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13.

Eine Woche war in dem ewig abwechslungsreichen und doch wieder so gleichförmigen Gange der Ereignisse in der Schriftleitung der Tribune verstrichen. Das Interview Tiltons mit Alderman Purnell war, nachdem es diesem im Manuskript vorgelegen hatte und von ihm mit einigen kleinen Änderungen gutgeheißen worden war, erschienen. Tilton hatte sich, nicht aus Interesse für die Sache Purnells und noch weniger für ihn selbst, sondern aus journalistischem Ehrgeiz bemüht, dessen Standpunkt so klar und logisch wie möglich darzustellen und da durch seine geschickten Fragen und Einwürfe in seiner Unterredung mit ihm Dinge erwähnt worden waren, die den Lesern zum Teil neue Gesichtspunkte in Bezug auf die Prohibition gaben, so hatte der Bericht immerhin einiges Interesse erweckt.

Es mochte sein, daß dieses Interesse nicht ganz den Wünschen des Aldermans entsprach, denn die Gesichtspunkte lagen hauptsächlich in den Fragen ausgedrückt und seine Antworten darauf erschienen, trotz der Bemühungen Tiltons, sie wirksam zu gestalten, nicht überzeugend. Für die Zeitung hatte der Artikel jedenfalls seinen Zweck erfüllt, denn es gab kaum eine Sache, der das Publikum gegenwärtig mehr Interesse zuwandte, als die Prohibition mit ihren traurigen Begleiterscheinungen. Dafür sorgte schon das Gangstertum mit seinen Anhängern und Gegnern und die Anzahl der Morde, an die man sich als tägliche Selbstverständlichkeit bereits gewöhnt hatte, genau so wie die Automobilunfälle am Wochenende.

Die guten Bürger der Stadt waren allerdings schon recht empfindlich geworden über den Ruf, in den Chikago dadurch gekommen war, und behaupteten, daß die Zustände in anderen amerikanischen Großstädten um keinen Deut besser seien. Aber in Bezug auf die skandalösen Freisprüche offenkundiger Mörder und die Tatsache, daß sechs- und achtfache Mörder unbehelligt umherliefen, weil man sie mangels aussagebereiter Zeugen nicht anklagen konnte, wurde es doch höchstens von Neuyork erreicht.

Dabei wurde der Umstand meist übersehen, daß die Straflosigkeit dieser Morde die Scheu vor Morden immer mehr zerstörte und andere Rowdys zur Nachahmung reizte. Auch in anderen Städten, was sich freilich für die Betreffenden manchmal als ein verhängnisvoller Irrtum erwies, der sich dann in der Form einer hänfenen Schlinge um ihren Hals legte oder ihnen einen Platz auf dem elektrischen Stuhle verschaffte. Sie berücksichtigten nicht, daß ihnen in den anderen weniger großen Städten die mächtigen Organisationen fehlten, auf deren Hilfe sie, wenn sie Mitglieder waren, immer Anspruch hatten. Die Organisationen mit ihren unbeschränkten Mitteln zur Bestechung von Polizei, Richtern und Politikern, der genauesten Vorbereitung eines Mordes bis auf die geringfügigsten Einzelheiten, den terrorisierten oder nötigenfalls auf irgendeine Weise beseitigten Zeugen und vielen anderen Dingen.

Als Tilton an diesem Morgen das Reporterzimmer betrat, empfing ihn Annie Morgan, die Sobsister, nach den üblichen Begrüßungen mit der Bemerkung:

»Ihre Freundin hat Sie angerufen. Schon zweimal.«

»Meine Freundin?« wiederholte Tilton verwundert.

»Ja. Sie sollten sie nicht so vernachlässigen. Sie schien es sehr eilig zu haben, war ganz aufgeregt. Ich konnte ihr das sehr gut nachfühlen. Schade. Ich habe den Abend gerade frei und hatte mich entschlossen, eine Einladung von Ihnen zum Dinner anzunehmen. Aber Ihre Freundin hat zweifellos ältere Rechte, da muß ich wohl verzichten.«

»Und wenn wir nun einen Augenblick von Ihren Phantasien absehen – um was handelt es sich? Ich verstehe Sie nicht.«

»Oh, das ist etwas Alltägliches«, entgegnete Miß Morgan leichthin und noch immer in ihrem neckenden Tone. »Die Leser der Tribune behaupten vielfach auch, daß sie mich nicht verstehen.«

»Das ist das Los aller Literaten. Aber jetzt sprechen Sie einmal vernünftig. Hat mich jemand angerufen?«

