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12.

Norman Tilton hatte Alderman Purnell den Zweck seines Besuches noch einmal kurz auseinandergesetzt.

»Ich bin gern bereit, Ihnen meine Ansicht über die Prohibition bekannt zu geben, obwohl ja eigentlich darüber kein Zweifel mehr herrschen sollte«, erklärte dieser. »Wollen Sie eine Zigarette rauchen oder ziehen Sie eine Zigarre vor?«

Er nahm eine silberne Dose, die sich, als er den Deckel aufspringen ließ, innen mit Zedernholz ausgelegt zeigte, und bot sie ihm an.

»Später«, wehrte Tilton ab, indem er auf der andern Seite des Schreibtisches sein Notizbuch ausbreitete und seinen Bleistift daneben legte, »ich werde zu schreiben haben. Sie sind allerdings als Verfechter der Prohibition bekannt, aber Sie wissen, die ›Nassen‹ machen immer größere Anstrengungen, das Prohibitionsgesetz zu Fall zu bringen, machen es verantwortlich für die ungeheure Korruption, die wir jetzt in Amerika haben und wenigstens die Hälfte der Morde, die verübt werden, so daß wir glaubten, es könnte Ihnen vielleicht willkommen sein, sich noch einmal darüber zu äußern und falsche Behauptungen zurückzuweisen.«

»Ganz recht, ganz recht«, beeilte sich Purnell, dem Reporter zu versichern. »Die Prohibition teilt eben das Los jeder großen Reform, verleumdet zu werden. Und dabei muß doch jeder, der seine Rügen gebraucht und intelligent genug ist, zu verstehen, was er sieht, ihren wirtschaftlichen Wert – vom moralischen ganz abgesehen – erkennen. Ich brauche hier nur durch das Fenster zu sehen, um die Beweise für die Besserung unserer wirtschaftlichen Verhältnisse vor Augen zu haben, die uns die Prohibition gebracht hat.«

»Werden wir das sagen können, jetzt, wo die Verhältnisse in Amerika so schlecht sind, wie sie nur sein können?« fragte Tilton zweifelnd.

»Sie wären noch viel schlechter ohne Prohibition«, behauptete Purnell. »Nichts in der Welt ist so schlecht, daß es nicht noch schlechter sein könnte. Das werden wir erleben, wenn es den ›Nassen‹ mit ihrer lügenhaften Propaganda gelingen sollte, die Prohibition zu beseitigen, was aber glücklicherweise nicht der Fall sein wird. Sehen Sie da drüben, meinem Hause fast gegenüber, befindet sich eine Bank. Früher stand ein Saloon dort, vor der Prohibition war nicht genug Geld in unserem Bezirk, um einer Bank ein lohnendes Geschäft zu sichern. Jetzt macht die Bank, wie mir erzählt worden ist, vorzügliche Geschäfte und zwar ausschließlich mit Kunden aus der Nachbarschaft. Die Arbeiter, die früher ihr schwer verdientes Geld im Saloon vertranken, sparen es jetzt für sich und ihre Kinder.«

Er hielt es weder für angebracht, zu erwähnen, daß er selbst zwei Millionen Dollar in der Bank angelegt hatte, zwei Millionen, die aus Quellen stammten, von denen Narbengesicht Al nur eine war. Noch sah er sich veranlaßt, von den vier Millionen zu sprechen, die er in anderen Banken liegen hatte. Als kluger Geschäftsmann hatte er sein Vermögen gut verteilt und die Konten trugen auch nicht alle seinen Namen. Man kann doch nicht wissen. – Hätte er die Tatsache enthüllt, daß eine Anzahl Bootlegger allein bei dieser Bank in einem Jahre zehn Millionen Dollar eingelegt hatte, hätte die Sache wohl ein etwas anderes Gesicht bekommen. Die paar Spargroschen der Arbeiter waren für den flotten Geschäftsgang der Bank jedenfalls nicht verantwortlich.

