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25.

Eine halbe Stunde vorher war Piggy Donnovan durch die breite Doppeltür, die innen noch mit schweren Plüschvorhängen verkleidet war, in den Teesalon der Madame Cheiro eingetreten.

Er hatte den Bericht Tiltons in der Tribune gelesen und wenn ihn auch die Behandlung der Mrs. Brown durch die Polizei und im Gefängnis völlig gleichgültig gelassen hatte, so war das viel weniger der Fall mit ihrer Adresse, die darin genannt war. In diesem Hause wohnte doch auch Ramona Barranca. Er kam sofort zu dem Schluß, daß Tilton, der ihm gefährlich war, weil er zu viel wußte, durch das Mädchen, dem Piggy jetzt nicht mehr traute, auf den Vorfall aufmerksam gemacht worden war.

Schlüsse genügen aber einem Gangster nicht; er braucht Gewißheit, soweit sie zu erlangen ist. Irrtümer werden ihm zu oft verhängnisvoll.

So kaufte er sich am nächsten Zeitungsstande die Nachmittagsausgaben der übrigen Zeitungen. Es war, wie er vermutet hatte, keine brachte irgendeine Meldung von dem Vorfalle, ein Beweis, daß die Tribune die Nachricht nicht von einer Agentur, sondern von privater Seite erhalten hatte.

Dann empfing er noch eine Meldung über den Fernsprecher von einem der beiden Männer, die er mit der Bewachung von Ramona Barranca beauftragt hatte. Diese Bewachung war eine notwendige Maßnahme geworden in dem Augenblicke, wo er Mißtrauen gegen sie zu hegen begann. Es gibt Dinge, die sich bei einiger Erfahrung und guter Organisation als Folge gewisser Voraussetzungen beinahe von selbst ergeben und über die man daher nicht erst nachzudenken braucht. So ist es bei der Polizei und so ist es bei den Gangstern, deren Organisationen die Ermordung so vieler ihrer hauptsächlichsten Stützen überlebt haben. Eine Bewachung, sobald man gegen eine Person Mißtrauen hegt, gehört dazu.

Die Meldung besagte, daß Miß Barranca offenbar die Absicht habe, nach San Franziska zu reisen und daß sie sich auf den Adreßzetteln an ihrem Koffer merkwürdigerweise als Dolores Carranza bezeichnet habe.

Das löste ihm alle Rätsel, die sich von Zeit zu Zeit in bezug auf das Mädchen ihm aufgedrängt hatten. Er wußte jetzt, daß sie sich ihm nur genähert, um Beweise gegen ihn für den Mord ihres Vaters zu erlangen, und er, Esel, der er gewesen, hatte stets angenommen, daß seine Stellung in der Unterwelt und die Vorzüge seiner Persönlichkeit so mächtig anziehend auf sie gewirkt hätten.

Er dachte darüber nach, ob er ihr in den Stunden, wo er angetrunken war, vielleicht Mitteilungen gemacht hatte, die er ihr in nüchternem Zustande bestimmt verschwiegen hätte, denn daraus war es doch abgesehen gewesen. Er glaubte nicht, daß es geschehen war, denn dann hätte sie ihn sicher längst der Polizei übergeben.

Vielleicht war das aber geschehen und die Polizei suchte nach ihm? Er hatte nur nichts davon erfahren, weil er seine Stammlokale vermied und sich auch sonst verborgen hielt.

Well, einerlei, sie mußten beide beseitigt werden, sie und Tilton. Aber auf eine Weise, die nicht wie Mord aussehen durfte, denn einen solchen würde man auf jeden Fall mit ihm in Verbindung bringen.

Er gab seine Befehle über den Fernsprecher.

Danach verblieb ihm etwa noch eine Stunde Zeit, bevor sein persönliches Eingreifen in den Gang der Ereignisse nötig sein würde. Zunächst suchte er eine Unterredung mit dem Eigentümer des Hauses, in dem sich der Teesalon der Madame Cheiro mit unentgeltlicher Wahrsagung befand und das in seinem übrigen Teile als Boardinghaus diente. Es bot als solches hauptsächlich Leuten aus der Unterwelt für kürzere oder längere Zeit Aufenthalt, denn sie waren hier gegen einen entsprechenden Preisaufschlag sicher, nicht mit unbequemen Fragen belästigt zu werden.

