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17.

Kurz vor acht Uhr, denn er wollte unter allen Umständen vor Miß Carranza zur Stelle sein, betrat er die weite Vorhalle des Lokals, in der in bequemen Klubsesseln Gäste saßen, teils zum Dinner angekleidet, teils in gewöhnlicher Straßenkleidung, denn es herrschte kein Zwang in dieser Beziehung.

Nachdem er Hut und Mantel in der Garderobe abgegeben, wählte er sich selbst einen Sitz und begann sich interessiert umzuschauen. Das Gehen und Kommen von Gästen, das um diese Stunde besonders lebhaft war, fesselte ihn. Zwischen ihnen wanden sich geschmeidig uniformierte Pagen hindurch und Manager in tadellosen Cutawayanzügen wurden sichtbar, Auskunft erteilend, wo sie verlangt wurde. Durch die offenstehenden großen Flügeltüren hindurch sah man im Speisesaale weißjackige Kellner, Tabletts mit Speisen auf den hocherhobenen Händen tragend, sich gewandt zwischen den Tischen hindurchschlängelnd, und aus der Tiefe des Saales klangen die Töne eines kleinen Orchesters.

Er steckte sich eine Zigarette an und bereitete sich auf ein längeres Warten vor. Seine Erfahrungen mit Damen hatten ihn das als unvermeidlich ansehen lassen. Noch war er aber nicht halb mit seiner Zigarette zu Ende, als er die Erwartete durch das große Eingangsportal treten sah. Er warf seine Zigarette fort, sprang in einer Erregung, die er sich nicht erklären konnte, auf seine Füße und eilte ihr entgegen.

Ein einziger Blick in ihr Gesicht verriet ihm, daß er hier Dolores Carranza vor sich sah. Mit einem Male kam ihm ihr Bild, das bisher nur undeutlich in seinem Gedächtnis gelebt hatte, wieder klar in die Erinnerung. Das war nicht Ramona Barranca.

Die übermäßige Bemalung ihres Gesichts hatte ihn an jenem Abend in dem Speakeasy getäuscht. Jetzt war sie frei davon und er wußte, daß sie Maske gewesen war, Maske, wie wahrscheinlich ihr ganzes Auftreten dort. Er hätte niemals geglaubt, daß eine Bemalung des Gesichts so entstellen, fast verrohen könnte. Denn was es jetzt unter dem kleinen, geschmackvollen Hute zeigte, mit den dunklen, violetten Augen, in denen etwas wie eine geheime Tragik lebte, überschattet von feingezeichneten Brauen, denen ein leiser Schimmer von Rot die Härte völlig schwarzer Brauen nahm – das war etwas anderes, Schöneres, war das, was er in seiner Erinnerung an jenen Abend in San Franzisko aufbewahrt hatte, traumhaft, visionär, denn es hatte niemals bestimmte, scharf umrissene Gestalt angenommen.

Sie trug einen dunklen Mantel, den sie aber bereits aufgeknöpft hatte, als sie eintrat. Unter diesem wurde ein rosafarbenes Kleid, der obere Teil gemustert, der untere einfarbig, sichtbar. Es hielt ungefähr die Mitte zwischen Abend- und Straßenkleid, hatte am Halse nur einen kurzen Ausschnitt und lief unten glockenförmig in spitze Enden aus. Hellfarbige seidene Strümpfe, schwarze Lackschuhe und eine weiße Boa von Polarfuchs, die lose über die Schultern hing, vervollständigten die Kleidung.

Ihre Lippen teilten sich zu einem leichten Lächeln, als sie Tilton begrüßte und ihm ihre kleine behandschuhte Hand reichte, deren Druck ein prickelndes Gefühl durch seine Nerven sandte.

Er geleitete sie nach der Garderobe, wo ein Mädchen in einfachem schwarzem Kleide mit weißem Tüllhäubchen auf dem dunklen Haar ihr die Überkleidung abnahm.