»Das ist sehr interessant«, versetzte Tilton, »denn es widerlegt die Behauptung, die man so oft hört, daß die Menschen durch Gesetze nicht moralisch gemacht werden können, hier scheint das tatsächlich der Fall gewesen zu sein. Die Arbeiter vertranken früher ihr Geld, wie Sie ganz richtig sagten, wenn es natürlich auch Ausnahmen gab, dann kam die Prohibition und von da an taten sie es nicht mehr, sondern sparten sich ihr Geld.«

Alderman Purnell richtete einen forschenden Blick auf den Sprecher. Er schien über den wirklichen Sinn seiner Worte im Zweifel zu sein. Tilton bemerkte das und beeilte sich hinzuzusetzen:

»Verstehen Sie mich nicht falsch, Alderman. Ich drücke hier keine Meinung aus. Die habe ich nicht. Sie wäre den Lesern der Tribune auch höchst gleichgültig. Die wollen nicht meine Meinung hören, sondern die Ihre, wenn ich hin und wieder eine Bemerkung mache, so geschieht das lediglich, um Ihnen Gelegenheit zu geben, sich über den Punkt zu äußern. Als Reporter stelle ich mir vor, was sich die Leser bei diesen Angaben denken werden. Denn ich nehme an, es liegt Ihnen nichts daran, die Trockenen zu überzeugen, das wäre ja ganz überflüssig, sondern die Nassen.«

»Ganz recht, und ich will auch gar nicht behaupten, daß die Prohibition in jedem Falle diese Wirkung gehabt hat. Es bleiben immer Leute übrig, denen nicht mehr zu helfen ist, auch durch Gesetze nicht. Darüber waren wir uns immer klar. Wir wollten nur retten, vor sich selbst retten, was noch zu retten war. Das ist uns auch gelungen, vor der Prohibition befanden sich in diesem Häuserblock allein sechs Saloons. Richtige Bumskneipen, gefüllt mit Leuten, die viel besser hätten zu Hause bei Frau und Kindern sein sollen. Das hat die Prohibition alles geändert. An der Ecke stand damals ein Saloon, der immer voll war von halb oder auch ganz betrunkenen Gästen, die dann zu unsinnigen Geldausgaben verführt wurden. Jetzt befindet sich dort ein anständiges Speisehaus, wo Männer, die sich in den alten Spelunken vollsoffen, eine gut zubereitete Mahlzeit bekommen können. Und der Eigentümer kauft, was er braucht, in der Nachbarschaft. Jeder hat seinen Vorteil durch die neue Ordnung der Dinge und die Geschäftsleute, die früher bis über die Ohren in Schulden steckten, kommen heute zu Wohlstand.«

Er vergaß, zu erwähnen, daß dieses Restaurant mit seinen Hinterzimmern, die freilich nur den Eingeweihten bekannt waren, ihm selbst gehörte.

»In der ganzen Straße können Sie Geschäfte sehen«, fuhr er fort. »Hotels, Barbierläden, Restaurants, Drogenhandlungen, Geschäfte aller Art. Sie kamen hierher, weil unter der Prohibition die Leute Geld haben für die Notwendigkeiten und Annehmlichkeiten des Lebens, während sie es früher vertranken.«

Er hätte noch hinzufügen können: da ist das Palace Hotel, wo Sie stets hübsche Mädchen, schottischen Whisky und englisches Bier finden; Mike's Chili Parlor, in dessen Hinterzimmern es bei reichlicher »Booze« immer außerordentlich lustig hergeht; das Washington Café. Gut eingerichtete Plätze mit unschuldiger Front, weißen Marmortischen und allem sonstigen Luxus. Aber er vermied es. Indessen erinnerte es ihn daran, daß ihm berichtet worden war, der Besitzer des Washington Cafés habe im oberen Stockwerk drei neue Kartentische aufgestellt und daß er Captain Wilson einen Wink geben müsse, dort das Schutzgeld zu erhöhen.

»Und Sie meinen, das sind alles die Folgen der Prohibition?«

»Unbedingt«, erklärte Alderman Purnell mit Überzeugung.

