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22.

Dolores Carranza befand sich allein im Hause. Das Packen ihrer Koffer war beendet und sie hatte an jedem einen Zettel mit der Aufschrift ›Dolores Carranza. San Franzisko‹ befestigt. Jetzt wartete sie auf die Expreß-Gesellschaft, die sie abholen sollte.

Sie befand sich in einer merkwürdig aufgeräumten Stimmung, die sie sich nicht erklären konnte. Sie war sicher, daß es nicht die Aussicht auf die Heimreise war, die sie in ihr erweckt hatte, denn die machte ihr mehr Sorgen, als daß sie ihr Befriedigung gewährte. Sie mußte mit der Möglichkeit, ja Wahrscheinlichkeit rechnen, daß ihr und ihrer Schwester Vermögen zum größten Teile verloren war. Ihr Vormund Bessemyer, daran zweifelte sie jetzt nicht länger, war ein Großverbrecher, der vor nichts zurückschreckte. Er hätte sich nicht zum Mitschuldigen eines Mordes gemacht, wenn er eine ehrliche Verwaltung ihres Vermögens beabsichtigt hätte. Tilton hatte recht, sie mußte versuchen zu retten, was noch zu retten möglich war. Die Beamten des Vormundschaftsrichters konnte er leicht täuschen. Denen legte er mit seinen jährlichen Abrechnungen die Share-Certificate in seinen Gesellschaften vor, die aber in dem Augenblicke, wo seine Kartenhäuser ins Wanken kamen und zusammenzustürzen drohten, vermutlich nicht mehr das Papier wert waren, auf dem sie bescheinigt standen. Sie mußte unverzüglich nach San Franzisko zurückreisen.

Tilton –

Er hatte gefürchtet, sie sei ein reiches Mädchen. Der Sinn dieser Bemerkung war ihr nicht entgangen; es gab nur eine Auslegung dafür.

Well, es schien ihr, als ob sie einer Entwicklung der Dinge entgegenreiste, die ihn das nicht mehr fürchten zu lassen brauchten.

Der vergangene Abend in seiner Gesellschaft hatte ihr ganzes Denken umgewandelt und sie wunderte sich darüber, daß ihr der drohende Verlust ihres Vermögens nicht größere Sorge bereitete.

Ein paarmal hatte sie aus dem Fenster gesehen. Das zweitemal war es ihr aufgefallen, daß zwei Männer, Arbeiter offenbar, in der wenig belebten Straße vor ihrem Hause umherlungerten.

Es war ihr deshalb aufgefallen, weil sie sie schon das erstemal gesehen hatte. Auf wen konnten sie hier warten?

Es erregte jetzt ihren Argwohn, denn aus ihrem Verkehr mit der Unterwelt in dem Speakeasy hatte sie gelernt, daß alles Auffällige und Ungewöhnliche fast niemals Zufall, sondern immer verdächtig und deshalb wert ist, näher geprüft zu werden.

Sie dachte an Detektive. Aber was sollten Detektive hier tun, wo der Fall der Mrs. Brown doch zu Ende war. Glaubten sie, sie könnten noch Beweise erlangen, um das Verhalten der Polizei nachträglich zu rechtfertigen?

Sie wurde in ihrem Nachdenken darüber unterbrochen durch das heranrasseln des Expreßwagens.

Gleich darauf ertönte die Klingel an der Haustür und als sie öffnete, sah sie den Wagenführer vor sich, der nach den Koffern fragte. Sie bezeichnete sie ihm und er lud sich den einen auf die Schultern, trug ihn die Treppe hinunter und stellte ihn auf den Wagen. Während er in das Haus zurückkehrte, um den zweiten Koffer zu holen, zeigte ihr ein Blick durch das Fenster, daß der eine der beiden verdächtigen Männer an den Wagen herantrat und den Koffer musterte. Er tat es ganz wie aus müßiger Neugier und las, ebenfalls nur wie jemand, der für die gleichgültigsten Dinge Interesse zeigt, wenn er auf irgendwas oder irgendwen wartet, den Zettel mit der Aufschrift »Dolores Carranza. San Franzisko.«

Dann schlenderte er weiter, kehrte um und schritt an dem anderen Manne, der ihr aufgefallen war, vorüber. Anscheinend kannten sie sich nicht, aber eine fast unmerkliche Bemerkung seines Kopfes überzeugte Dolores, daß er diesem im Vorbeigehen etwas zuflüsterte. Der andere Mann blieb noch eine Weile stehen, ging dann, als ob er unnützen Wartens überdrüssig sei, die Straße hinunter und verschwand um die nächste Ecke.

Das machte sie sicher, daß die beiden Männer Detektive waren.

Oder vielleicht Leute von Piggy Donnovan?

