramona Barranca hier in Chikago als die Geliebte Piggy Donnovans, des Mörders ihres Vaters! Es war unmöglich.

»Well, wir können einstweilen nichts tun als warten«, nahm Rogers wieder das Wort. »Schreiben Sie also Ihren Artikel; lassen Sie mich ihn aber erst sehen, Tilton. Ich werde inzwischen den Polizeichef anrufen. Sobald ich wieder von Manglin höre, lasse ich es Sie wissen.«

Damit war die Unterredung zu Ende und Sinclair und Tilton kehrten in das Reporterzimmer zurück.

Tilton setzte sich an seine Schreibmaschine, spannte einen Bogen ein und begann auf die Tasten loszuhämmern.

Es war leichte Arbeit, denn er hatte alles selbst erlebt und beobachtet, und da das, was sich leicht schreibt, sich auch immer gut liest, wußte er, daß der Artikel Aufsehen erregen würde. Der Editor hatte ihm zweitausend Worte bewilligt. Das bewies, daß er die Sache als einen Scoop für die Zeitung ansah, der in vollem Umfange ausgenützt werden mußte.

Es gab Tilton Gelegenheit, seine Unterredung mit Dreifinger-Jack ziemlich ausführlich zu berichten, denn Enthüllungen aus der Gangsterwelt sind den Lesern immer willkommen. Nur das Lokal, in dem die Unterredung stattgefunden, erwähnte er nicht. Es war allerdings ein Speakeasy, das ging ihn aber nichts an. Er war Gast dort gewesen, hatte sich an dem ungesetzlichen Betriebe durch den Genuß von verbotenen Getränken beteiligt, ohne daß er sein Gewissen im geringsten deswegen beschwert gefühlt hätte, und es war schließlich eine Angelegenheit, in der er als Reporter überparteilich sein mußte.

Wenn er der Polizei damit freilich auch nichts Neues gesagt hätte, denn die kannte das Lokal und seinen Betrieb ja ganz genau durch die monatliche Graftzahlung, so hätte eine Erwähnung in der Zeitung diesen Betrieb doch für einige Zeit gestört.

Ebenso verschwieg er, auf welchem Wege er Kenntnis von der Absicht Piggys, ihn durch seine Helfershelfer beseitigen zu lassen, erlangt hatte. Er machte sogar einige unbestimmte Andeutungen, um den Verdacht nach einer ganz anderen Richtung hin zu lenken. Ramona Barranca durfte, so weit er in der Lage war, das zu verhindern, in keine Gefahr gebracht werden.

Er hatte mehr als zwei Stunden geschrieben und der Artikel näherte sich seinem Ende, als er wieder in das Zimmer des Editors gerufen wurde.

Er traf dort zwei Herren, die er nach dem eigentümlichen Etwas in ihrer Kleidung, Haltung und Blicken sofort als Kriminalbeamte erkannte.

Der Editor stellte vor.

»Mr. O'Hara und Mr. Mulberry – Mr. Tilton. Die Herren wollten Sie kennen lernen. Sie sind vom Polizeichef beauftragt worden, Sie zu überwachen, um ein Attentat auf Sie möglichst zu verhindern. Sie werden sich auf der Straße aufhalten, das Haus im Auge behalten und etwaige verdächtige Personen sofort festnehmen. Es wird nicht nötig sein, ihnen Kenntnis davon zu geben, wenn Sie das Haus verlassen. Es könnte auffallen. Aber es wird gut sein, wenn Sie heute und vielleicht auch morgen nur den Hofausgang benützen. Später ist das nicht mehr nötig, denn wenn man dann noch etwas gegen Sie zu unternehmen beabsichtigt, wird man herausgefunden haben, daß Sie diesen Weg benützen und Sie sind dort nicht sicherer als am Hauptausgang.«

»All right, Mr. Tilton – Sie können sich ganz auf uns verlassen«, meinte der eine der Detektive, »wir kennen ja unsere Leute, sie machen sich immer verdächtig durch irgendeine Kleinigkeit, die anderen vielleicht gar nicht auffällt. Wir wollten Sie nur einmal sehen, wann werden Sie zum Lunch gehen?«