»Sie sind sehr pünktlich, ich hatte mich schon auf ein langes Warten vorbereitet«, sagte er, um nur überhaupt etwas zu sagen, denn er vermißte im Augenblick ganz seine sonstige Sicherheit.

»Ja«, entgegnete sie mit einem Anflug von Scherz. »Das ist aber leider keine Gewohnheit von mir. Ich bin darin nicht besser als der übrige weibliche Teil der Menschheit. Nur – heute abend war es etwas anderes.«

Er stellte keine Frage, sondern geleitete sie nach dem Speisesaal, wo ein schwarzgekleideter Oberkellner ihnen mehrere Tische zur Wahl stellte.

Sie wählten einen Tisch ziemlich abseits vom Orchester, das aus fünf Mann bestand, um nicht zu sehr in ihrem Gespräche gestört zu werden, und Tilton bestellte nach mehrfacher Befragung seiner Begleiterin das Essen.

»Well, Mr. Tilton«, sagte sie, als ein anderer Kellner ihre Wünsche aufgeschrieben und sich entfernt hatte. »Nun lassen Sie uns heute mal gegen alle Formen verstoßen und nicht erst bis zum Ende der Mahlzeit warten, bevor Sie mir sagen, wie Sie mich erkannt haben. Das ist mir wichtiger als das Essen.«

»Ich begreife das«, antwortete Tilton, indem er sein Mundtuch auseinanderfaltete und über seine Knie breitete, denn der Kellner kam eben wieder mit der Suppe heran. »Dinge, wie wir sie miteinander zu besprechen haben, schiebt man nicht gern auf.«

»Eine Frage noch vorher. Haben Sie mich damals in dem Restaurant erkannt?«

»Nein«, bekannte er offen. »Mir fiel Ihre ungemeine Ähnlichkeit oder was ich dafür hielt, mit Dolores Carranza auf, aber Ihre Gesichtsbemalung, der Name Ramona Barranca, Ihr Auftreten auf der Bühne und nicht zum wenigsten der Dialekt, in dem Sie sangen, täuschten mich ganz und gar. Und noch etwas –«

Er zögerte.

»Was?« drängte sie.

»Well, soll ich es Ihnen offen sagen? Die Unwahrscheinlichkeit, daß Dolores Carranza, ein Mädchen aus bester Familie und reich, wie ich – fürchte, als Tänzerin in einem Speakeasy aufzutreten sich gezwungen sehen sollte.«

»Warum fahren Sie nicht fort? Sie sind doch noch nicht zu Ende.«

»N–ein.«

»Soll ich Ihnen helfen? Gut. Sie fanden es sonderbar, daß Dolores Carranza, das, wie Sie – fürchten, reiche Mädchen aus bester Familie, die Freundin eines Verbrechers, wie Piggy Donnovan, sein könnte? Eines Menschen, mit den niedrigsten, rein tierischen Instinkten, der in einer ganz anderen Welt lebt, nicht nur äußerlich, sondern auch in einer anderen Gefühls- und Anschauungswelt. Eines Menschen mit armseligster Schulbildung, häßlich, brutal und roh. War es das?«

»Ja, das war es, wenn Sie es doch hören wollen. Es war ein Widerspruch, der sich nur löste, indem ich Ramona Barranca – für Ramona Barranca hielt. Und selbst dann noch nicht ganz. Welche unglaubliche Geschmacksverirrung selbst für ein Mädchen wie sie, so herausragend aus der ganzen jammervollen Umgebung. Selbst für Ramona Barranca mußte ein besonderer Grund vorliegen, um ihr Verhalten zu erklären.«

»Selbst für sie«, wiederholte Dolores nachdenklich, indem sie ihre violetten Augen auf ihrem Gegenüber ruhen ließ. »Daß für mich ein solcher Grund vorliegen könnte, hielten Sie für ausgeschlossen?«