Der Gedanke verursachte ihr Herzklopfen und beunruhigte sie. Wenn sich der letzte Verdacht als richtig erwies, waren die Folgen nicht auszudenken. Der Mann hatte an ihrem Koffer den Zettel mit der Aufschrift »Dolores Carranza. San Franzisko« gelesen. Piggy würde dann sofort davon in Kenntnis gesetzt werden, daß sie ihn die ganze Zeit über getäuscht hatte, und konnte nicht einen Augenblick über den Grund dieser Täuschung im Zweifel sein.

Und sie war allein im Hause.

Ob sie es nicht lieber sofort verlassen sollte, ohne erst die Heimkunft Mr. Browns abzuwarten?

Durch die Gardinen gedeckt, blickte sie aus dem Fenster. Die beiden Männer waren nicht mehr zu sehen.

Ein Zeitungsjunge kam die Straße entlang und rief die Tribune aus. Sie rief ihn an die Tür und kaufte sich eine Nummer, vielleicht gab sie sich ganz unnützen Befürchtungen hin. Die Männer waren höchst wahrscheinlich nur gewöhnliche Müßiggänger, aber sie war unter dem Leben, das sie in den letzten Monaten geführt hatte, nervös und mißtrauisch geworden, selbst ganz harmlosen Dingen gegenüber.

Sich in einen Stuhl in der Wohnstube sinken lassend, faltete sie die Zeitung auseinander und begann zu lesen. Sie brauchte nach dem Bericht Tiltons nicht zu suchen, er sprang ihr mit den großen, fetten Buchstaben der Überschrift sofort ins Auge.

Als ihre Blicke über die Spalten glitten in einer Erregung, die nicht mehr Furcht war, denn sie hatte sie im Augenblick fast vergessen, aber doch in einer Erregung, wie sie sie noch nie beim Lesen eines Zeitungsartikels empfunden, wurde sie sich bewußt, daß Tilton damit eine Arbeit geliefert hatte, die höchstes journalistisches Können offenbarte. Es war ihr fast, als habe sie den Artikel selbst geschrieben, denn nicht einmal am Vormittag, als ihr die Mutter ihrer Wirtin von der Behandlung ihrer Tochter im Gefängnis Mitteilung gemacht hatte, war sie so aufgeregt gewesen. Tilton hatte es verstanden, die Anteilnahme der Leser an dem, was der jungen Frau widerfahren war, aufzuwühlen, und sie war sicher, daß der Bericht im ganzen Lande das größte Aufsehen erregen würde. Es war ein Scoop für die Zeitung, um den alle andern Blätter sie beneiden würden.

Nichts hatte ihr seit langer Zeit so viel Befriedigung gewährt als dieser Artikel, obwohl sie sich den Grund dafür nicht erklären konnte. Er hatte Mrs. Brown eine Genugtuung verschafft, die ihr das Mitgefühl aller anständigen Leute in Amerika sichern mußte, ausgenommen vielleicht das der eingefleischten Prohibitionisten, die in ihrer Zeitung die Agenten auffordern, bei dem geringsten Widerstande verdächtiger zu schießen, um zu töten. Morgen würde die gesamte Presse des Landes den Artikel nachdrucken oder doch wenigstens Auszüge daraus bringen und den Vorfall in eigenen Berichten besprechen. Sie wurde plötzlich aus ihren Gedanken aufgestört durch ein herrisches Klingeln und Donnern an der Haustür.

Einen Augenblick lang glaubte sie, daß es ein Reporter wäre, der infolge des Artikels käme, um weitere Aufklärungen einzuholen, nachdem die Tribune nun einmal den andern Zeitungen zuvorgekommen war. Es war zu erwarten, daß diese innerhalb einer Stunde das Haus, das Gefängnis und das Hospital besuchen würden. Aber sie sind gebildete und höfliche Leute und der Einlaßbegehrende setzte die Klingel an der Haustür mit einer Dreistigkeit in Bewegung, der sich kein Reporter schuldig machen würde.

Wieder mußte sie an die beiden Männer denken, die das Haus beobachtet hatten und noch einmal stellte sie sich die Frage, waren es Detektive oder Leute von Piggy Donnovan?

Ein erneutes ungeduldiges Klingeln ließ sie nach dem ersten Stock hinauf eilen und dort das Fenster aufreißen.

Vor dem Hause sah sie ein Auto. Ein Mann saß am Rade. Ein anderer, ein großer, starker Mann, stand an der Haustür. Er schien ihr bekannt, sie mußte ihn schon irgend einmal gesehen haben, konnte sich aber nicht darauf besinnen, wo das etwa hätte gewesen sein können. Die gebrochene Nase und das wie ein Kopf Blumenkohl verkrüppelte linke Ohr waren ihr aber schon einmal aufgefallen, dessen war sie sicher.

»Was wollen Sie?« fragte sie.

