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2.

Als sie noch etwa zehn Minuten ihren Weg fortgesetzt hatten und in der Nähe der alten Clark-Street-Brücke angelangt waren, blieb Dorsey vor einem Hause mit mehreren großen Fenstern im Erdgeschoß stehen.

»Hier gehen wir hinein. Es ist Jim Bossinis Lokal. Das heißt offiziell und nach außen hin, denn in Wirklichkeit gehört es Tom Farlew, einem bekannten Gangster, den Sie noch kennen lernen werden, Jim ist nur der Manager.«

Tilton warf einen Blick über das Haus und die Nachbargebäude. Sie gehörten alle einer früheren Bauzeit an und mochten vor nicht allzu langer Zeit eine der besseren Geschäftsstraßen der Stadt gebildet haben. Die vornehme Bewohnerschaft war aber allmählich wohl verzogen, denn jetzt schienen die Geschäfte, die sich hier aneinander reihten, mehr auf den Durchschnittskäufer eingestellt zu sein, auf den man mit Schaufenstern und Preisen wirkt, während die ultra-vornehmen Geschäfte in der Regel nur ihren berühmten Namen an der Außenseite zeigen. Vielfach strahlte aus den Fenstern greller Lichtglanz in die Dunkelheit, die von der Straßenbeleuchtung nicht sehr wirksam bekämpft wurde.

Es fehlte ihr alles Auffallende, sie war einfach eine Straße, wie man sie in jeder Großstadt zu Hunderten und Tausenden findet. Besonders das Speakeasy schien bestrebt zu sein, nach außen hin den Eindruck eines der zahlreichen größeren Speisehäuser zu machen, denn in den Fenstern hingen Speisekarten und Empfehlungen von Soft Drinks.

Als sie eintraten, fanden sie sich in einem großen Raume, der in der Mitte mit Tischen und Stühlen besetzt war, an beiden Seiten aber abgeteilte Kabinen aufwies, die mit Portieren geschlossen werden konnten, verschiedene von ihnen waren mit Gästen besetzt, aber keiner von ihnen hatte anscheinend das Bedürfnis eines solchen Abschlusses empfunden. Vorn, rechts vom Eingang, befand sich die Bar, hinter der zwei Bartender in weißen Jacken und Schürzen tätig waren, zusammen mit einem Manne in dunkelgrauem Anzuge, Jim Bossini, dem Manager, wie Dorsey Tilton zuflüsterte.

Im Hintergrund befand sich ein Podium, denn das Lokal hatte auch Kabarettbetrieb. Die Künstlerinnen und ihre männlichen Kollegen, darunter zwei Neger, die einen Gesangs- und Tanzakt vorführten, saßen unter den Gästen verstreut. Die Aufführung erfolgte ziemlich formlos und der eine oder andere Künstler trat auf, wie es ihm gerade paßte. Ein Nebenraum, nur mit Stühlen an den Wänden, bot den Gästen Gelegenheit, zu tanzen, wobei ein Pianoautomat an der Schwelle zu dem Raum, das durch einen in den Schlitz geworfenen Nickel in Tätigkeit gesetzt wurde, die Musik lieferte.

Das Ganze, obwohl seine Einrichtung keineswegs ärmlich war, machte den Eindruck eines Lokals für Stammgäste, was die meisten wohl auch waren, daher die Formlosigkeit des Betriebes.

Was Tilton aber zuerst auffiel, war der Umstand, daß die Bartender wie auch die ebenfalls weißgekleideten Kellner sämtlich muskulöse, kräftige Gestalten mit groben Gesichtszügen und einem rohen Blick in den Augen waren, der ihnen blieb, auch wenn sie sich bemühten, freundlich zu sein. Er vermutete nicht mit Unrecht, daß es gerade diese Eigenschaften waren, denen sie ihre Stellung hier verdankten. Ursprünglich waren sie wohl alle Mitglieder eines Athletenklubs gewesen und hatten davon geträumt, einst im Preisring eine Rolle zu spielen. Dazu hatte es nicht gereicht, aber ihre athletischen Übungen hatten sich insofern bezahlt gemacht, als sie sie befähigten, in diesen und ähnlichen Lokalen, die dafür Bedarf hatten, in der Verkleidung von Kellnern die Rolle des »starken Mannes« zu spielen.