»Ich sage es Ihnen ja, zweimal sogar. Eine unverkennbar weibliche Stimme. Ich habe nämlich einen Kanarienvogel zu Hause, ein Weibchen, und weiß daher, was eine weibliche Stimme ist. Das heißt, von meinem Kanarienvogel weiß ich das eigentlich nicht, denn der ist im Gegensatz zu uns menschlichen Weiblein sehr still, während man uns immer eine sehr lose Zunge nachsagt. Aber es ist Verleumdung, ich versichere Sie. Wir piepen nur manchmal, genau wie mein armer Kanarienvogel.«

»Hat sie ihren Namen genannt?«

»Nein. Ich fragte danach. Sie sagte, es sei eine Sache, die Sie nur persönlich anginge und von größter Wichtigkeit wäre. Sie würde noch einmal anrufen.«

»Hat sie wenigstens ihre Fernsprechnummer angegeben?«

»Nein, der Anruf kam von einem öffentlichen Fernsprecher.«

Tilton sann eine Weile darüber nach, wer ihn wohl angerufen haben konnte. In der Zeit seiner Tätigkeit für die Tribune hatte er natürlich schon eine ganze Menge Bekanntschaften gemacht, auch von weiblichen Personen, aber er konnte sich nicht denken, wer ihn privat und dringend, und nicht in seiner Eigenschaft als Reporter angerufen haben mochte. Indessen, das würde sich ja bald herausstellen.

Er ließ sich an seinem Schreibtische nieder und beschäftigte sich mechanisch mit der Korrektur einiger Artikel, die in der Abendnummer erscheinen sollten. Seine Gedanken waren aber nicht bei der Arbeit. Es war heute der Tag, an dem er eine Antwort von Dolores Carranza erwarten konnte. Im Postannahmezimmer hatte er nachgefragt, aber es war kein Brief für ihn dagewesen.

Schreiben würde sie ihm aber sicher, wenn vielleicht auch nicht sofort, sie mußte sich doch wenigstens für seine Mitteilungen bedanken. Er wußte freilich nicht, ob ihr an einem Briefwechsel mit ihm etwas lag. Vermutlich nicht, denn als Erbin eines großen Vermögens und als ungewöhnliche Schönheit mußte sie gegen Annäherungsversuche, denen sie zweifellos sehr häufig ausgesetzt war, mißtrauisch sein. Immerhin konnte sie sein Schreiben aber nicht gut unbeantwortet lassen, auch wenn sie ihm nur ein paar kühle Zeilen schrieb, die ihm zu erkennen gaben, daß eine weitere Korrespondenz nicht gewünscht wurde.

Er fühlte etwas wie eine gespannte Erwartung und ärgerte sich darüber. Was ging ihn dieses Mädchen an? Er hatte ihr, wie das seine Pflicht war, Mitteilung von dem gemacht, was er über den Tod ihres Vaters gehört. Damit war die Sache eigentlich zu Ende. Warum legte er so viel Wert darauf, ob sie ihm antworten würde oder nicht. Eine viel umworbene Schönheit und Erbin, die sich einen Lebensgefährten unter den Reichsten des Landes wählen konnte und wahrscheinlich auch würde.

Und er?

Ein Zeitungsmann in bescheidener Stellung mit sechzig Dollar Gehalt die Woche. Allerdings mit dem Marschallstabe im Tornister. Aber was nützte ihn der? Durch Leistungen allein konnte man sich den nicht erwerben, sich eine Zukunft nicht erobern, der fiel einem rein durch Zufall und vielleicht Verbindungen, die er nicht besaß, zu. Es war ganz wie mit der Beteiligung an einem Preisausschreiben oder dem großen Lose in der Lotterie – es ist immer der andere, der gewinnt. Seine einzige Aussicht, wenn ihm nicht ein außergewöhnlicher Zufall zu Hilfe kam, bestand darin, einmal Editor einer großen Zeitung zu werden. Und selbst das ließ sich durch Leistungen nicht erzwingen, sondern war wiederum nur eine Sache des Glücks, denn mancher junge Mann saß mit einem reichlichen Gehalt am Schreibtisch des Editors, während andere mit zum Teil viel besseren Leistungen in dem Reporterzimmer alt und grau wurden.

Er sollte doch versuchen, Schriftsteller zu werden, Romane zu schreiben, da konnte man sich noch eher durchsetzen. Und wer als solcher den Erfolg an sich zu fesseln verstand – aber nein, so etwas gibt's doch nicht, es ist der Erfolg, der sich an einen fesselt, nachdem er sich ihn so oft blindlings erwählt.