»Ganz und gar. Wie sollte ein reiches Mädchen aus San Franzisko dazu kommen, sich in einem Lokale hier in Chikago, das sich nur in seiner Ausstattung von der schlimmsten Spelunke unterscheidet, als Tänzerin ihr Brot zu verdienen und sich unter Dirnen und Verbrecher zu mischen?«

»Ja, wie sollte sie?« gab sie in einem Tone zurück, in dem etwas wie Spott lag. »Sie haben wohl niemals Stevensons ›Mr. Jekyll and Mr. Hyde‹ gelesen? Und auch niemals gehört, daß ein Mensch aus zwei Persönlichkeiten besteht, von denen die eine meist unterdrückt wird, oder sich doch nur im geheimen ausleben darf? Es soll Staatsanwälte gegeben haben, die, nachdem sie am Tage streng ihre Pflicht getan hatten, abends eine Veränderung ihrer Bewußtseinsform erlitten und mit Verbrecherbanden auf Raub ausgingen. Und daß reiche Mädchen, übersättigt von Luxus und Eleganz, diese am Abend abwarfen wie einen nassen Mantel, um in die Unterwelt einzutauchen und in ihr verfeinertes Tagesleben durch lasterhaftes Nachtleben einen Reiz zu bringen –«

»Oder mit ihrem Kraftwagenführer durchzugehen«, warf Tilton lachend ein.

»Auch das«, gab Dolores zu. »Es ist der Reiz des Abenteuerlichen. Sehnen wir uns denn nicht alle nach Abenteuern? Halten wir nicht alle unser Leben, wie immer wir es auch leben, für zu einförmig und verlangen nach dem Gegensatz?«

»Gewiß«, stimmte Tilton bei. »Aber nicht alle unsere Neigungen und Wünsche sind gesund und es sind immer nur perverse Personen, die ihnen schrankenlos nachgeben.«

»Und von solcher Perversität halten Sie mich frei?«

»Ganz gewiß.«

Sie schob ihre Hand über den Tisch und legte sie auf die seine.

»Ich danke Ihnen, Mr. Tilton«, sagte sie einfach. »Sie haben gegen allen Augenschein doch an meine Anständigkeit geglaubt. Ich werde Ihnen erklären, warum Sie mich in dieser Umgebung und in der Gesellschaft dieses Menschen fanden. Erzählen Sie mir aber erst von San Franzisko. Sie sagten, Sie hätten mir wichtige Mitteilungen zu machen.«

»Das habe ich auch und leider recht beunruhigende. Beantworten Sie mir erst noch eine Frage: haben Sie mich an jenem Abend erkannt?«

»Sofort. Sie hatten Ihr Gesicht ja nicht bemalt wie ich«, antwortete sie lächelnd.

»Sie erinnerten sich meiner also? Das ist mehr, als ich zu hoffen gewagt hatte.«

»Oh, ich habe ein sehr gutes Personengedächtnis«, erklärte sie ihm. »Und Sie waren damals in San Franzisko immerhin für mehrere Stunden mein Tischherr.«

Das erledigte die Sache. Er war wieder einmal voreilig gewesen und hatte Schlüsse gezogen, die sie offenbar zurückzuweisen wünschte.

»Und wie erfuhren Sie, daß ich an der Tribune arbeite?«

»Ich fragte Jim Bossini, den Manager.«

Das mußte noch an dem gleichen Abend, vermutlich nach seinem Weggange geschehen sein. Eine Woche später, nachdem sie von seiner beabsichtigten Ermordung Kenntnis erlangt, hätte sich Jim kaum mehr auf den Mann, nach dem sie fragte, besonnen. Das setzte auf jeden Fall und trotz ihres Versuches, es zu bestreiten, ein gewisses Interesse für ihn voraus, das kaum ausreichend durch den Umstand erklärt wurde, daß er einmal für mehrere Stunden ihr Tischherr gewesen war.