Eigentümer war der Mann freilich nur dem Namen nach, der wirkliche Besitzer war Piggy Donnovan, der es aber, wie bei verschiedenen seiner Unternehmungen, für besser hielt, diesen Umstand geheim zu halten.

Immerhin, die Unterredung hatte zu einem gegenseitigen vollen Einverständnis geführt und es blieb Piggy noch eine halbe Stunde, bevor seine persönliche Beteiligung an der Angelegenheit erforderlich sein würde.

Die konnte er am besten mit einem Besuche in dem Tee- und Wahrsagesalon hinbringen. Es war nicht das erstemal, daß er ihn aufsuchte. Er lag so günstig für ihn und drängte sich ihm fast auf bei den Geschäften, zu deren Erledigung er oft dieses Haus benützte.

An das Wahrsagen glaubte er nicht oder bildete sich wenigstens ein, nicht daran zu glauben, denn in Wirklichkeit tat er es doch. Bis zu einem Grade mindestens, daß er, wenn ihm ein bedeutendes Ereignis vorausgesagt worden war, wochenlang mit Spannung darauf wartete, ob es auch wirklich eintreten würde. Manchmal ließ er sich sogar dadurch abhalten, etwas zu tun, für das man ihm einen bösen Ausgang prophezeit hatte. Das war seine ›Klugheit‹, mit der er seiner eigenen Ansicht nach verschwenderisch ausgerüstet war. Sie reichte aber nicht so weit, ihn begreifen zu lassen, daß, wenn ihm irgendein Ereignis als bevorstehend angekündigt worden war, es ihm auch vorbestimmt sein mußte. Und wenn es ihm vorbestimmt war, daß es auch eintreten mußte, gleichviel, was er auch tun mochte, es zu vermeiden. Wenn die Ereignisse dagegen planlos und als Ergebnisse augenblicklicher Zufälle eintreten, könnten sie wieder nicht vorausgesagt werden. Niemand kann mit Sicherheit sagen, ob das eine oder andere der Fall ist. Piggy hatte jedenfalls noch nicht darüber nachgedacht. Gescheitere Leute haben es getan, aber es gehört eben zu den Dingen, die unerforschlich sind und unerforschlich bleiben werden.

Das Wahrsagen für Geld ist verboten. Niemand kann indessen etwas dagegen einwenden, daß es unentgeltlich geschieht. Chikago weist daher eine Menge Plätze auf, wo man einen Dollar für eine Tasse Tee und ein Sandwich bezahlt und dafür, meist aus den Teeblättern, die Zukunft enthüllt bekommt. Es sind in ihnen stets eine Unzahl nicht immer hübscher und auch nicht immer junger Damen vorhanden, um die Gäste nicht warten zu lassen. Zu junge und hübsche Damen, sonst recht schätzenswert, würden sie vielleicht nicht an den Ernst der Sache glauben lassen und das muß durchaus angestrebt werden, denn es gibt zu viele Speisehäuser, wo sie Tee und Sandwiches viel billiger bekommen. Die Atmosphäre muß also gewahrt werden. Aus diesem Grunde gehören die Wahrsagerinnen in der Regel auch dem Zigeunerstamme an, entweder tatsächlich oder doch in ihrer Aufmachung.

Von den Gästen wird natürlich erwartet, daß sie den Wahrsagerinnen ein Trinkgeld von wenigstens einem Dollar geben. Für den Tee natürlich und das Sandwich, nicht für das Wahrsagen. Die Zukunftskünderinnen beziehen deshalb auch nur selten ein festes Gehalt für ihre Tätigkeit in diesen Räumen, sondern sind ausschließlich aus dieses Trinkgeld angewiesen.

Als Piggy hier eintrat, fand er sich in einem Raume, der verschwenderisch mit Vorhängen aus gelber und roter japanischer Seide und Abstufungen dieser Farben ausgestattet war, die an den Seiten eine Anzahl lauschiger Nischen bildeten. Die Mitte war mit einem Dutzend Marmortischen und Stühlen besetzt, an denen zwanzig oder noch mehr Gäste, Männer und Frauen, saßen, auffällig und manchmal protzenhaft gekleidet, denen man es ansah, daß sie durchweg den unteren, wenn auch keineswegs ärmeren Massen der Bevölkerung entstammten.

Fünf oder sechs Frauen mit olivenbraunen Gesichtern und in schreiendroten Kleidern saßen zwischen ihnen oder, wenn sie ihre Pflicht getan hatten, an gesonderten Tischen, wo sie sich halblaut unterhielten.