»Lassen Sie sehen. Warum hat man seinerzeit die Prohibition eingeführt? Für die Leute, die manchmal im Restaurant oder Café oder Hotel oder bei einem Ausflug ein Glas Bier oder Wein trinken, brauchte man sie nicht, auch wenn sie gelegentlich mal etwas zu viel tranken. Man brauchte sie nicht vor sich selbst zu schützen, sondern konnte es ihnen überlassen, das selbst zu tun und sich mit einigen Entgleisungen abzufinden. Schließlich hat auch niemand das Recht, einem anderen vorzuschreiben, was er tun oder lassen soll, solange er andere damit nicht schädigt oder belästigt. Es bleiben also nur die Gewohnheitstrinker übrig.«

»Ganz recht. Da sie zur Mäßigkeit nicht erzogen werden konnten, gab es nur den einen Weg, ihnen die Möglichkeit zu entziehen, noch länger Alkohol zu bekommen. In erster Linie mußten also die Saloons beseitigt werden. Es waren üble Lasterhöhlen, die die Arbeiter dazu verführten, ihren Verdienst zu vertrinken, während Frau und Kinder daheim hungerten und in Lumpen gingen. Ist das nicht ein genügender Grund?«

»Wenn sie das erreicht und nicht etwa, wie die Nassen behaupten, die Sache nur verschlimmert haben, würde das sicher vieles rechtfertigen. Sie haben selbst zugegeben, daß es immer Leute gibt und wahrscheinlich auch geben wird, die nicht mehr zu retten sind und die also auch die Prohibition nicht gerettet hat. Man kann annehmen, daß die Leute, die Frau und Kinder hungern und in Lumpen gehen lassen, zu denen gehören, die nicht mehr zu retten waren, weil sie jegliches Verantwortlichkeitsgefühl im Alkohol ersäuft haben. Für diese ist die Sache ja nun wohl tatsächlich schlimmer. Sie trinken wie vorher, Gelegenheit dazu ist ja überall vorhanden, nur kostet es sie jetzt mehr und den Familien wird also jetzt noch mehr entzogen. Außerdem ist das Zeug, das sie jetzt bekommen, meist verfälscht, gesundheitsschädlich und nicht selten todbringend. Man versteht es auch nicht, warum ein Teil des Volkes dafür bestraft werden soll, daß ein anderer Teil sündigt. Denn darauf läuft es doch hinaus, wenn man den Alkohol, weil Säufer ihn mißbrauchen, auch Leuten entzieht, die ein Vergnügen daran finden, ihn mäßig zu trinken und ihre Gesundheit damit sicher mehr zu fördern glauben, als durch Eiswasser und kohlensaure Getränke. Sie werden dadurch bestraft, daß sie jetzt gezwungen sind, ihn heimlich und zu Bootleggerpreisen zu genießen, und sind außerdem noch Verbrecher, die hohe Strafe zu gewärtigen haben, wenn man ihn in ihrem Hause findet.«

»Das ist ganz in der Ordnung«, erklärte Alderman Purnell mit Entschiedenheit, »denn sie spielen schließlich doch nur mit Feuer. Der Alkohol ist in jeder Form schädlich.«

»Haben nicht auch Ärzte das Gegenteil behauptet? Es kommt aber wohl gar nicht darauf an, ob der Alkohol an sich nützlich ist oder nicht, sondern darauf, ob das, was wir an seiner Stelle trinken, nicht noch nachteiliger ist.«

»Well, das ist eine Frage, die für unsere augenblickliche Erörterung doch wohl zu weit abliegt. Ich gebe Ihnen zu, daß wir um dieser Klasse von Leuten willen die Prohibition vielleicht nicht nötig gehabt hätten. Denken Sie aber an die vielen anderen, die sonst vielleicht ganz tüchtige Leute, aber zu schwach sind, um einer Verführung zu widerstehen. Denen mußten wir die Verführung entziehen.«

»Ja, das war wohl die ursprüngliche Absicht der Prohibition. Aber ist es Ihnen gelungen?«