Hol's der Teufel –!

Aber er sollte doch einmal anfangen, einen Roman zu schreiben. Keine Literatur. Beileibe nicht. Kein Verleger ist heute mehr bereit, Literatur zu verlegen. Marktgut wird verlangt, Kitsch, im Gewande eines schönen Stils, der die Unzulänglichkeiten und die Unlogik der Handlung verdeckt. Kitsch ohne alle Breiten, Handlung auf Handlung, Schlag auf Schlag. Das ist es, was die Verleger heute wünschen, weil das nervös gewordene Publikum es wünscht.

Er empfand einen bitteren Geschmack im Munde, als er sich in Gedanken abends und in der Nacht müde und abgearbeitet, die Nerven aufgepeitscht mit starkem Kaffee am Schreibtisch sitzen sah, um einen Roman zu schreiben, der keine Literatur war, sondern jämmerlicher Kitsch, aber gerade deshalb Geld brachte. Das ist doch der Erfolg. Oder nicht? Gab es noch jemand, der den Erfolg noch anders einschätzte als nach der Menge der Dollars, die er brachte?

Hol's der Teufel –!

Der Fernsprecher klingelte von neuem.

»Mr. Tilton«, rief das Mädchen, die den Anruf beantwortete, nachdem sie eine Weile am Apparat gelauscht, indem sie Tilton den Hörer reichte,

Da war's ja. Jetzt würde er es erfahren.

Aber es war eine männliche Stimme, die durch den Apparat kam.

»Dorsey? Ja, hier ist Tilton. was gibt's Neues? – Ob ich es gehört habe? – Was gehört? – von Dreifinger-Jack? – Nein, ich habe noch nichts gehört, bin eben erst gekommen. – Was, Dreifinger-Jack erschossen? – Gangstermord? – Natürlich Gangstermord!«

Und er lauschte auf das, was Dorsey am andern Ende erzählte.

Danach war Dreifinger-Jack am Abend und in der Nacht in Cicero gewesen, einem Vororte von Chikago, dessen Verwaltung den Gangstern vollständig ausgeliefert und in dem daher auch allen Lastern, Spiel, Trinken, Prostitution und allem, was sonst noch dazu gehört, freier Lauf gegeben ist. Die Bevölkerung steht sich gut dabei und glaubt deshalb, das bißchen guten Ruf, der ihr darüber zum Teufel gegangen ist, entbehren zu können. Morgens gegen drei Uhr war er dann mit einem Freunde oder Bekannten in seinem Auto nach Chikago zurückgefahren.

Er hatte wohl nicht bemerkt, daß ihm ein anderes Auto folgte. An einer nicht sehr verkehrsreichen Stelle überholte dieses das seine und überschüttete es im Vorüberfahren mit einem Hagel von Kugeln aus einem Maschinengewehr.

Dreifinger-Jack, der am Steuer saß, sank sofort tot auf das Rad. Sein Begleiter, dessen Persönlichkeit noch nicht festgestellt war, wurde schwer verwundet und starb gleich nach seiner Einlieferung in das Spital. Das führerlose Auto rannte gegen einen Baum und wurde zertrümmert.

Das alles hatte sich zu spät ereignet, um noch in den Morgenausgaben der Zeitungen berichtet zu werden und für Extrablätter war die Nachricht nicht wichtig genug. Es war ja schließlich nichts weiter als ein neuer Gangstermord, die seit langer Zeit zur Tagesgeschichte Chikagos gehörten.

»Ich möchte wissen, ob der Mord etwa eine Folge der Mitteilungen ist, die Dreifinger-Jack uns gemacht hat. Ich kann es mir nicht gut denken, denn er war sehr bedacht darauf, daß niemand ihn hörte«, meinte Dorsey. »Natürlich können auch andere Gründe vorliegen. Die Täter sind einstweilen noch unbekannt und werden es wohl auch bleiben, denn sie hatten bei ihrer Schießerei die Fahrt nur etwas verlangsamt und sausten gleich darauf mit voller Geschwindigkeit davon. Man hatte zuerst auf Piggy Donnovan Verdacht, denn es war bekannt, daß er ein Feind Dreifinger-Jacks war, aber der hatte ein unanfechtbares Alibi. Konnte nachweisen, daß er sich zur Zeit des Mordes ganz wo anders befand. Das mag ja auch stimmen, aber ich kann den Gedanken nicht los werden, daß der Mord zum mindesten in seinem Auftrage verübt wurde. Well, man kann nicht sagen, daß es um Dreifinger-Jack schade ist. Ein solches Ende gehört eben zum Gangstergeschäft und er konnte nichts anderes erwarten. Man sagt ihm ja selbst vier oder fünf Morde nach. Sehen wir uns heute abend im Presseklub? All right! Ich werde dort sein.«

Tilton kehrte an seinen Schreibtisch zurück.