Hinter einem Anrichtetisch neben der Eingangstüre, auf dem eine versilberte Heißwassermaschine und verschiedenes Teegeschirr stand, thronte die Wirtin, etwas verschieden von den Wahrsagerinnen, aber ebenfalls mit phantastischer Eleganz gekleidet.

Ihr Alter war unter dem braungepuderten und geschminkten Gesicht schwer festzustellen, ihre Figur störte aber die Illusion einer modernen Pythia ein wenig, denn sie war viel zu voll dazu.

»Hell, Pig!« rief sie dem Eintretenden entgegen.

»Hello, Marg!« antwortete Piggy und blickte sich nach einem Tische um. »Kannst mir Zuleika schicken, wenn sie gerade frei ist«, setzte er dann hinzu, auf den gewählten Tisch zuschreitend.

Sie gab einem der rotgekleideten Mädchen an einem der leeren Tische einen Wink. Das Mädchen erhob sich, nahm von ihr ein frisch gefülltes Teekännchen und einen Teller mit einem Schinkenbrötchen in Empfang und stellte diese auf den Tisch des neuen Gastes.

Es wurde von Zuleika behauptet, daß sie eine russische Großfürstin sei, die wegen der Revolution aus Rußland geflüchtet war. Das mochte wahr sein oder auch nicht. Auf jeden Fall hatte sie vornehme Gesichtszüge, nicht durch Schminke und Lippenstift entstellt, wie die der anderen, und fein abgestimmte Bewegungen. Auch ihre Aussprache des Englischen verriet deutlich den russischen Akzent und sie sprach es schulgerecht, wie jemand, der es aus Büchern und wissenschaftlich gelernt hat und nicht aus dem Verkehr, besonders mit den unteren, schlechtsprechenden Gesellschaftsschichten. Manchmal schien es ihr auch Mühe zu kosten, den hier oft gebrauchten Slang zu verstehen.

Wenn sie keine Großfürstin war, stammte sie doch sicher aus einer vornehmen russischen Familie.

»Keine Milch?« fragte Piggy, als er auf einem Stuhle an dem Tische Platz genommen.

»Sie können Milch bekommen, wenn Sie das wünschen«, entgegnete sie, indem sie sich ebenfalls an dem Tische niederließ. »Nur kann ich Ihnen dann nicht aus den Teeblättern wahrsagen; ich müßte Karten benützen.«

»Ist das nicht alles eins?« fragte Piggy spöttisch.

»Es ist alles eins«, antwortete sie zu seiner Überraschung vollkommen ernst. »Ob Sie Teeblätter, Kaffeesatz, Karten oder eine Kristallkugel benutzen, das bleibt sich alles gleich. Sie sehen Bilder in der Kristallkugel, oder glauben wenigstens, sie zu sehen, denn in Wirklichkeit sind sie nicht vorhanden und andere würden sie auch nicht wahrnehmen. Es sind nur Dinge, die Ihr Unterbewußtsein wahrnimmt, die sich dort zu Bildern geformt haben. Sie lesen weder aus den Karten, noch aus der Kristallkugel, noch aus den Teeblättern etwas heraus, sondern alles hinein – eben aus dem Unterbewußtsein.«

»Unterbewußtsein? Was ist das?« fragte Piggy, der ihr nicht ganz folgen konnte.

»Es ist die Bewußtseinsform, die hinter unserem Verstande steht. Mit meinem Verstande kann ich Ihnen nicht wahrsagen, der weiß von der Zukunft nichts. Wir haben aber noch ein anderes Bewußtsein, von dem wir nicht viel wissen, aber doch immerhin so viel, daß es nicht an Zeit und Raum gebunden ist, daher uns also Dinge sehen und hören läßt, die sich erst in der Zukunft ereignen. Zugleich können sie, ich meine, unser Verstand und unser Unterbewußtsein, aber nicht arbeiten. Deshalb schalten wir den Verstand aus, indem wir in Teeblätter, Karten oder eine Kristallkugel sehen. Das geschieht nur, um unsere Aufmerksamkeit von den Außendingen abzulenken. Je besser uns das gelingt, um so mehr kann sich das Unterbewußtsein entfalten und dann erhalten wir manchmal überraschende Aufschlüsse über die Zukunft.«

»Dann müßte uns aber doch alles vorbestimmt sein.«

»Gewiß. Oder glauben Sie, daß das, was wir erleben, nur durch plötzliche, planlose Zufälle bestimmt wird? Ich nicht.«

