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19.

Als Tilton am andern Morgen kurz nach acht Uhr das Gefängnis in Salinas betrat, sich in der Außenoffice meldete und den Vorsteher zu sprechen verlangte, wurde ihm bedeutet, daß dieser noch nicht anwesend sei. Sheriff Abbott habe aber Dienst, und wenn er wünsche, könne er diesen sprechen.

Er wurde in dessen Büro geführt, stellte sich als Reporter der Tribune vor und verlangte Mrs. Sue Brown zu sprechen.

Der Sheriff, ein Mann von herkulischen Körperformen, wie alle Polizeibeamten, sah ihm sprachlos ins Gesicht.

»Nun möchte ich bloß wissen, wie ihr Zeitungsleute schon Wind von der Sache bekommen habt?« rief er.

»Auf dem üblichen Wege«, antwortete Tilton ausweichend, denn er wußte sich die Frage nicht recht zu deuten.

»Well, Sie können Sie nicht sehen. Wir haben sie nicht mehr hier.«

»Wo ist sie?« fragte Tilton überrascht.

»Wir haben sie vor einer Stunde nach der Krankenstation gebracht.«

»Ist sie krank?«

»Frühgeburt. Das Kind ist tot«, war die lakonische Antwort.

Das war kurz und geschäftsmäßig. Tilton hatte aber den Eindruck, als ob der Mann mit etwas zurückhalte; er schien auch erregt zu sein und sich unsicher zu fühlen.

»Frühgeburt? hier im Gefängnis?« fragte Tilton erschrocken.

»Nein, im Hospital. Gleich nach ihrer Einlieferung.«

»Dann werde ich sie im Hospital aufsuchen. Ich muß unbedingt mit ihr sprechen, habe ich Ihre Erlaubnis?«

Der Sheriff zögerte.

»Über die Gefangenen im Hospital hat der Arzt zu verfügen«, sagte er.

»Ganz recht. Und der wird sich wieder darauf berufen, daß ich eine Erlaubnis von Ihnen haben muß. Wollen Sie mir die geben. Schicken Sie mich, bitte, nicht unnütz hin und her. Hier könnte ich Sie möglicherweise dann nicht mehr antreffen.«

»Ich weiß nicht –«

»Hören Sie, Sheriff«, erwiderte Tilton ungeduldig, denn das Benehmen des Mannes machte es ihm klar, daß er eine Unterredung des Reporters mit der Gefangenen verhindern wollte, »Sie haben kein Recht, mir eine Unterredung mit ihr zu verweigern.«

Der Sheriff zögerte noch immer. Dann aber schien er zu einem Entschluß gekommen zu sein. Es war nicht ratsam, sich mit einer Zeitung in einen Streit einzulassen. Er wußte auch nicht, welche Informationen ihr bereits zugegangen waren. Es war schon seltsam, daß ein Reporter hier war, während er noch immer die Kenntnis gewisser Dinge auf eine Handvoll seiner Untergebenen beschränkt glaubte. Einer von ihnen hatte offenbar geplaudert – über den Fernsprecher vermutlich. Man konnte sich eben auf niemand verlassen.

»All right«, sagte er achselzuckend, »wenn Sie darauf bestehen –«

Er nahm den Hörer vom Fernsprechapparat ab und rief das Krankenhaus an. Der Arzt war anwesend und der Sheriff sprach eine Weile mit ihm. Dann wandte er sich wieder zu Tilton.

»Well«, sagte er. »Der Arzt hält es nicht für angebracht, daß Sie mit der Gefangenen sprechen. Aber ihre Mutter ist bei ihr. Mrs. Brown hat darauf bestanden, daß man ihre Mutter anrufe und ihr von ihrem Zustande Mitteilung mache. Sie werden von der Mutter erfahren können, was Sie wissen wollen. Alles ist ordnungsgemäß zugegangen und niemand hat irgendwelche Schuld. Schließlich hat sie sich ja auch alles selbst zuzuschreiben, hätte ihren Zustand eben bedenken müssen, bevor sie Whisky verkaufte.«

»Nach meiner Kenntnis der Dinge liegt die Sache anders«, widersprach Tilton. »Sie hat niemals Whisky verkauft, hat nur Bier besessen, aber auch nicht verkauft. Außerdem ist doch der Mann dafür verantwortlich und nicht die Frau. Es scheint mir, daß jemand darauf aus gewesen ist, einen Anteil von der Geldstrafe zu erhalten. Solche Dinge kommen vor, wie Sie wissen, und mit falschen Eiden läßt sich viel beweisen.«

»Der Mann hat das Bier nicht selber gebraut, da können Sie sicher sein. Die Frau hat ihm zum mindesten geholfen, ist also mitschuldig. Übrigens geht mich das gar nichts an. Sie ist verurteilt worden, das ist alles, wonach ich mich zu richten habe.«

Tilton empfahl sich und ging nach dem Hospital.

Er mußte eine Weile in einem einfach eingerichteten Empfangszimmer warten. Dann wurde eine Frau zu ihm eingelassen, der man es ansah, daß sie sich am Morgen in aller Eile angekleidet hatte. Ihre Augen standen noch voll Tränen und in den Händen hielt sie ein Taschentuch, das sie krampfhaft und ohne es zu wissen, zerknüllte.