Er erzählte ihr jetzt, wie er sich für verpflichtet gehalten hatte, ihr von dem, was er an jenem Abend von Dreifinger-Jack erfahren, sofort Kenntnis zu geben, was in einem an ihre Adresse in San Franzisko gerichteten Briefe geschehen war. Die weitere Entwicklung der Dinge machte es aber zweifellos, daß dieser in die Hände des Mannes gefallen war, der unter dem dringenden Verdacht der Mitschuld an dem unglücklichen Ende ihres Vaters stand. Alles deute darauf hin, daß dieser Mann ihr Vormund sei, der, wie zu befürchten stand, auch ihr und ihrer Schwester Vermögen leichtsinnig in den bodenlosen Abgrund geworfen habe, in dem er jetzt zu versinken drohe. Sie müsse sofort nach San Franzisko zurückkehren, um zu retten, was noch zu retten sei.

»Ich werde Ihnen die Adresse eines Rechtsanwaltes geben, den ich als zuverlässig kenne«, schloß er, »denn der Anwalt, der mit Ihrem Vormund an der Verwaltung Ihres Vermögens beteiligt war, ist sicher an dessen Verfehlungen mitschuldig, wenn er sich wohl auch gedeckt haben wird. Es müssen sofort Schritte unternommen werden, Beesemyer die Vormundschaft zu entziehen und Rechnungsablegung zu fordern. Das wird nicht schwierig sein, wenn er Ihr Vermögen in seinen Gesellschaften angelegt hat, die jetzt vor dem Zusammenbruch stehen. Hier können Sie ohnehin nicht bleiben, denn Sie sind der Gefahr ausgesetzt, ein Opfer der Gangster zu werden, vielleicht können wir Ihrem Vormund sogar seine Mitschuld an dem Ende Ihres Vaters beweisen. Wir brauchten nur den Brief in die Hände zu bekommen, den Piggy aus San Franzisko erhalten hat. Der Polizeichef hat eine Haussuchung bei ihm und seine Verhaftung angeordnet.«

Sie war blaß geworden bei seiner Mitteilung, jetzt aber bei seiner Erwähnung der Polizei und ihrer Maßnahmen legte sich ein verächtliches Lächeln um ihre Lippen.

»Die Polizei wird weder Piggy noch den Brief finden«, sagte sie. »Sie kennt nur eine Adresse von Piggy, die seinem Verkehr mit der Außenwelt dient. Er hat aber noch zwei oder drei andere, die er geheim hält, von der einen wird er sich für einige Zeit fernhalten, bis die Sache das Ende genommen hat, das man ihr Voraussagen kann. Er ist ein Gangster, und die Polizei, während sie nach außen hin Lärm macht und eine Woche lang jeden Tag seine bevorstehende Verhaftung ankündigt, wird ihn im geheimen schützen und sobald die Sache von einer anderen Sensation abgelöst wird, hört man nichts mehr davon. Und jetzt will ich Ihnen auch sagen, warum ich von San Franzisko plötzlich verschwand und bald darauf als Ramona Barranca hier wieder auftauchte. Es war mir bekannt geworden, daß Piggy und sein Gang meinen Vater entführt und dann getötet hatten. Aber zu einer Verurteilung waren direkte Zeugen erforderlich. Die Polizei würde sie nicht herbeischaffen, es war aber vielleicht möglich, solche zu entdecken, wenn ich mich selbst in die Höhle des Löwen begab und mich mit ihm und seinen Leuten bekannt machte. Wenn ich das tat, durfte niemand in San Franzisko etwas davon wissen, denn ich hatte Beesemyer von vornherein im Verdacht. Deshalb verschwand ich spurlos und plötzlich. Ein Detektivbüro hatte mir die Lokale genannt, in denen Piggy verkehrte, es war aber klar, daß nur eine ganz Vertraute irgendetwas entdecken konnte. Die meiste Aussicht bestand für ein junges Mädchen, wenn es ihr gelang, Piggy in ihre Netze zu ziehen. Ich war entschlossen, alles und jedes zu tun, um die Mörder meines Vaters dem Henker zu überliefern, denn ich fühlte, daß ich das seinem Andenken schuldig war.«

Sie unterbrach ihren Bericht eine Weile, denn der Kellner brachte das Eis als letzten Gang des Dinners und nahm das leere Geschirr vom Tische fort.