Es sei nicht schade um Dreifinger-Jack, hatte Dorsey gesagt.

Gewiß, er hatte recht. Und doch tat ihm der Mann fast leid. Er hatte mit ihm an einem Tische gesessen und sich mit ihm unterhalten, Dorsey hatte ihn ja allerdings darauf aufmerksam gemacht, daß er ein »schwerer Junge« war, und die Unterhaltung mit ihm hatte ihm keine Zweifel darüber belassen. Aber er hatte sich so natürlich, so voll von menschlichen Schwächen gezeigt, daß das Bild des brutalen, vier- und fünffachen Mörders gar nicht recht zu ihm paßte. Seine größten Schwächen schienen eine fast krankhafte Eitelkeit und ein unbändiger Ehrgeiz zu sein. Das sind zwar allgemein menschliche Eigenschaften, von denen nur wenige Menschen frei sind, gleichviel ob sie sich als Prahlerei, Dünkel oder gewohnheitsmäßige Aufschneiderei äußern, aber er besaß sie in einer Übertreibung, daß sie Tilton hätte zum Lachen reizen können, wenn ihm nicht immer wieder zum Bewußtsein gekommen wäre, daß es wahrscheinlich gerade diese Eigenschaften waren, die ihn zum Verbrecher und Mörder gemacht hatten.

Es war die Sucht, sich hervorzutun, von sich reden zu machen, eine Rolle zu spielen in der Gangsterwelt, die ihn vor keinem Verbrechen zurückschrecken ließ. Anstaunen und bewundern sollte man ihn. In den bürgerlichen Berufsarten war das nicht so leicht zu erreichen; es war zu mühsam und es gab da zu viel Wettbewerb; man mußte fleißiger, geschickter und womöglich gebildeter sein als die anderen und selbst dann brachte man es keineswegs sehr weit. Sehr tüchtige Leute müssen ihr Leben oft in Stellungen verbringen, wo sie ihre Fähigkeiten gar nicht voll zur Anwendung bringen können. Als Verbrecher hatte man es leichter, da brauchte man keine Schulbildung, die zum vorwärtskommen in den anderen Berufen so notwendig ist, sondern nur Schlauheit und Mut und Rücksichtslosigkeit, um für seine Taten angestaunt zu werden.

Er hatte wohl eine leise Ahnung, daß es um seine Schulbildung nicht zum besten bestellt war, wenigstens in den Augenblicken, wo er sich in die Notwendigkeit versetzt sah, einen Brief, und womöglich noch in richtigem Englisch, zu schreiben, aber trotzdem hielt er sich für ausnehmend gescheit. Das war seine Dummheit, denn es hinderte ihn daran, zu erkennen, daß ein wirklich gescheiter Mann niemals Verbrecher wird.

Die vielen Detektivzeitschriften, die er, wie Tilton vermutete, mit Vorliebe las und wahrscheinlich als die verläßlichste Quelle einer umfassenden Bildung ansah, mochten ihn noch mehr angeregt haben, die darin geschilderten Helden, die so Unglaubliches wagten, noch zu übertreffen. Freilich, auf die eine oder andere Weise fielen sie auf den letzten Seiten der Geschichte immer entweder der Polizei in die Hände oder kamen sonstwie zu Schaden, das konnte ihm aber nicht passieren, dazu war er zu schlau und abgefeimt.

Well, er hatte geerntet, was er gesät hatte. Die Ernte der Dummheit, die sich über ihre Handlungen nicht klar wird, ist immer das Verderben.

Der Fernsprecher klingelte wieder und wieder war es Tilton, der am Apparat verlangt wurde.

Er ging hin und nahm den Hörer.

