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26.

Als Dolores in das Zimmer geschoben wurde und der Mann, der sich als Sheriff ausgegeben hatte, ihr nachdrängte, sah sie ihre schlimmsten Befürchtungen gerechtfertigt. Auf einem Sofa vor einem Tisch, über den eine billige Decke gebreitet war, saß Piggy Donnovan und grinste sie an.

Sein Gesicht war gerötet und eine halbgeleerte Whiskyflasche, die mit mehreren Gläsern aus dem Tische stand, ließ keinen Zweifel über die Ursache dieser Rötung.

Ein einziger Blick verriet Dolores, daß sie sich in einem Zimmer befand, wie man sie in einem gewöhnlichen Boardinghause zu finden erwartet. Nur mit den notdürftigsten Möbeln ausgestattet und durch Gas erleuchtet. Eine Tür führte nach einem anstoßenden Zimmer, das als Schlafzimmer dienen mochte, da in dem ersteren sich kein Bett befand.

»Well, Boß, Ihr Auftrag ist ausgeführt«, sagte der Bully mit der gebrochenen Nase und dem Blumenkohlohr.

»All right, Jesse. Hier ist Whisky. Guter Whisky. Trink.«

Der Mann ließ sich das nicht zweimal sagen, nahm, ohne die Gläser zu beachten, die Flasche vom Tische auf und setzte sie an seine Lippen.

»Verdammt feiner Stoff«, sagte er anerkennend, als er ein halbes Dutzend tüchtige Schlucke genommen hatte.

»Hast du sie durchsucht?« fragte Piggy.

Er erinnerte sich der Prophezeiung in dem Teesalon der Madame Cheiro und hielt es für richtiger, keine Vorsichtsmaßregel zu verabsäumen, wenn ihn auch die Idee, daß dieses Mädchen ihm eine Kugel durch den Kopf jagen sollte, als sonderbar anmutete. Denn nur auf dieses Mädchen konnte sich die Prophezeiung beziehen. Er erwartete nicht, diese Nacht noch mit einem anderen Mädchen zusammenzutreffen, denn er würde bis zum Morgen ›beschäftigt‹ sein, in einer Weise, die den Wunsch nach Zerstreuung nicht aufkommen ließ. Als dunkelblond hatte die Wahrsagerin seine angebliche Mörderin bezeichnet. Well, sie war es. Noch einen Schatten dunkler und man hätte ihr Haar und die Augenbrauen schwarz nennen können.

»Nein«, sagte der Mann und warf die Tasche auf den Tisch, die er ihr abgenommen hatte, »hier ist aber ihre Tasche.«

Piggy nahm sie und öffnete sie.

Das erste, was ihm in die Hände fiel, war ein kleiner, vernickelter Revolver, den er hochhob und in das Licht hielt.

»Hm, hm. verstehen Sie denn, mit solchem Spielzeug umzugehen?« fragte er.

Der Gedanke, daß sie ihn benützen könnte, um sich gegen irgendjemand damit zur Wehr zu setzen, kam ihm so überwältigend komisch vor, daß er laut lachen mußte. Er fürchtete keinen Angriff von ihr, kaum eine Verteidigung. Sein eigener Revolver, ein.38, steckte in seiner rechten Jackentasche und er hatte gelernt, von der Tasche aus zu schießen, ohne ihn erst hervorzuziehen. Nein, von einer solchen Gegnerin hatte er nichts zu fürchten und wenn alle Wahrsagerinnen der Welt ihn gewarnt hätten.

»Well, damit Sie keine Dummheiten machen, denn solch ein Ding geht manchmal von selbst los, werde ich ihn an mich nehmen«, sagte er aber trotzdem, indem er ihn in seine linke Tasche gleiten ließ.

Dann setzte er die Untersuchung des Tascheninhaltes fort. Ein dünnes Bündel Banknoten, das er fand, interessierte ihn nicht, mehr aber das abgetrennte Stück eines Scheines der Expreßgesellschaft, auf Grund dessen sie ihre Koffer an dem Gepäckschalter der Eisenbahn umschreiben lassen konnte. Auch einige Zettel und Briefe fanden sich noch darin, die er aber nur oberflächlich prüfte, da sie ihn anscheinend ebenfalls nicht interessierten. Er beförderte alles wieder in die Tasche zurück, mit Ausnahme des Revolvers, und schloß sie.