»Ich gehe heute gar nicht, habe noch viel zu tun und wir haben eine Kantine hier im Hause. Ich werde erst um fünf Uhr weggehen – durch den Hofausgang.«

»Gut«, entgegnete der Detektiv, »dann ist die Ausgabe der Zeitung mit Ihren Enthüllungen auf der Straße und wenn Ihnen wirklich Leute von Piggys Gang auflauern sollten, so werden sie sicher nichts unternehmen, ohne sich erst noch einmal mit ihm zu beraten.«

Damit verabschiedeten sie sich und verließen das Zimmer.

»Wie weit sind Sie mit Ihrem Artikel?« wandte Rogers sich an Tilton.

»Noch eine Stunde.«

»All right.«

Als Tilton nach einer reichlichen Stunde seinen Artikel beendet hatte, las er ihn noch einmal durch, gliederte ein paar zu lang geratene Sätze in kürzere und brachte auch sonst noch ein paar Änderungen an. Dann raffte er die acht Blätter zusammen und begab sich in das Zimmer des Editors. Es wäre sonst Sache des Re-write-Mannes gewesen, den Artikel durchzusehen, aber es handelte sich hier um einen Scoop und daher hatte sich der Editor die Prüfung selbst vorbehalten.

»Ich habe eben wieder ein Gespräch mit Mr. Manglin gehabt«, sagte Rogers, als er eintrat. »Ich glaube, wir stehen vor einer großen Überraschung. Die beiden Erbinnen des alten Carranza sind zwei Töchter, Dolores und Juana. Der Vormund, ein Mr. Beesemyer, hatte darauf bestanden, daß die beiden Mädchen nach der Ermordung des Vaters in sein Haus übersiedelten. Als Grund gab er an, daß zwei Mädchen nicht allein in dem großen Hause, das so viel Dienerschaft benötigte, wohnen könnten. Das stimmt ja schließlich auch, aber sein wahrer Grund war wohl der, daß er sie unter seiner Bewachung haben wollte. Noch vor der Übersiedelung verschwand Dolores aus San Franzisko und man hat seitdem nichts wieder von ihr gehört. Mr. Manglin hat mit Juana im Hause ihres Vormundes gesprochen. Sie weiß nichts von einem Briefe, den Sie an ihre Schwester geschrieben haben. Die Annahme liegt also nahe, und man kann es wohl als Gewißheit ansehen, daß der Vormund ihn empfangen und unterschlagen hat.«

»Eine andere Annahme bleibt kaum übrig«, stimmte Tilton bei. »Das löst zunächst einmal das Rätsel des Briefes aus Kalifornien, den Piggy Donnovan erhalten hat. Beesemyer, der Vormund, hat ihn sofort davon in Kenntnis gesetzt, daß ich die Umstände des Mordes kenne. Das beweist –«

»Well –?« fragte Rogers, als Tilton einen Augenblick zögerte, fortzufahren.

»– daß Dreifinger-Jack die Wahrheit sagte, als er behauptete, der Vormund der Mädchen sei der Anstifter des Mordes und habe Piggy dafür bezahlt. Denn er muß die Adresse des Gangsters gekannt haben, um ihm die Warnung zukommen zu lassen«, vollendete Tilton. »Und warum hat er meinen Brief nicht sofort der Polizei übergeben? Das wäre sein nächster Schritt gewesen, wenn er nicht Gründe gehabt hätte, die Entdeckung des Mörders zu verhindern.«

»Jawohl, es beweist alles das, was Sie sagen. Aber unglücklicherweise nur für uns – nicht für die Polizei und das Gericht. Manglin hat mir indessen noch mehr über diesen Mr. Beesemyer mitgeteilt. Es gehen Gerüchte über ihn um, die ihn, wenn sie sich bewahrheiten sollten, für den Rest seines Lebens in das Zuchthaus bringen würden, selbst wenn wir ihm die Anstiftung des Mordes nicht nachweisen können. Er ist seit einer Anzahl von Jahren Direktor der Guaranty Building and Loan Association Bau- und Leihgesellschaft. Beesemyer wurde im Dezember 1930 wegen Unterschlagung von acht Millionen Dollar zu einer Zuchthausstrafe von zehn bis zu hundert Jahren verurteilt, die er jetzt in San Quentin verbüßt. Wegen einer ganzen Unzahl anderer Verbrechen wurde eine Anklage gegen ihn gar nicht erst erhoben. in Los Angeles und hat mit dem Gelds dieser Gesellschaft die wildesten Spekulationen betrieben. Seine Unterschlagungen sollen viele Millionen Dollars betragen und es scheint, daß er jetzt nahe vor dem Zusammenbruche steht.«