Dann sprach sie weiter.

»Well, mit Hilfe eines Theateragenten, den ich gut dafür bezahlte, gelang es mir, in dem Speakeasy, wo Sie mich gesehen haben, als Sängerin und Tänzerin anzukommen. Ich hatte in beiden Fertigkeiten – oder soll ich sagen – Künsten Unterricht gehabt und für die spanischen Tänze vielleicht sogar eine gewisse Veranlagung. Auf jeden Fall war das, was ich leistete, für die Ansprüche dieses Lokals noch viel zu gut. Gerade deswegen glaube ich aber, daß ich meinen Platz nicht hätte halten können, wenigstens nicht über ein paar Tage hinaus. Denn niemand sucht dort Kunst und wünscht sie vielleicht nicht einmal. Der grobe Sinnenreiz – das ist es, was auf das Publikum derartiger Lokale immer am meisten wirkt.«

»Und doch waren Sie eine Attraktion, wie es die Artisten nennen«, bemerkte Tilton. »An dem Abend, an dem ich Sie sah, errangen Sie doch stürmischen Beifall.«

»Das ist das merkwürdige, das ich noch immer nicht verstehen kann«, erwiderte sie nachdenklich. »Ich glaube, es rührte daher, daß ich mal etwas anderes war, ein neuer Typ für das Lokal, der Typ der echten Südländerin. Sie brauchen nur anders zu sein als die übrigen, so ist Ihr Erfolg schon zur Hälfte gesichert. Werden Sie mich für eitel halten, wenn ich von Erfolg spreche?«

Sie blickte fragend zu ihm auf.

»Nein«, entgegnete er mit Überzeugung. »Nicht in einem solchen Lokale.«

»Das ist nur eine sehr bedingte Anerkennung. Ganz sprechen Sie mich also von Eitelkeit nicht frei?«

»Niemand ist frei davon. Es wäre schlimm um die Welt und die Menschen bestellt, wenn es anders wäre. Nur die Übertreibung wirkt abgeschmackt und davon spreche ich Sie frei.«

»Danke. Es war jedenfalls eine große Erleichterung für mich, daß ich gefiel. Ich hatte schon gefürchtet, daß Jim Bossini mir nach ein paar Tagen sagen würde, daß ich in seinem Lokal nicht länger auftreten könne. Damit wäre mein ganzer Plan gescheitert gewesen. Ich hätte wohl ein anderes Lokal gefunden, in dem Piggy verkehrte, aber ich hätte es dort mit dem gleichen Publikum zu tun gehabt und wäre auch dort nach ein paar Tagen unmöglich gewesen. Es waren aber gerade eine Anzahl Gäste, auf die Jim besonderen Wert legte, die sich für mich einsetzten. Nun handelte es sich nur noch darum, Piggy, oder doch zum mindesten einen seiner Leute für mich zu interessieren. Wenn mir das nicht gelang, mußte ich andere Wege finden, zum Ziele zu kommen. Aber meine Aufgabe im Stich zu lassen und unverrichteter Dinge wieder nach San Franzisko zurückzukehren, daran dachte ich keinen Augenblick. Ich hatte mir für den Notfall schon einen Plan ausgedacht. Jim Bossini begann, mir Aufmerksamkeiten zu erweisen, und ich erwog die Möglichkeit, ihn zu benützen, die nötigen Beweise gegen Piggy in die Hände zu bekommen. Ihm, dem Vertrauten aller Gangster, würde das nicht schwer fallen.«

»Aber Piggy ›fiel für Sie‹, wie man wohl in jenen Kreisen sagt. Ich hatte Gelegenheit, mich an jenem Abend davon zu überzeugen.«