»Ganz gewiß nicht in vollem Umfange. Man hat uns nicht genügend Mittel bewilligt; wir haben nicht Personal genug; die Küstenwache hat keine Fahrzeuge, die es an Schnelligkeit mit denen der Bootlegger aufnehmen können. Es fehlt überall. Die Regierung hat ja daher dem Senat eine neue Bill vorgelegt, in der sie achtzig Millionen Dollar mehr anfordert, um fünfhundert weitere Prohibitionsagenten anzustellen und sonstige Ausgaben zu bestreiten. wir haben jetzt, Gott sei Dank, Prohibition und müssen sie durchführen.«

»Und das alles, um einen verhältnismäßig geringen Teil des Volkes davor zu bewahren, bei Gelegenheit mehr zu trinken, als für den einen und anderen und vielleicht auch seine Angehörigen, gut ist«, konnte Tilton sich nicht enthalten, einzuwerfen.

»Wenn ein Land eine Sache für richtig erkannt hat, spielen die Kosten ihrer Durchführung keine Rolle«, erklärte Purnell pomphaft.

»Vielleicht nicht«, gab Tilton zu. »Aber es handelt sich hier nicht allein um das Geld, wie Sie wissen, behaupten die Nassen, daß es der Prohibition nicht gelungen ist, auch nur einen einzigen, der vorher getrunken hat, vom Weitertrinken abzuhalten. Ihre Organisation hat ja selbst lange Listen veröffentlicht von Lokalen, in denen Sie zu jeder Zeit und ohne alle Umstände Booze erhalten können.«

»Das ist richtig und auf diese Plätze haben wir es ja gerade abgesehen. Sie müssen unbedingt unterdrückt werden. Es ist eben die Folge davon, daß wir kein ausreichendes Personal zur Verfügung haben.«

»Glauben Sie, daß eine wirklich lückenlose Durchführung der Prohibition überhaupt möglich ist?« fragte Tilton. »Es wird allgemein behauptet, daß das nicht der Fall ist.«

»Allgemein wird das wohl nicht behauptet«, widersprach Purnell. »Ich habe es wenigstens noch von keinem Prohibitionisten gehört. Es ist auf jeden Fall eine Frage, die erst entschieden werden kann, wenn man uns alle Mittel, die man zur strikten Durchführung der Prohibition braucht, zur Verfügung gestellt hat.«

»Und vielleicht auch noch eine andere Polizei und ein anderes Prohibitionspersonal«, versetzte Tilton. »Glauben Sie, daß das möglich sein wird? Ich habe meine Zweifel. Aber um mich handelt es sich hier nicht, wie ich bereits erwähnte.«

»Beide müssen natürlich reformiert werden«, gab Purnell zu. »Korruption kommt überall vor, in jedem Berufe und auf jedem Gebiete, wir werden uns daher also auch nicht einbilden dürfen, daß wir eine Polizei und ein Prohibitionspersonal schaffen können, die von diesem Übel verschont sind. Was man aber jetzt gegen beide vorbringt, ist zum großen Teil übertrieben.«

»Die Gangstermorde sind aber doch nicht übertrieben.«

»Nein, die nicht«, stimmte Purnell zögernd bei. »So sehr ich aber auch gegen Gewalttaten jeder Art bin, so brauchen wir uns über diese doch nicht aufzuregen. Sie helfen der Sache der Prohibition ungemein.«

»Indem sie die schlimmsten Verletzer der Prohibitionsgesetze beseitigen, ganz recht. Insofern helfen sie ihr mehr als Polizei und Prohibitionsagenten. Wir können aber auch die vielen andern Morde nicht übersehen, die von den Prohibitionsleuten selbst auf den bloßen Verdacht eines oft geringfügigen Vergehens hin begangen werden. Wieviele ganz unschuldige Bürger des Landes haben auf diese Weise ihr Leben verloren, denn merkwürdigerweise sind es immer nur die kleinen Sünder, gegen die man rücksichtslos vorgeht, an die großen wagt man sich nicht heran. Die Prohibitionsleute bleiben auch immer straffrei, da sie sich stets darauf berufen können, daß die Gemordeten eine Bewegung gemacht hätten, als ob sie nach einer Waffe greifen wollten, so daß die Prohibitionsleute in Selbstverteidigung handelten. Einstweilen wird man wohl noch nicht behaupten können, daß die Prohibition auch nur eins von den Übeln beseitigt hat, um deretwillen man sie einführte.«