»Soll ich sie durchsuchen?« fragte der Mann dienstfertig.

Piggy nickte.

»Es ist nicht nötig!« rief Dolores. »Ich habe nichts mehr bei mir, denn ich habe keine Tasche in meinem Kleide.«

Der Mann kehrte sich nicht daran, sondern ließ seine großen, fleischigen Hände über ihren Körper gleiten.

»Nichts zu finden. Ich denke, das Girl sagt die Wahrheit«, erklärte er dann.

»All right, Jesse. Augenblicklich brauche ich dich nicht mehr. Du kannst gehen. Aber bleib in deinem Zimmer, damit ich weiß, wo ich dich finden kann.«

»Jawohl, Boß. Aber ich sehe, es ist noch etwas in der Flasche. Noch einen Schluck. Es lebe die Prohibition!«

Und ohne eine Erlaubnis abzuwarten, nahm er die Flasche wieder vom Tische auf, setzte sie an seine wulstigen Lippen und hörte nicht eher auf zu trinken, bis ihm der Atem wegblieb. Dann warf er einen seltsamen Blick auf Dolores, die bleich und zitternd vor dem Tische stand, einen Blick, den sie aber gar nicht beachtete, denn ihre Aufmerksamkeit galt allein Piggy Donnovan, und verließ das Zimmer.

»Wollen Sie mir nun endlich sagen, was das bedeutet und was Sie von mir wollen?« rief Dolores.

Sie fürchtete einen Überfall von ihm, von ihm, dem sie sich die ganze Zeit über mit Aufbietung aller List versagt hatte. Jetzt, wo sie wehrlos war, wo er keine Rücksicht mehr zu nehmen brauchte, würde er kommen. Der Mann hatte unten von ihrem Liebhaber gesprochen, der hier auf sie wartete.

Aber sie würde sich wehren, mit allen Kräften, würde, wenn es nötig sein sollte, das ganze Haus zusammenschreien.

Er schien das aber nicht im Sinne zu haben, denn er blieb ruhig sitzen und seine stahlharten Augen glitten mit einem Blicke über sie hinweg, den sie fürchten gelernt hatte.

»Nehmen Sie sich einen Stuhl und setzen Sie sich.«

Dolores tat es. Sie fühlte sich schwach, fühlte, daß sie einer Stütze bedurfte.

»Also Sie sind Dolores Carranza, nicht Ramona Barranca?« begann er von neuem.

Sie hatte gehofft, daß ihm das verborgen geblieben sein würde. Es war eine schwache Hoffnung gewesen, aber sie hatte sich doch daran geklammert. Jetzt wußte sie, daß alles verloren war. Merkwürdigerweise flößte ihr der Gedanke weniger Furcht ein, als ein Angriff von dieser Bestie, dem sie am Ende doch unterlegen wäre, so sehr sie sich auch gewehrt hätte.

Jetzt noch zu leugnen, war völlig zwecklos.

»Ich bin Dolores Carranza«, antwortete sie entschlossen und gleichgültig gegen alles, was sich daraus entwickeln könnte, »die Tochter des Mannes, den Sie erst entführt und dann ermordet haben, weil Mr. Beesemyer Sie dafür bezahlt hat.«

Sie hatte keinen Beweis dafür, schoß aber die Anklage auf Piggy ab.

»So, so, also das wußten Sie?« entgegnete er ruhig, indem er sich noch den Rest des Whiskys aus der Flasche in ein Glas goß. »Und Sie sind nach Chikago gekommen, um unter dem Namen Ramona Barranca die Beweise dafür aus mir herauszulocken? Sehr geschickt und mutig, das muß ich sagen. Ich liebe so was eigentlich, aber es wird das nicht von Ihnen abwenden, was ich jetzt gezwungen bin zu tun. Wie weit sind Sie mit Ihren Feststellungen, wenn ich fragen darf?«

»Ich habe alle Beweise in den Händen.«

»Sehr schön. Da Sie es nun einmal wissen, brauche ich es auch nicht mehr zu bestreiten. Aber Sie hatten sich gar nicht erst so viel Mühe zu machen brauchen. Wenn Sie mich gefragt hätten, ich glaube nicht, daß ich es Ihnen verschwiegen haben würde. Wozu auch? Vor der Polizei bin ich sicher. Die muß mich immer wieder freilassen, selbst wenn sie sich mal gezwungen sieht, mich zu verhaften. Um ihrer selbst willen, denn wir bezahlen sie für ihre Hilfe und wissen zu viel von ihr, so daß sie sich also nur selbst schützt, wenn sie uns schützt. Aber Sie wissen zu viel von mir und deshalb werden Sie dieses Zimmer nicht mehr verlassen.«

»Wollen Sie mich ermorden?« rief sie mit zitternden Lippen und weitaufgerissenen Augen.