»Ja, er fiel für mich. Als Jim Bossini das wahrnahm, änderte er sein Verhalten. Solche Dinge sind bei ihm Geschäftssache. Er blieb freundlich, wie von Anfang an, aber er überließ Piggy uneingeschränkt das Feld. Piggy hatte seine Moll. – Sie sehen, die Umgebung färbt ab und ich kenne den Slang der Unterwelt. Sie war ein kräftiges Mädchen von vollen Formen, etwas zu dick, ja, entschieden zu dick, aber für den Geschmack solcher Leute das Vollendetste, das es geben konnte. Sie kaute Gummi, rauchte Zigaretten und betrank sich, sobald sich ihr Gelegenheit dazu bot. Sie tut mir leid, denn sie lebte ihr Leben, wie sie es verstand und kannte. Und Piggy mochte nicht sehr rücksichtsvoll gewesen sein, als er sie fallen ließ, um die Sonne seiner Huld auf den neuen Star in dem Speakeasy scheinen zu lassen. An Rücksichtslosigkeit mochte sie freilich gewöhnt sein und sie schmerzte sie wahrscheinlich nicht so sehr wie der Umstand, daß sie nun nicht mehr die Geliebte eines berühmten Gangsters war, der in der Unterwelt als großer Mann galt, vielleicht hatte sie ihn auch wirklich geliebt, der Geschmack solcher Mädchen erhebt sich ja niemals über die Verhältnisse, in denen sie leben. Auf jeden Fall haßte sie mich und, was noch schlimmer war, mißtraute mir. Ich mußte außerordentlich vorsichtig sein und jeden Augenblick an die Rolle denken, die ich spielte.«

Der Kellner brachte den Kaffee und Tilton zündete sich eine Zigarette an. Dolores hatte abgelehnt.

»Ich bin keine Raucherin«, sagte sie. »Ich habe es tun müssen, wenn ich mit Piggy zusammen war, es gehörte zu meiner Rolle, aber ich finde, wie so viele Mädchen, die es aber trotzdem tun, weil sie es für modern halten, keinen Genuß daran. Sie glaubten nicht, was ich in jenen Monaten gelitten habe. Ich konnte es nicht über mich bringen, ihm auch nur die kleinste Zärtlichkeit zu gestatten, selbst wenn meine ganze Aufgabe dadurch in Frage gestellt worden wäre. Hier war mein Gefühl als Mädchen und mein Gefühl dem Mörder meines Vaters gegenüber stärker als mein Verstand. Er hatte wohl gedacht, daß ich ihm zufallen würde wie eine reife Orange. Bisher war er das wahrscheinlich von den Mädchen so gewöhnt und ich konnte ihn von Zudringlichkeiten nur dadurch abhalten, daß ich ihm erklärte, ich würde nur meinem Manne angehören, überrascht es Sie, wenn ich von so etwas spreche? Vergessen Sie nicht, daß ich monatelang in der Hölle gelebt habe.«

»Nein, ich gehöre zur modernen Jugend«, antwortete Tilton lächelnd.

»Well«, fuhr sie fort, »Piggy verstand das nicht. Für ihn war es eine Marotte. Aber sie war nun einmal da. Und merkwürdigerweise reizte ihn das noch mehr. Er sprach auch von Heirat. Warum nicht? Wenn ein Mädchen durchaus darauf besteht, geheiratet zu werden, warum soll man das nicht tun? Eine Heirat ist doch nur bindend für den, der sich dadurch binden läßt. Nicht für einen Mann wie Piggy. Ich weiß nicht, ob das genau sein Gedankengang war, aber ich nehme es an. Well, weiter ist ja kaum etwas zu erzählen. Bis gestern. Da konnte ich sehen, daß er unruhig war. Ich befand mich bei ihm in seinem Zimmer. Er hatte eine Flasche Whisky vor sich stehen, trank viel und ich sah darauf, daß er noch mehr trank. Irgendetwas mußte vorgefallen sein. Er fluchte manchmal über Dreifinger-Jack und Verräter, die unschädlich gemacht werden müßten. Durch geschickte Fragen lockte ich aus ihm heraus, daß er einen Brief aus San Franziska erhalten hatte, in dem ihm jemand mitteilte, Sie hätten ihn des Mordes an Carranza beschuldigt. Er war sicher, daß Sie das nur von Dreifinger-Jack gehört haben könnten, der mehr Unsinn schwatze als für ihn gut sei. Das würde jetzt aber aufhören. Natürlich kam das alles nur ruckweise heraus, denn ich mußte äußerst vorsichtig sein in meinen Fragen. Aber er hatte sich zuletzt doch verraten. Das ist so ziemlich alles, was ich Ihnen sagen kann. – Sie meinten, der Brief aus Kalifornien, den die Polizei sucht und nicht finden wird, könnte meinen Vormund überführen. Er ist nutzlos als Beweisstück, Sie unterschätzen seine Intelligenz. Hier ist er.«