»Das liegt eben daran, daß, wie ich schon erwähnte, wir bisher wohl Prohibitionsgesetze, aber noch keine richtige Prohibition hatten.«

»Wir haben Prohibition seit länger als zehn Jahren. Sollte das nicht eine genügende Zeit sein, in der sie ihre Wirkung hätte erweisen können? Kongreß und Senat haben den Prohibitionisten bisher alles bewilligt, was sie verlangt haben, denn Präsident Hoover hatte ihnen gesagt, die Prohibition sei ein ›nobles Experiment‹, das durchgeführt werden müsse. Jetzt werden Sie es aber viel schwerer finden, ihre Forderungen durchzusetzen, denn immer größere Teile des Volkes gewinnen die Überzeugung, daß die Übel, die die Prohibition beseitigen sollte, unter ihr nur schlimmer geworden sind, so daß ihre Abschaffung eigentlich kaum mehr ist als eine Frage der Zeit.«

»Das kann man um so leichter behaupten, je weniger es sich beweisen läßt. Aber, glauben Sie mir, es ist eine Lüge. Es gibt keine noch so große Unwahrheit, vor der die Nassen zurückschrecken würden, um die Prohibition mit ihren segensreichen Wirkungen zu Falle zu bringen. Aber den Tag, an dem das geschieht, wird Amerika bedauern.«

»Sie sprechen von den segensreichen Wirkungen. Es wird gut sein, wenn wir uns daran erinnern, daß dieses Interview auch von den Nassen gelesen werden wird, die gegen eine solche Behauptung vielleicht einiges einzuwenden haben werden«, meinte Tilton. »Sie dürften zunächst darauf hinweisen, daß die Gefängnisse, die vor der Prohibition nur selten ganz gefüllt waren, heute bis auf das Zwei- und Dreifache überfüllt sind, so daß die Gefangenen in Korridoren und allen möglichen Winkeln schlafen müssen, wo überhaupt nur ein paar verlumpte und verwanzte Schlafdecken ausgebreitet werden können. Man muß also entweder die Prohibition abschaffen oder neue Gefängnisse bauen, denn diese Überfüllung ist unleugbar eine Folge der Prohibition. Das kann nicht bestritten werden, da die Gefängnisdirektoren angeben, daß durchweg die Hälfte ihrer Gefangenen Prohibitionsverbrecher sind. Man steht also immerhin vor der Tatsache, daß für jeden Trinker, der durch die Prohibition gerettet wird – angenommen, daß das wirklich geschieht – Hunderte und Tausende verdorben werden und in Gefängnissen stecken, die vor Schmutz starren, in denen die greulichsten Laster herrschen und die in ihrer unglaublichen Verwahrlosung richtige Brutstätten von Ansteckung und Krankheit sind. Da entsteht denn doch die Frage, ob dieses Gute – immer angenommen, daß es wirklich erreicht worden ist – nicht zu teuer erkauft wurde? Für die meisten Menschen liegt kein Sinn darin, Hunderte und Tausende sonst vielleicht ganz ehrenwerter Bürger zu opfern, um einen anderen, moralisch minderwertigen Menschen vor sich selbst und den Folgen seiner Schwäche zu schützen.«

»Sie vergessen ganz, daß die Verurteilten Verbrecher sind«, wies Alderman Purnell diese Stellungnahme der Nassen zurück.

»Sie sind es doch aber nur in technischem Sinne. Wir dürfen ebensowenig vergessen, daß sie nur etwas getan haben, was in den meisten Ländern kein Verbrechen ist. Sie sind also gewissermaßen nur künstlich zu Verbrechern gemacht worden.«

»Was die andern Länder tun und lassen, darf uns nicht kümmern.«

»Es waren aber auch vor der Prohibition bei uns keine Verbrechen.«

»Nein, aber jetzt sind es welche. Die Gesetze müssen aufrecht erhalten werden.«

Tilton schrieb.