»Hello, hier ist Tilton – wer ist dort?«

»Mr. Tilton, ich muß Sie warnen – Sie sind in großer Gefahr, man will Sie ermorden.«

»Wer sind Sie? Nennen Sie mir zuerst doch mal Ihren Namen. – Das können Sie nicht? Well, um was handelt es sich?«

»Piggy Donnovan hat in Erfahrung gebracht, daß Sie wissen, wer der Mörder des Mr. Carranza ist, und er hat seinen Leuten Auftrag gegeben, Ihnen aufzulauern und Sie zu ermorden.«

»Wer hat Ihnen das gesagt?«

»Er selbst.«

»Wie hat er das erfahren?«

»Ich glaube, er hat einen Brief aus Kalifornien bekommen – von jemand, der bei der Sache nicht ganz unbeteiligt zu sein scheint, der hat ihn darauf aufmerksam gemacht.«

»Von Kalifornien?« fragte Tilton erstaunt, denn das erweckte unangenehme Vermutungen in ihm. »Wissen Sie von wem?«

»Nein, so weit geht Piggys Vertrauen in mich nicht. Ich habe auch von Ihrer geplanten Ermordung nur erfahren, weil er gerade betrunken war. Aber selbst in der Betrunkenheit kann man nur schwer etwas von seinen Plänen erfahren. Ich habe Sie gewarnt. Das ist leider das einzige, was ich im Augenblick für Sie tun kann. Seien Sie ja recht vorsichtig und hüten Sie sich vor allen Dingen vor Automobilen, die Ihnen folgen könnten.«

»Weiter können Sie mir nichts sagen?«

»Nicht jetzt, wenn ich es kann, rufe ich Sie wieder an.«

»Können Sie mir nicht wenigstens Ihre Fernsprechnummer geben, für den Fall, daß ich Ihnen etwas mitzuteilen habe?«

»Nein. Das wäre zu gefährlich und Sie würden mich auch wahrscheinlich nicht erreichen, denken Sie an Dreifinger-Jack. Sie haben doch davon gehört?«

»Soeben. Glauben Sie, daß das etwas mit mir zu tun hat?«

»Ganz gewiß, von Kalifornien hat Piggy das nicht erfahren. Aber er hat Sie mit ihm vor ungefähr einer Woche in einem Speisehaus sitzen sehen und, da Dreifinger-Jack der einzige oder doch einer der wenigen war, die über den Mord an Carranza etwas wußten, so hat er sich den Zusammenhang gedacht. Also noch einmal, seien Sie vorsichtig. Am besten würde es sein, wenn Sie Chikago sofort verließen, denn die Gangster finden immer Mittel und Wege, ihre Pläne durchzusetzen. Und ich habe Angst.«

Er hätte gern noch mehr erfahren, hörte aber plötzlich das klicken des Apparats am andern Ende. Aus irgendeinem Grunde hatte die Warnerin, wer immer sie auch sein mochte, es für nötig gefunden, die Verbindung unvermittelt abzubrechen.

»Haben Sie unangenehme Nachrichten erhalten, Mr. Tilton?« fragte Miß Morgan. Sie blickte ihm mit etwas wie wirklicher Anteilnahme ins Gesicht, als er sich jetzt vom Fernsprecher abwandte. »Sie sehen ja ganz verstört aus.«

»Nichts Angenehmes wenigstens«, entgegnete er ausweichend, während er nach seinem Schreibtische zurückging.

Er hielt es für richtiger, einstweilen noch über die erhaltene Warnung zu schweigen. Es konnte ihm nichts nützen, wenn er darüber sprach, aber vielleicht viel schaden. Die Nachricht davon würde sich in einer Viertelstunde im ganzen Gebäude verbreiten. Auf jeden Fall wollte er nicht darüber sprechen, bevor er sich nicht mit dem Cityeditor über die zu unternehmenden Schritte verständigt hatte. Denn daß etwas zu seiner Sicherheit getan werden mußte, verstand sich von selbst. Zunächst wollte er selbst einmal über die Sachlage Nachdenken.

Daß er sich in dringender Gefahr befand, daran zweifelte er keinen Augenblick. Ebenso stand es aber für ihn fest, daß er Chikago nicht verlassen würde, wie ihm die unbekannte Warnerin empfohlen hatte. Es handelte sich hier um keine Angelegenheit, die seinen Mut irgendwie berührte. Ein offener Angriff, gegen den er sich hätte verteidigen können, war ausgeschlossen. Ein solcher gehört nicht zu den Gangstermethoden. Sie würden ihn aus dem Hinterhalt überfallen, in einem Augenblicke vielleicht, wo er es am wenigsten erwartete, und auch die Überzahl für sich haben. Anders arbeiteten sie nicht. Nein, es wäre keine Feigheit gewesen, einer solchen Aussicht aus dem Wege zu gehen, nur eine gut angebrachte Vorsicht.