»Oh, meine arme Tochter«, schluchzte sie, als ihr Tilton seinen Namen und seine Absicht genannt hatte, ihrer Tochter zu helfen, und sie sofort durch das Versprechen beruhigt hatte, daß die Strafsumme für ihre Tochter noch im Laufe des Tages bezahlt werden und sie dann frei sein würde. »Man hat sie schändlich, unmenschlich behandelt. Sie sind von der Zeitung, Sie müssen etwas tun, denn die Zustände sind haarsträubend. Ich hätte niemals gedacht, daß so etwas in amerikanischen Gefängnissen möglich ist. In Amerika, hören Sie, in einem Lande von unerhörtem Luxus, unerhörter Verschwendung, Millionenraub und Graft von oben bis unten.«

»Wie alt ist Ihre Tochter?« fragte Tilton, als sie sich kraftlos auf einen Stuhl hatte sinken lassen.

»Fünfundzwanzig. Und eine so hübsche Frau, mit ihren großen, unschuldigen Kinderaugen und ihrem kleinen Mund. Sie muß eine Nacht der fürchterlichsten Qualen verbracht haben, allein in einer schmutzigen Zelle, voll von Wanzen und Läusen, die für einen Hund zu schlecht ist. Sie weiß nicht, wann sie ihr Kind geboren hat, denn die Uhr hatte man ihr abgenommen und halb von Sinnen vor Entsetzen, Angst und Schmerzen war ihr die Nacht nur eine einzige, nicht endende Folter. Sie schrie laut um Hilfe, schlug mit ihren kleinen Fäusten gegen die Tür, als sie sich so von Gott und den Menschen verlassen fühlte und ihre Stunde kommen sah. Aber keine Hilfe kam.«

»Einen Augenblick«, unterbrach Tilton sie. »Das Kind ist doch erst heute morgen hier im Hospital geboren.«

Die Frau sah ihn mit weitgeöffneten Augen fragend an.

»Hier im Hospital?« wiederholte sie, und dann schrie sie plötzlich in ihrer Nervenreizung auf. »In der Gefängniszelle ist es geboren, in dem Loche, wo man es wagt, eine Frau von guter Herkunft, die ihrer schwersten Stunde entgegensieht, einzusperren!«

»Der Sheriff sagte mir aber doch, es sei hier geboren.«

»Er lügt!« schrie sie. »Alle lügen sie. Sie behaupten, sie hätten den Zustand meiner Tochter nicht gekannt. Sie müßten keine Augen im Kopfe gehabt haben, wenn das wahr wäre, und es ist ihnen von Sue und ihrem Mann mehr als ein dutzendmal gesagt worden, aber niemand hat das auch nur der Beachtung für wert gefunden. Jetzt fürchten sie sich vor dem Skandal, den sie in den Zeitungen kommen sehen. In der Zelle ist es geboren, in einem Loche, zu schlecht für Hunde, und meine Tochter hat dagelegen, die ganze lange Nacht, in ihrem Blute, mit der Leiche und dem Schmutz. Und man muß noch sagen, Gott sei Dank, daß es tot war, denn es hätte mit der Schande, in der Gefängniszelle geboren zu sein, durch das Leben gehen müssen und meine Tochter wäre nicht imstande gewesen, es auch nur ein einzigesmal anzusehen, ohne an ihre eigene Schande erinnert zu werden. Sie schrie und jammerte, aber es war niemand da, der sie gehört hätte, ausgenommen eine Anzahl Unglücklicher, eingepfercht in Zellen, drei Mann in einer, die für einen einzigen zu klein ist. Der Auswurf der Menschheit, die meisten von ihnen betrunken, kokainvergiftet, im Delirium – lachend, schreiend oder nutzlose, verspätete Tränen vergießend.«

»Ist denn keine Matron im Gefängnis?«

»Gewiß ist eine da. Eine furchtbar vornehme Dame, wie meine Tochter sagt, mit vielen Freunden. Viele von ihnen sind einflußreiche lokale Politiker. Sie können von einer so vornehmen Person nicht verlangen, daß sie die Nacht über in einem solchen Loche bleibt. Dafür ist ja schon der Tag zu lang. Niemand kann auch nur eine Stunde in solcher Umgebung zubringen, ohne die Erinnerung daran wie ein Brandmal durch das Leben zu schleppen. Und Sue war immer ein so gutes Mädchen. Ich werde Ihnen ihren Mädchennamen nicht nennen, sie hat es mir verboten. Wir sind eine achtbare Familie und es ist genug, wenn die Schande auf einem Namen lastet. Ich habe noch mehr Töchter. Sie sind alle gute, anständige Mädchen, aber Sue war die beste von allen. Solch ein ruhiges, verständiges kleines Ding. Und sie liebt ihren Mann und die Kinder so. Sie fühlt sich etwas besser jetzt, aber sie ist ganz erschöpft von der fürchterlichen Nacht. Vielleicht kann sie schlafen. Ich habe ihren Mann angerufen und ihn beruhigt. Jetzt will ich nach dem Gefängnis gehen und mir die Zelle ansehen, in der man sie festgehalten hat. Wollen Sie mit mir gehen?«

»Sofort. Geben Sie mir nur zehn Minuten Zeit, daß ich mit dem Editor der Tribune spreche. Und noch eins. Wenn Sie ein anderer Reporter zu sehen verlangt, schweigen Sie über alles, wir müssen die Sache für die Abendnummer allein haben.«


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