Piggy dachte eine Zeitlang nach, trank dann einen Schluck Tee und sagte:

»All right. Ich weiß nicht, ob ich das ganz verstehe. Auf jeden Fall habe ich noch nicht darüber nachgedacht. Aber hier haben Sie meine Teeblätter. Nun lassen Sie Ihren Verstand wandern, dorthin, wo er Sie nicht mehr stört und geben Sie Ihrem Unterbewußtsein eine freie Bahn.«

Die Wahrsagerin nahm das Kännchen aus dünnem weißem japanischem Porzellan und blickte auf die aufgequollenen Blätter. Sie nahm es offenbar mit ihrem Berufe völlig ernst. Selbst Piggy mit all seinen Zweifeln, den Zweifeln des ungebildeten Mannes, konnte sich dieses Eindrucks nicht erwehren. Um so neugieriger war er, was sie ihm jetzt sagen würde.

Sie sprach lange nicht, sondern starrte mit einer Aufmerksamkeit, die sie ihre Umgebung völlig vergessen ließ, in die Teeblätter.

Piggy wurde schon ungeduldig.

Plötzlich sah er, wie sie sich verfärbte und totenblaß wurde. Ein Zittern lief durch ihren Körper. Sie stieß heftig die Teekanne in die Mitte des Tisches und schaute mit weitgeöffneten, entsetzten Augen auf ihn, als ob sie einen Geist vor sich sähe.

»Ich sage Ihnen nicht wahr!« stieß sie, fast tonlos und mit trockener Stimme hervor, indem sie aufsprang. »Ich schicke Ihnen eine andere.«

»Machen Sie keinen Unsinn!« gebot Piggy in einem Tone, der sich wie ein zwingender Bann auf sie legte. »Bleiben Sie hier und sagen Sie mir, was los ist.«

Das Mädchen schien eine Schwäche in den Beinen zu fühlen, denn sie ließ sich wieder kraftlos in ihren Stuhl sinken.

Piggy war überzeugt, daß sie nicht schauspielerte. Der Schreck aus ihrem Gesicht und in ihrer ganzen Haltung war zu echt dafür.

»Was ist es?« drängte er noch einmal, »haben Sie mir etwas Unangenehmes zu sagen?«

»Etwas Schreckliches!« rang es sich über ihre Lippen.

»Well, was ist es?« wiederholte er. »Sie haben mich jetzt neugierig gemacht und müssen es mir sagen. Ich glaube ja doch nicht daran.«

»Ich kann nicht.«

»Warum können Sie nicht?«

»Weil es zu furchtbar ist.«

»Hören Sie mal, glauben Sie nicht, daß es noch furchtbarer ist, wenn ich von hier fortgehen soll, ohne daß Sie mir's gesagt haben. Ich lache ja doch nur darüber.«

»Ich lache ja doch nur darüber«, hatte er gesagt, aber er sah dabei doch verdammt ernst aus.

»Ich kann nicht.«

Er brachte aus seiner Hosentasche ein dickes Bündel Banknoten zum Vorschein und hob eine Zehndollarnote davon ab. Den Rest steckte er wieder ein.

»Hier, Mädchen, diese Zehndollarnote ist für dich, wenn du es mir sagst. Darauf war es doch nur abgesehen, nicht wahr?«

Sie stieß seine Hand zurück.

»Behalten Sie Ihr Geld. Ich nehme nichts für so etwas. Es würde mir wie Blutgeld in der Tasche brennen. Aber wenn Sie es verlangen, will ich es Ihnen sagen. – Ich sehe Sie als Leiche, mit einer Schußwunde in der Stirn und Blut am Kopfe. Und ein Weib, ein Mädchen, dunkelblond, steht mit einem rauchenden Revolver entgeistert neben Ihnen. – Heute Nacht.«

Sie griff fiebernd nach dem Glase Wasser, das sie Piggy zugleich mit dem Tee gebracht hatte und stürzte es gierig über ihre brennenden Lippen. Dann sprang sie auf, eilte quer durch den Raum und verschwand hinter einem der Seidenvorhänge, der eine Tür verdeckte.

»Hysterisches Weibsbild«, murmelte Piggy, indem er ihr etwas verdutzt nachschaute.

Dann erhob er sich und wandte sich zum Gehen, vergaß aber nicht, einen Dollar für den Tee und das Sandwich vor der Inhaberin des Lokals auf den Anrichtetisch niederzulegen.


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