»Hallo, Lou!« rief Jim Bossini den Neueingetretenen mit einem forschenden Blick auf Tilton entgegen. »Auch mal wieder hier?«

Er kannte die meisten seiner Gäste und es gehörte zu seinen Aufgaben, die unbekannten einzuschätzen. Er hatte darin eine erstaunliche Fertigkeit erlangt und wo er im Zweifel blieb, ließ er sich stets von diesen Zweifeln leiten.

»Ja, ich darf doch meine Freunde nicht vergessen. Übrigens, lassen Sie mich Sie mit meinem Freunde und Kollegen, Mr. Norman Tilton von der Tribune, bekannt machen. Nachfolger von Mr. Lingle.«

Es kam nicht oft vor, daß Jim Bossini von irgend etwas überrascht war. Diese Vorstellung veranlaßte ihn aber doch, einen neuen forschenden Blick aus Dorseys Begleiter zu werfen.

»Well, ich wünsche Ihnen viel Glück. Ihr Vorgänger war wohl etwas unvorsichtig, hat sich jedenfalls auf Dinge eingelassen, von denen er lieber hätte fernbleiben sollen. Aber es freut mich, Sie kennen zu lernen. Nennen Sie mir Ihr Gift. Die Getränke gehen auf Rechnung des Hauses.«

»Whisky natürlich«, antwortete Dorsey für beide und der Manager nahm einen von mehreren weißen Porzellankrügen, die auf der Bar standen, und füllte drei Gläser.

Sie erhoben sich und tranken sich zu.

»Feiner Stoff«, bemerkte Tilton.

»Darauf können Sie wetten«, erwiderte Jim. »Von Narbengesicht Al.«

Es klang, als ob damit genug gesagt und jeder weitere Beweis für die Güte des Getränks entbehrlich sei. Narbengesicht Al war übrigens niemand anders als Alphons Capone, der unter diesem Namen, den er einer entstellenden Narbe auf seiner linken Gesichtshälfte verdankte, vielleicht noch besser bekannt war als unter seinem wirklichen.

»Was der liefert, ist immer verläßlich«, fuhr Jim fort. »Früher, als wir unsern Stoff noch von den kleinen Bootleggern beziehen mußten, gab es viel Ärger. Sie wußten niemals, was sie bekamen; meistens Heimdestillat, wenn nicht vergällten Spiritus, dem Sie die Vergällung doch niemals entziehen können. Das ist erst anders geworden, seit alle kleinen Bootlegger aus dem Geschäft getrieben worden sind und Narbengesicht Al hier im Norden und Bug Moran im südlichen Stadtteile gewissermaßen das Monopol haben. Die halten wie jede große Firma auf guten Stoff, und ob Sie kanadischen oder schottischen Whisky haben wollen, Sie bekommen, was Sie bezahlen. – Nehmen Sie noch einen.«

Er schenkte die Gläser von neuem voll und sie tranken.

»Sagen Sie, Jim, ist Dreifinger-Jack schon hier?« fragte Dorsey.

»Hab ihn noch nicht gesehen, aber er ist in der letzten Zeit ziemlich regelmäßig dagewesen und wird wohl noch kommen, wenn Sie ihn erwarten.«

Beide wählten sich jetzt einen Tisch in der Mitte des Saales, von wo aus sie eine bessere Übersicht hatten, als von einer der Kabinen. Sie rückten sich Stühle zurecht und ließen sich darauf nieder.

Sie waren noch junge Männer in der Mitte der Zwanzig. Das war aber so ziemlich alles Gemeinsame, das sie besaßen. Tilton war groß und schlank, sein Haar blond und sein Gesicht länglich. Dorsey mehr untersetzt, mit dunklem, fast schwarzem Haare und vollem, rundem Gesicht. Beide waren glatt rasiert und machten einen freimütigen, sympathischen Eindruck, der im Falle Dorseys auch durch die Hornbrille mit runden Gläsern nicht beeinträchtigt wurde.

Sie bestellten bei dem herantretenden Kellner Bier, das ihnen in Flaschen gebracht wurde.

Tilton konnte sich nicht enthalten, eine Bemerkung über die volle Öffentlichkeit zu machen, in der das Prohibitionsgesetz hier umgangen wurde.

Dorsey zuckte die Achseln.