Der Gedanke widerstrebte ihm aber. Er hätte sich vielleicht keine Rechenschaft geben können, aus welchem Grunde oder welchen Gründen, einer war aber sicher der Umstand, daß er hier eine Stellung an einer Weltzeitung inne hatte und sich nicht veranlaßt fühlte, diese so ohne weiteres im Stiche zu lassen, in einer Zeit, wo die Arbeitslosigkeit auf allen Gebieten und im ganzen Lande eine so erschreckend große war. Es hätte ihn wenigstens große Mühe und endloses Warten gekostet, bevor er eine andere gefunden.

Piggy Donnovan war die Nachricht von seiner Kenntnis der Umstände des Mordes an Carranza aus Kalifornien zugegangen, hatte das Mädchen oder die Frau am Fernsprecher behauptet.

Für einen Augenblick war ihm der Gedanke gekommen, daß Miß Carranza geplaudert hatte. Er verwarf ihn aber sofort wieder. Sie war allerdings die einzige, die von den Aufschlüssen, die er in der Mordsache empfangen hatte, etwas wußte. Aber was immer sie auch über seinen Brief denken mochte und selbst, wenn sie ihn als einen unerwünschten Annäherungsversuch angesehen haben sollte, es war undenkbar, daß sie ihn an den Mörder ihres Vaters verraten und damit der Rache der Gangster preisgegeben haben konnte.

Hatte vielleicht jemand hier in der Office seinen Brief heimlich geöffnet und gelesen? Nein, das konnte auch nicht sein, denn er erinnerte sich, daß er ihn nicht mit den Officebriefen hatte befördern lassen, sondern ihn selbst in den Briefkasten geworfen hatte.

Wenn also tatsächlich eine unbefugte Öffnung stattgefunden hatte, mußte sie in San Franzisko erfolgt sein. Darauf deutete auch schon die Zeit hin, die verstrichen war, seit er ihn abgesandt hatte.

Wer aber in San Franzisko konnte ein Interesse daran haben, Piggy Donnovan sofort zu warnen und ihm von der Lage der Dinge Kenntnis zu geben?

Die Frage beantwortete sich sofort von selbst: der Vormund des Mädchens.

Vielleicht hatte sie den Brief unvorsichtigerweise umherliegen lassen und der Vormund hatte ihn gefunden. Das war freilich auch keine zufriedenstellende Erklärung, denn der Brief hatte sie ja gerade vor ihrem Vormund gewarnt, und es wäre seltsam gewesen, wenn sie ihn schon mit Rücksicht darauf nicht besser verwahrt gehalten hätte, aber es schien doch immer noch die naheliegendste Deutung zu sein. Und wohnte sie überhaupt mit dem Vormund zusammen, daß so etwas möglich sein konnte?

Darüber wußte er nichts und die Frage blieb daher ungelöst.

Wer aber war die unbekannte Warnerin?

Es war unzweifelhaft eine Person, mit der Piggy Donnovan einen näheren Verkehr unterhielt, der gegenüber er zu Zeiten sogar Geheimnisse ausplauderte. An jenem Abend hatte er ihn in dem Restaurant mit Ramona Barranca gesehen und die Stimme des Mädchens am Fernsprecher, obwohl sie halb im Flüstertöne gesprochen, hatte ihm bekannt geklungen. Es war ganz sicher die Stimme und Sprechweise einer gebildeten Dame, hatte aber nichts von dem mexikanischen Dialekt an sich gehabt, mit dem Ramona Barranca ihre Lieder auf dem Podium des Restaurants vorgetragen.

Die Vermutung schien nicht ganz unbegründet zu sein. Miß Barranca hatte an jenem Abend unverkennbar einiges Interesse für ihn verraten, und nichts war leichter für sie, als seine Adresse von Rossini, dem Manager, zu erfahren, falls Piggy ihr diese nicht in seiner Betrunkenheit, als er ihr seine Absicht verriet, aus eine geschickte Frage hin genannt hatte.

Das brachte ihn indessen nicht weiter. Nur das eine schien festzustehen, daß irgendeine unbefugte Person von dem Inhalt seines Briefes an Dolores Carranza Kenntnis erlangt hatte.

Das war das Ende seiner Schlüsse. Darüber hinaus war die Angelegenheit mit einer Mauer umgeben, über die er nicht hinwegblicken konnte. Als er sich das vergegenwärtigte, erhob er sich, um in das Zimmer des Cityeditors zu gehen und den Fall mit ihm zu besprechen.


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