»Das erklärt, warum er sich zum Vormund der beiden Mädchen hat ernennen lassen. Er brauchte die Verfügung über ihr Vermögen.«

»Wie er das zuwege gebracht hat, ist mir vorläufig noch unklar.«

»Well, in Amerika ist alles möglich. Dem Gericht wird aber damals noch nichts Nachteiliges über ihn bekannt gewesen sein. Er war Direktor eines großen Unternehmens und sein Ruf noch unangetastet.«

Rogers nickte nur beistimmend.

»Auf jeden Fall hat er in der Carranza-Angelegenheit planmäßig darauf hingearbeitet, das Vermögen unter seine Kontrolle zu bringen«, fuhr Tilton fort, »wahrscheinlich waren seine Gesellschaften schon längst im Wanken und er wollte sie mit dem Vermögen der Familie Carranza stützen. Allem Vermuten nach hat er es in Shares dieser Gesellschaften angelegt und wenn sein Kartenhaus jetzt zusammenbricht, so fürchte ich, wird auch das Geld der beiden Mädchen verloren sein.«

»Zweifellos. Ich habe deshalb auch Mr. Manglin gebeten, die Listen der Sharebesitzer in den Gesellschaften, denen Beesemyer vorstand, oder noch vorsteht, daraufhin durchzusehen. Ich weiß nicht, ob diese Feststellungen uns viel helfen werden, denn mit den Mädchen haben wir eigentlich nichts zu tun und im übrigen können wir es den Kaliforniern überlassen, ihre Verbrecher selbst zur Strecke zu bringen. Unser Kampf gilt den Gangstern hier in Chikago. Immerhin haben wir jetzt festgestellt, daß Dolores Carranza Ihren Brief nicht erhalten hat. Das ist schon etwas.«

»Es wäre aber von Wichtigkeit, wenn wir den Brief, den Piggy erhalten hat, als Beweisstück in die Hände bekommen könnten.«

»Gewiß, wenn er ihn nicht vernichtet hat. Der Polizeichef hat auch bereits eine Haussuchung bei Piggy Donnovan angeordnet. Inzwischen ist sie vielleicht schon erfolgt. Auch seine Verhaftung ist verfügt, obwohl es sich dabei nur um eine Befragung handeln kann. Länger als ein paar Tage wird ihn die Polizei nicht festhalten können, falls wir ihr nicht noch bessere Beweise liefern können. – Well, ich werde Ihren Bericht durchsehen und ihn dann gleich in Satz geben. – Übrigens, haben Sie gehört, daß die fünf, die letzthin in Lansing in Michigan wegen unbedeutender Prohibitionsvergehen zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt wurden, weil sie das vierte Mal unter Anklage standen, von Governor Green begnadigt worden sind? Zu siebeneinhalb bis fünfzehn Jahren Zuchthaus.«

»Und das alles, um einige, die sich nicht vor dem Trinken schützen können, vor sich selbst zu retten?«

»Ja, denn darauf läuft das ganze Prohibitionsgesetz hinaus.«

»Es waren keine Gangster?« fragte Tilton, der von der Sache keine genaue Kenntnis hatte, da er sich zu der Zeit, als die Verurteilung erfolgte, in Kalifornien befand.

»Nein, die stehen über dem Gesetz, oder man kann wohl noch besser sagen, außerhalb des Gesetzes – auf Grund gewisser Vereinbarungen mit der Polizei und den Politikern, die niemals abgeneigt sind, einen ehrlichen Penny nebenbei zu verdienen.«


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