Piggy strich sich die Stirnlocke seiner roten Haare aus dem Gesicht und ein böser Blick trat in seine stahlharten Augen.

»Nein, das werden Sie selbst tun«, sagte er brutal.

Dolores schaute ihn verständnislos an.

»Sind Sie verrückt oder betrunken?« fragte sie ruhiger, als sie es sich zugetraut hatte.

»Keins von beiden. Ich betrinke mich nie, wenn ich Geschäfte vorhabe, wie ich aber sagte, Sie werden es selbst tun. Sie und Ihr Freund Tilton, den ich jeden Augenblick erwarte. Dort in jenem Zimmer.«

Er deutete auf die Tür, die in das Nebengemach führte.

Dolores erschrak. Sie hatte darauf gerechnet, daß Tilton auf irgendeine Weise bald entdecken würde, was ihr geschehen war. Es unterlag keinem Zweifel, daß er Mr. Brown anrufen würde, nachdem er eine Zeitlang vergeblich auf sie gewartet hatte. Der würde ihm sagen, daß sie von Banditen entführt worden war. Er würde sofort an Piggy Donnovan denken und – vielleicht, obwohl sie nicht wußte wie – herausfinden, daß sie in dieses Haus verschleppt worden war.

Jede solche Hoffnung war ihr aber jetzt genommen, genommen durch Piggys letzte Bemerkung. Er hatte ihm eine Falle gestellt, wie ihr. Nichts ist leichter für einen Gangster als das, mit Hilfe von Leuten, die vor nichts zurückschrecken.

»Ja«, fuhr er fort, »Sie werden sich selbst töten, beide, Sie und Tilton. Es würde eine Dummheit sein, wenn ich es tun wollte und in einer Weise, daß es wie Mord aussieht. Es kann mir zwar nichts geschehen, denn daß man mir nichts nachweisen könnte, dafür würde ich schon sorgen, aber der Verdacht würde doch auf mich fallen und das ist auch ein Nachteil, den ich lieber vermeiden möchte. Nein, man wird Sie und Ihren Freund Tilton morgen früh in dem Schlafzimmer dort finden, tot, gestorben an Gasvergiftung. Ich habe Leute genug, um jeden Widerstand von Ihrer Seite zu brechen.«

Dolores saß da, entsetzt, wollte etwas sprechen, brachte aber keinen Ton über ihre trockenen Lippen.

Piggy bemerkte es und es gab ihm ein Gefühl der Genugtuung.

»Ja, Miß Carranza, die Zeit ist jetzt gekommen, wo Sie die Täuschung bezahlen müssen, die Sie so lange geübt haben. Sie haben es gut gemacht, das muß ich sagen, denn ich glaubte an Ihre Rolle der Ramona del Barranca, obwohl mich May ein paarmal warnte. Aber jeder Spion zahlt mit seinem Leben, das ist das Gesetz der Unterwelt, das einzige Gesetz, um das wir uns kümmern. – Ich habe dieses Haus ausgesucht, es eignet sich vorzüglich für meine Zwecke. Es ist eine alte Bude, aber sie hat ihre Vorteile. Einer davon ist, daß, mit Ausnahme vom ersten Stock, Gas gebrannt wird. Es wird aufgesucht von Pärchen, die ein Zimmer manchmal nur stundenweise gebrauchen, Well, Sie und Tilton waren ein solches Pärchen, mieteten diese beiden Zimmer hier, waren aber so achtlos mit dem Gas – Sie wissen, man kann mit Gas nicht vorsichtig genug sein, es ist schon viel Unheil dadurch entstanden –, so daß man Sie morgen tot auffinden wird, vielleicht, wahrscheinlich sogar, nimmt man Selbstmord an – auf keinen Fall wird man an Mord denken. Der Eigentümer des Hauses steht sich gut mit der Polizei und man wird seine Erklärungen ohne weiteres annehmen. Ein Entkommen für Sie ist nicht möglich. Das Schlafzimmer hat kein Fenster und zu schreien möchte ich Ihnen nicht raten.«

Es war ein Plan, so gemein, daß ihn nur ein Gehirn, wie das dieses Gangsters aussinnen konnte. Sie nicht nur töten, sondern auch noch unter den Verdacht bringen, mit einem Manne ein Absteigequartier aufgesucht zu haben.