»Die Leute sind ziemlich sicher. Sie zahlen wöchentlich fünfunddreißig Dollar an die Polizei.«

»Nicht mehr?«

»Nein, die Polizei ist klug genug, die Schraube nicht zu sehr anzuziehen, denn dann würden die Leute vielleicht kicken und das ist nicht erwünscht, obwohl sie sich damit nur selbst schaden würden, wenn Sie aber bedenken, wie viele solcher Plätze, Spielklubs, Prostitution und andere dazugerechnet, in einem Distrikt der Polizei tributpflichtig sind, und welche Summen sie von den Bootleggern bezieht, so können Sie sich ausrechnen, wie einträglich das Geschäft für die Polizei ist. – Übrigens ist das nicht die einzige Summe, die Jim und seine Geschäftskollegen zu bezahlen haben. Da sind in erster Linie noch die Prohibitionsleute. Sie sind nicht ganz so sicher, ich meine, sie haben ihren Graft nicht ganz so organisiert wie die Polizei und müssen einzeln gespickt werden. Mit der Polizei stehen sie natürlich auf dem denkbar schlechtesten Fuße und es kommt manchmal vor, wenn ihre Anhänger wieder einmal zu laut werden, daß sie einen Platz überrumpeln, ohne daß die Polizei etwas davon weiß und rechtzeitig eine Warnung geben kann. Mit Rücksicht auf eine derartige Möglichkeit bewahrt Jim hier seinen Whisky in Krügen auf, nicht in Flaschen. Die Krüge entleert man im Augenblicke der Gefahr in den Ausguß. Der hat eine Röhrenverbindung mit dem Nebenhause, wo der Whisky wieder in Fässern aufgefangen wird, so daß er nicht einmal verloren geht.«

»Und das Bier?«

»Well, jeder Gast hat die Pflicht und Schuldigkeit, es sofort auszutrinken und tut das auch, denn er würde sich sonst nur unliebsame Scherereien verursachen. Die leeren Flaschen sind keine Beweismittel mehr. Und die vollen bewahrt man an einem Orte auf, wo die Prohibitionsbeamten sie nicht finden, vielleicht auch im Nebenhause.«

Er sah sich in dem Lokale um, in dem es ziemlich geräuschvoll herging, da die meisten der Gäste schon so viel getrunken zu haben schienen, um mindestens ihre Stimmung anzuregen.

Ein Mann trat auf das Podium und sang ein Lied voll von Anzüglichkeiten gegen die Polizei und die Grafters in allen möglichen amtlichen Stellungen. Die bemerkenswerteste Stelle darin betraf einen Vorgang, der sich erst vor zwei Tagen ereignet hatte. Der Lärm über Lingles Ermordung war so groß gewesen, daß sich ein Vigilantenkomitee aus angesehenen Bürgern der Stadt gebildet hatte, um mit dem Verbrechertum aufzuräumen, da das der Polizei anscheinend nicht gelingen wollte. Die Vigilanten hatten sich an viertausendfünfhundert Bürger der Stadt zur Aufbringung der nötigen Mittel gewandt, aber nur dreitausend Dollar erhalten, also im Durchschnitt sechzig Cents von jedem, der töricht genug gewesen war, dazu beizusteuern. Die meisten hatten die Sache von vornherein als das angesehen, was sie war, einen Schlag ins Wasser, obwohl viele der Komiteemitglieder unzweifelhaft ihre Sache völlig ernst nahmen. Die beiden großen Bootleggerorganisationen, um die es sich hier hauptsächlich handelte, waren aber stets so klug gewesen, das unbeteiligte Publikum nicht zu behelligen.

Im Gegensatz zu all den kleinen Gangstern, Bankräubern, Holdupmännern, »Schutz«banden, die sämtliche Industrien und sonstige Unternehmungen brandschatzten, arbeiteten die, von ihrem Standpunkt aus gesehen, ehrlich. Sie lieferten dem Publikum Wein, Bier und Whisky und nahmen den Preis dafür, wie jedes andere Geschäft auch. Daß der Handel ungesetzlich war, störte weder sie noch ihre Kunden.