Sie öffnete das Täschchen, das neben ihr auf dem Tische lag und entnahm ihm ein zusammengefaltetes Stück Papier, das sie Tilton überreichte.

Er nahm es in größter Überraschung und entfaltete es, Es war ein Brief oder eine Mitteilung in Schreibmaschinenschrift. Datum, Ort, Überschrift und Unterschrift fehlten. Der übrige Text lautete:

»Mr. Piggy Donnovan wird darauf aufmerksam gemacht, daß ein gewisser Norman Tilton, Reporter der Chikago Tribune, die Verleumdung über ihn verbreitet, daß er der Mörder des Mr. Carranza sei.«

Das war alles.

»Sehen Sie jetzt, wie schwer es ist, den Mann zu überführen?« fragte Dolores.

Tilton nickte und dachte nach. Dolores hatte recht, der Brief war kein Beweisstück, denn es würde unmöglich sein, den Schreiber festzustellen.

»Piggy wird den Brief vermissen und auf Sie verdacht haben. Das ist ein Grund mehr für Sie, morgen abzureisen. Sie können jetzt hier ohnehin nichts weiter tun. Wenn es Sie beruhigt, will ich Ihnen versprechen, alle Hebel in Bewegung zu setzen, ihn als den Mörder Ihres Vaters zu entlarven, schon um meiner eigenen Sicherheit willen, denn so lange er frei herumläuft, bin ich ein schlechtes Risiko für eine Lebensversicherung.«

Dolores überlegte eine Weile.

Noch ehe sie zu einem Entschluß gekommen war, fragte Tilton: »Darf ich Sie morgen zur Bahn bringen? Denn ich werde nicht eher ruhig sein, als bis ich Sie sicher im Zuge nach San Franzisko weiß. Und verzeihen Sie noch eine Frage: haben Sie genügend Mittel?«

»Dazu reicht's noch«, entgegnete sie. »Ich hatte von San Franzisko eine Summe mitgenommen, von der ich glaubte, daß sie für lange Zeit reichen würde. Sie war aber schneller aufgebraucht, als ich erwartet hatte und seit der Zeit habe ich zum ersten Male von dem Gelde gelebt, das ich mir selbst verdiente. Es war eine neue Erfahrung und ich fand sie ganz angenehm. Ich mußte mir viele Wünsche versagen. Das hat auch seinen Reiz und machte das, was ich mir kaufen konnte, wertvoller.«

»Wo wohnen Sie?«

»In der Vorstadt. Ich mußte ganz so leben, wie das zu meiner Rolle gehörte, denn ich konnte nicht wissen, ob ich nicht beobachtet würde. Übrigens, das bringt mich zu dem, was ich Ihnen sagen wollte. Ich brauche Ihren Rat und Ihre Hilfe. Nicht für mich, aber für meine Wirtin, die von der Polizei schändlich behandelt worden ist. Hören Sie zu.«

Und sie erzählte Tilton einen Vorfall von polizeilicher Willkür und Roheit, der allein schon geeignet gewesen wäre, ihn den Segen der Prohibition anzweifeln zu lassen.


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