»Ihr Plan ist so bübisch wie Sie selbst«, zwang sich Dolores mit bleichem Gesicht zu antworten.

Sie wollte hinzufügen, daß er sich aber in einem großen Irrtum befinde, wenn er glaube, daß ein Verbrecher ein vollkommenes, spurenloses Verbrechen ersinnen könne. Daß trotz aller seiner Schlauheit der Verdacht eines Selbstmordes oder Unfalles ausgeschlossen war. Durch einen kleinen Zufall. Den Umstand nämlich, daß im Augenblicke ihrer Entführung Mr. Brown nach Hause gekommen war und sie ihm zugerufen hatte, daß sie verhaftet sei. Zweifellos hatte er sich sofort nach der Polizeistation begeben und dort wußte man jetzt, daß sie entführt worden war. Wenn man dann morgen ihre Leiche zusammen mit der Tiltons fand, würde man nicht an ein Unglück glauben und Piggy Donnovan als den einzigen, dem eine solche Tat nützen konnte, mit dem Verbrechen in Verbindung bringen.

Das wollte sie ihm entgegenrufen, aber sie besann sich. Wenn man im Zweifel ist, soll man schweigen. Es hätte ihr Ende wahrscheinlich nur beschleunigt. Piggy Donnovan war zu weit gegangen, um noch zurückzukönnen, selbst wenn er gewußt hätte, daß sein Plan, einen Selbstmord oder Unfall vorzutäuschen, mißlungen war. Dann erst recht.

Er sah, daß sie noch etwas hatte sagen wollen und fragte:

»Well –?«

Ehe sie antworten konnte, wurde die Tür aufgerissen und eine Frauensperson stürmte in das Zimmer, Piggy hatte die Tür nicht verschlossen. Er fühlte sich durchaus imstande, jeden Fluchtversuch seiner Gefangenen zu verhindern, und erwartete von Minute zu Minute die Ankunft seiner Leute mit Tilton. Jetzt aber sprang er auf, denn er wußte, daß der Besuch nichts Gutes bedeutete. Das Gesicht des Mädchens war verzerrt und ihre rechte Hand hielt einen Revolver.

Es war May Dryden, das Mädchen, das er um Ramona del Barrancas willen ohne Besinnen hatte fallen lassen. Er kannte ihre Veranlagung, die völlig triebhaft war, wußte, daß sie von einer krankhaften Eifersucht beherrscht war, alles aus Gefühlsregungen heraus tat, ohne sich um die Folgen zu bekümmern. Es war ihm gleichgültig gewesen. Was war eine Frau in seinem Leben? Er war der letzte, der Rücksichten auf eine Frau nahm.

Jetzt sah er aber im Augenblicke ein, daß das falsch gewesen war. May war unberechenbar, gefährlich, ihre Augen sprühten in rasender Leidenschaft und ihr Gesicht war bleich wie der Tod.

»Also doch!« schrie sie, nicht mehr Herrin ihrer Sinne. »Jesse hatte recht, als er sagte, ihr seid in diesem Zimmer, habe ich euch endlich erwischt? Du hast mich betrogen, Piggy. Ich Hab es gesehen, die ganze Zeit – und nichts gesagt. Jetzt ist es aber zu viel. Beide sollt ihr büßen, sollt wissen, daß May Drydon sich nicht beiseite schieben läßt, wie –«

Er sprang auf, um ihr den Revolver zu entreißen, denn er sah, daß sie zu allem fähig war und offenbar die Sachlage ganz falsch einschätzte, aber er hatte kaum ihren Arm berührt, als ein Schuß krachte.

Piggy taumelte. Auf seiner Stirn zeigte sich eine kleine Wunde, von einem pulvergeschwärzten Hof umgeben, aus der Blut sickerte. Dann sank er rücklings zu Boden, durch seinen Körper ging ein Zucken und gleich darauf lag er still und bewegungslos auf dem abgenützten Teppich.