Dann sagte er:

»Da ist noch ein anderer Punkt, den ich erwähnen möchte. Bisher haben wir nur der Zahl nach festgestellt, daß Hunderte und Tausende von Existenzen jährlich vernichtet werden, um einen Trinker abzuhalten, zum Teufel zu gehen. Das Mißverhältnis tritt aber noch viel greller in die Erscheinung, wenn wir uns die Höhe der Strafen ansehen. Die Prohibitionisten haben sich nicht damit begnügt, Verletzungen des Prohibitionsgesetzes als Vergehen anzusehen, sondern haben sie zu Verbrechen gestempelt.«

»Das mußte geschehen, denn solange wir die geringfügigeren Vergehen nur als Vergehen bestrafen, bestand überhaupt keine Aussicht, das Gesetz durchzuführen.«

Wieder schrieb Tilton eine Weile.

»Gut«, versetzte er, als er eine Anzahl stenographischer Schriftzeichen auf das Papier gebracht hatte. »Es geschah mit dem Erfolge, daß für die zweite und dritte Verletzung des Gesetzes Strafen von großer Härte, von fünf und zehn und selbst fünfzehn Jahren keine Seltenheit sind. Wenn ein Angeklagter nun noch das Unglück hat, von einem Richter abgeurteilt zu werden, der mit den Stimmen der Trockenen in sein Amt gewählt worden ist, so wird er von der Gesetzmaschine zermalmt. Es gibt aber noch etwas Schlimmeres. Das ist das vierte Verbrechen dieser Art. Ich entsinne mich, daß vor noch gar nicht langer Zeit eine Mutter, die zehn Kinder zu ernähren hatte, zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt wurde, weil sie nach dreimaliger Vorbestrafung zum vierten Male Whisky verkauft hatte, um sich und ihre Kinder durchzuschlagen.«

»Ich kenne den Fall«, erklärte Purnell. »Den darf man aber nicht der Prohibition zur Last legen. Sie wissen, einige, vielleicht die meisten Staaten haben ein Gesetz, nach welchem Verbrecher, die ihrer vierten Bestrafung entgegensehen, als unverbesserliche Gewohnheitsverbrecher angesehen und mit lebenslänglichem Zuchthaus bestraft werden. Dem Richter bleibt keine Wahl, vor einiger Zeit passierte das ja sogar einem Manne, der – es handelte sich um seine vierte Bestrafung – nur zwei Dollar gestohlen hatte.«

»Ich weiß«, bestätigte Tilton. »Merkwürdigerweise trifft dieses Gesetz immer nur diejenigen, die es nicht verdient haben. Es ist wie eine Spinnwebe, die großen Diebe fallen durch, die kleinen bleiben hängen. Man kann wirklich manchmal an dem Verstande unserer Gesetzgeber zweifeln. Um aber auf die Frau zurückzukommen – alle ihre Verbrechen waren erst durch die Prohibition zu solchen gemacht worden. Ohne Prohibition wäre sie heute noch bei ihren Kindern. Meinen Sie noch immer, daß der Zweck der Prohibition, eine Anzahl Trinker zu retten, durch die Verurteilung von Hunderttausenden von anderen zu brutalen Strafen, durch die Überfüllung der Gefängnisse, durch die Gangstermorde, durch die Verächtlichmachung der Gesetze in den Augen der Mehrzahl des Volkes und dadurch, daß man das amerikanische Volk in einem erschreckenden Umfang zu einer Nation von Verbrechern macht, nicht doch zu teuer erkauft worden ist?«

»Well, ich kann nur wiederholen, die Prohibition ist Gesetz und muß aufrechterhalten werden. Die Verantwortung für die Härten, die in einzelnen Fällen nicht zu vermeiden waren, tragen die Nassen mit ihrer abscheulichen Agitation gegen die Bewilligung der Mittel, die wir zu seiner strikten Durchführung nötig haben.«


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