»Sheriff. Aufmachen, wenn die Tür nicht in einer Minute geöffnet ist, trete ich sie ein.«

»Es ist niemand von Browns zu Hause«, rief sie furchterfüllt zurück. »Die Frau ist im Hospital und der Mann auf Arbeit.«

»Ich brauche Browns nicht«, erwiderte der Mann barsch, »habe einen Haftbefehl für Sie, wenn Sie Miß Ramona Barranca sind, oder das Girl, das unter diesem Namen hier bekannt ist.«

Ein Tritt gegen die Tür, der durch das ganze Haus dröhnte, verlieh seinen Worten Nachdruck. Die Gedanken des Mädchens flogen, jagten sich. Sie wußte nicht, was sie tun sollte, und war sich gleichzeitig doch auch bewußt, daß sie nichts tun konnte, daß sie machtlos war. Sie verhaftet! handelte es sich wieder um eine gemeine falsche Anzeige?

Kaum wissend, was sie tat, eilte sie die Treppe hinab, denn die Fußtritte wurden immer heftiger.

Mit zitternden Händen öffnete sie die Tür. Der Mann schob sofort seinen Fuß zwischen sie und die Schwelle und drängte sich hinein.

Sie standen sich gegenüber, Dolores bleich, wie von einem Frost geschüttelt, der Mann mit einem niederträchtigen Grinsen um seine dicken Lippen, das seine gelben Zähne bloßlegte.

»Was wollen Sie von mir?« stammelte sie und ihre Zähne schlugen dabei gegeneinander.

»Habe einen Verhaftsbefehl gegen Sie. Sie müssen mit mir kommen.«

»Wessen beschuldigt man mich?«

»Das werden Sie auf dem Büro hören. Aber im Vertrauen will ich Ihnen sagen, 's ist wegen Whiskyverkauf. Sie sollen Mrs. Brown geholfen haben.«

»Das ist eine infame Lüge!« stieß sie hervor.

»Well, ich hoffe, daß es so ist. Das wird sich ja herausstellen. Und dann können Sie wieder gehen. Also ziehen Sie sich rasch an. Oder wollen Sie mit mir gehen, wie Sie sind?«

Es blieb ihr nichts übrig, als sich dem Zwange zu fügen. Es war ja doch unmöglich, daß man eine solche Beschuldigung gegen sie aufrecht erhalten konnte.

»Ich werde mich sofort fertig machen«, entgegnete sie.

Sie war bereits in ihrer Reisekleidung, hatte nur noch Mantel und Hut anzulegen und eine kleine Tasche mit sich zu nehmen.

»Ich darf doch erst noch einmal telephonieren, um meinen Freunden Bescheid zu sagen?« fragte sie.

»Das können Sie vom Büro aus tun«, war die Antwort und wie in einem Nachgedanken fügte der Mann hinzu: »An wen wollen Sie denn telephonieren?«

»An Mr. Tilton von der Chikago Tribune«.

Er stieß einen scharfen Pfiff zwischen seinen Zähnen hindurch.

»So, das ist Ihr Freund«, sagte er aber nur. »Well, kommen Sie jetzt, wie ich schon sagte, Sie können vom Büro aus telephonieren.«

»Aber das wird zu spät. Mr. Tilton geht um vier Uhr aus der Redaktion fort. Ich habe eine Zusammenkunft mit ihm um fünf Uhr verabredet.«

»Wo denn?« fragte der Mann rasch.

»Ich denke nicht, daß Sie das interessieren kann«, entgegnete sie.

Sie begann jetzt langsam ihre Ruhe wiederzufinden. Die Frage war dreist. Was ging das den Mann an? Auf keinen Fall wollte sie seine Neugier befriedigen, denn es konnte sich hier doch nur um eine absichtliche und durch Meineide gestützte Anklage handeln, und sie wußte nicht, ob man nicht auch etwas mit Mr. Tilton beabsichtigte. Vielleicht aus Rache für seinen Artikel.

»Fertig?« fragte der Mann jetzt barsch. »All right.«

Er faßte sie am Arme und schob sie nach dem Auto, dessen Tür er offengelassen hatte.

Ehe er sie aber noch hineindrängen konnte, erreichte Mr. Brown, von seiner Arbeit kommend, das Haus und sah mit Verwunderung auf die Szene.

»Ich bin verhaftet, Mr. Brown!« brachte Dolores gerade noch fertig, ihm zuzurufen. »Soll mit Ihrer Frau Whisky verkauft haben.«

Weiter kam sie nicht. Der Sheriff schob sie brutal in den Wagen, ließ sich schwer auf den Sitz neben ihr sinken und noch ehe er die Tür hatte schließen können, rollte das Auto, ohne daß der Führer eine Weisung abgewartet hätte, davon.

»So, mein Täubchen«, sagte der Sheriff behaglich, »und jetzt wollen wir schön still sein, denn wenn du noch einen Ton von dir gibst, müßte ich das verhindern.«


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