Einen Augenblick lang blickte May entgeistert aus ihn, dann schien sie alle Kraft zu verlassen. Die leidenschaftliche, wahnsinnige Eifersucht fiel von ihr ab wie ein nasser Mantel, und schluchzend und in bitterer Verzweiflung warf sie sich neben seiner Leiche nieder. »Piggy wach auf!« schrie sie. »Wach auf. Ich habe es nicht gewollt. Der Schuß ging los – ich weiß nicht, wie es geschah. Ich war von Sinnen. Gott im Himmel, ist denn niemand da, der hilft?«

Der Gedanke, daß sie auch Dolores Carranza, die angebliche Ramona del Barranca, ihre vermutete Nebenbuhlerin, hatte töten wollen, war offenbar in ihr ausgelöscht. Sie kniete neben der Leiche, strich ihr mechanisch die Haare aus der Stirn, schaute auf die Wunde, die so unscheinbar aussah und doch ein Leben vernichtet hatte, und dann hilfeflehend auf Dolores.

Die war von ihrem Stuhl aufgesprungen und stand zitternd vor ihr, ohne imstande zu sein, sich auch nur zu regen. Ihre Sinne schienen sie fast verlassen zu haben und doch war sie sich bewußt, daß ihre Gedanken durcheinanderschwirrten und einer den anderen jagte, ohne daß ihr Zeit blieb, auch nur einen einzigen auszudenken.

Sollte sie der Unglücklichen sagen, daß sie sich einer verhängnisvollen Täuschung hingab, daß sie niemals zwischen ihr und Piggy gestanden habe und daß sie hier nicht in ein vermutetes Liebesnest, sondern in eine Totenkammer eingedrungen war?

Sie stand unschlüssig.

Es graute ihr, dem Mädchen die letzte Illusion zu rauben. Sie würde noch viel unglücklicher sein, wenn sie wußte, daß sie besinnungslos und ohne allen Grund gemordet. Der Mann da, der jetzt vor seinen Richter gegangen war, hatte ihr wohl niemals gehört, hatte mit ihr nur gespielt, während sie ihm alles gegeben, was in ihr lebte. Aber sie glaubte doch, daß sie ihre Frauenwürde infolge schlimmster Herausforderung an ihm gerächt hatte. Sollte sie ihr diesen Trost, wenn es einer war, nehmen?

Es blieb ihr erspart, noch weiter darüber nachzudenken, denn draußen auf dem Korridor wurden vielfache schwere Schritte laut und eine dröhnende Stimme rief:

»Hierher, Boys! In diesem Zimmer fiel der Schuß.«

Im nächsten Augenblick wurde die Tür aufgestoßen und eine Anzahl Männer, in ihrer Mitte die hohe Gestalt Tiltons, drängten sich über die Schwelle.

»Dolores!« rief Tilton entsetzt, aber zur gleichen Zeit doch auch von aller Angst und Sorge befreit, als er sie am Kopfende der Leiche Piggys erblickte, unverletzt, und ein Mädchen, das er nicht kannte, das aber augenscheinlich die Tat begangen, neben ihr knien sah. »Gott sei Dank. Ich hatte gefürchtet –«

Der eine Detektiv hatte sich zu dem Toten niedergebeugt. Als er sah, daß ihm keine Hilfe mehr gebracht werden konnte, untersuchte er geschäftsmäßig seine Taschen und brachte neben den beiden Revolvern das Bündel Banknoten zum Vorschein.

»Wer hat das getan?« wandte er sich an Dolores, obwohl ihm das verstörte Benehmen May Drydens kaum noch einen Zweifel darüber ließ.

Sie zeigte auf May, fügte aber hinzu: »Sie tat es in Selbstverteidigung und ist schuldlos.«

Zum ersten Male blickte May, deren Aufmerksamkeit bisher nur Piggy gegolten hatte, ihr voll ins Gesicht. Es lag keine Erbitterung mehr, sondern etwas wie stumme Verehrung über dieses unerwartete Zuhilfekommen von dieser Seite in ihren Augen. Dann ging ein Zucken durch ihren Körper, die harten Linien in ihrem Gesicht lösten sich und sie brach in ein hysterisches, aber befreiendes Schluchzen aus.


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