Wenn die »Trockenen« anmaßend genug waren, dem anderen Teile des Volkes vorzuschreiben, was sie essen und trinken durften und was nicht, so konnten sie zwar mit einer zufälligen Mehrheit im Senat ein diesbezügliches Gesetz durchbringen, nicht aber das Publikum dazu, dieses Gesetz auch zu beachten. So weit war also die Sache in Ordnung, und das Publikum sah die Bootlegger nur als Leute an, die viel riskierten und daher auch entsprechende Preise für ihre Ware berechnen mußten, nicht aber als Verbrecher. Höchstens bedauerte man es, daß die Regierung Hunderte von Millionen Dollars aus einem Handel, den zu unterdrücken ausgeschlossen war, in die Taschen der Bootlegger wandern ließ und auf der andern Seite auch noch eine riesige Armee von Prohibitionsbeamten besoldete. Neben tausend anderen Gründen auch schon deshalb, weil die meisten dieser Beamten »Doppelverdiener« waren, das heißt, sich auch von den Bootleggern bezahlen ließen, und zwar gut, denn Zuwendungen von sechstausend Dollar monatlich an einzelne Beamte waren keineswegs eine Seltenheit.

Und wenn diese Organisationen Morde begingen, was oft genug vorkam, so lag das eben daran, daß, wenn sie überhaupt existieren wollten, sie den Verrat in den eigenen Reihen bestrafen mußten. Die Polizei und Prohibitionsbeamten hatten sie nicht zu fürchten, es gab aber sogenannte »Hijacker«, Konkurrenten, die ihre Transporte überfielen und raubten – und andere, denen ihre geheimen Warenlager bekannt geworden waren und die sie an die Prohibitionsbeamten verrieten, wenn sie nicht die hohen Schweigegelder erhielten, die sie forderten. Gegen diese mußten sie sich schützen. Der Mord vom St. Valentinstage im Jahre 1928, wo sieben Gangsters in einem Keller an die Wand gestellt und von ihren Gegnern mit Maschinengewehren niedergeknallt wurden, ist ein Beispiel davon. Nach den Tätern sucht man heute noch.

Das alles wußte das Publikum und behielt daher sein Geld in der Tasche.

Dem Vigilantenkomitee blieb daher auch nur ein einziges Mittel, gegen das Unwesen vorzugehen, und es bewies durch seine Inanspruchnahme mehr als durch alles andere seine völlige Hilflosigkeit: man wollte den Gangstern das Leben schwer machen und sie dadurch veranlassen, ihre Geschäfte lieber in einer anderen Stadt zu betreiben. Dazu sollte ein altes Gesetz herhalten, das Landstreichergesetz. Es ist sehr dehnbar und bedroht neben vielen anderen Dingen auch notorisch reiche Leute mit Gefängnis bis zu einem Jahre, wenn sie nicht nachweisen können, daß sie sich ihren Lebensunterhalt auf ehrliche Weise erwerben.

Man stellte also eine Liste von vierundzwanzig Personen auf, die man als öffentliche »Feinde« bezeichnete und mit dem Gesetz heimsuchen wollte. Narbengesicht Al und Bug Moran standen natürlich an der Spitze.

Die Antwort der Gangster darauf war, daß sie sofort eine Summe von hundertfünfundzwanzigtausend Dollar aufbrachten, aus der die Bürgschaften für ihre Entlassung aus der Haft bezahlt werden sollten. Die dreitausend Dollar, die die guten Bürger der Stadt für ihre Ausrottung aufgebracht hatten, machten die Hilflosigkeit dieser Maßnahme dadurch nur noch offenkundiger. Immerhin fühlte man die Verpflichtung, dem Publikum zu zeigen, daß etwas geschah und beantragte bei der Polizei Haftbefehle gegen die »öffentlichen Feinde« unter der Beschuldigung der Landstreicherei.

Unglücklicherweise aber ereignete es sich in den nächsten Tagen, daß einige Prohibitionsbeamte einen Zusammenkunftsort der Gangster heimsuchten, und dort fanden sie zu ihrer Überraschung eine Liste dieser »öffentlichen Feinde«. Höflich, wie sie nun einmal ist, hatte die Polizei ihnen diese zur Begutachtung und Genehmigung vorgelegt. Die Gangster hatten acht Mann daraus gestrichen und es der Polizei gestattet, gegen den Rest vorzugehen.

Das war bekannt geworden, allerdings ohne daß es der Polizei viel geschadet hätte, denn an solche Dinge ist man gewöhnt. Die Erwähnung dieses Vorfalles aber hier von der Bühne herab fand ein empfängliches Publikum und der Künstler konnte unter reichem Beifall der Zuhörer abtreten.


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