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24.

Dolores Carranza saß eine Weile schweigend neben ihrem Begleiter. Es widerstrebte ihr, sich mit ihm in ein Gespräch einzulassen, obwohl ihre Empörung über ihre Verhaftung nach einer Äußerung drängte. Seine letzte rohe Bemerkung hatte ihr vollends alle Lust dazu genommen.

Für wen hielt sie dieser ungebildete Mensch? Oder verfuhr die Polizei mit allen so? Hörte der Mensch im Augenblicke seiner Verhaftung auf, er selbst zu sein, war er nur einfach ein Gefangener, gleichviel ob unschuldig oder nicht und gleichviel ob aus den schmutzigsten Tiefen oder aus den Höhen der menschlichen Gesellschaft kommend? Und wurden sie alle deswegen gleich behandelt, in einer Art, die auf die Gosse abgestimmt war?

Und wenn man sie nun auf der Polizei festhielt, in eine verlauste Zelle steckte wie Mrs. Brown? Alles war möglich. Sollte sie schlafen oder doch wenigstens liegen auf einer Pritsche, in Decken, die niemals gereinigt wurden, bis sie zu Lumpen zerfielen; in denen Betrunkene und vielleicht Leute mit ekelhaften ansteckenden Krankheiten gelegen hatten?

Sie dachte wieder an Tilton. Man mußte ihr erlauben, ihn anzurufen. Sie würde darauf bestehen. Er war wohl noch in dem Café, würde warten und sich wundern, warum sie nicht kam. Wenn nicht, dann würde sie Verbindung mit der Tribune suchen, die war sicher in der Lage, ihn zu finden, oder würde ihr auch selbst helfen.

Sie hatte zwar gehört – es war wenigstens oft in den Gangstergesprächen, die sie mit angehört, erwähnt worden –, daß die Polizei den Gefangenen alle möglichen Schwierigkeiten in den Weg legt, wenn sie sich mit irgend jemand, der ihnen helfen soll, freizukommen, in Verbindung setzen wollen. Die Polizei empfindet das als gegen ihr Interesse gerichtet. Sie hat den Gefangenen ihre Schuld nachzuweisen und sieht es daher nicht gern, daß sie die Hilfe von Leuten, selbst eines Anwaltes anrufen, die ihr das erschweren könnte. Sie tut es nicht offen, denn der Gefangene hat ein Recht darauf und am Ende gelingt es ihm ja auch immer. Aber sie macht es ihm schwer, wird rücksichtslos und beruft sich immer auf die Erlaubnis eines Vorgesetzten, der zu dieser Zeit gerade abwesend ist.

In bezug auf Gangster ist das ja etwas anderes. Die werden meist bevorzugt behandelt. Man erlaubt ihnen jeden Nachmittag Ausgänge ›zum Zahnarzt‹ oder zum Zwecke anderer notwendiger Verrichtungen in der Stadt, mit oder ohne Begleitung von Beamten. Aber mit den übrigen Gefangenen, besonders wenn sie sich nicht Vergünstigungen erkaufen können, ist das immer anders.

Sie würde sich aber nicht einschüchtern lassen, sondern darauf bestehen, Tilton anzurufen und er würde ihr sicher helfen. Die Polizei würde es wahrscheinlich auch gar nicht wagen, sie daran zu hindern, wenn sie erfuhr, daß eine Zeitung hinter ihr stand.

Das Auto rollte mit Überschreitung aller Geschwindigkeitsvorschriften durch die Straßen. Ihr Blick irrte durch die Fenster. Sie kannte die Gegend, kannte sie von ihren täglichen Fahrten mit der Elektrischen nach der Stadt. Lag die Polizeistation und das Gefängnis in dieser Gegend? Sie hatte sich nie darum gekümmert.

Die Häuser hörten bald auf, geschlossene Reihen zu bilden, Felder drängten sich zwischen sie und der Ort war zu Ende. Eine Straßenbahn rasselte an dem Auto vorüber und sie wußte jetzt, daß sie sich auf der Straße nach Chikago befanden, hier konnte das Gefängnis doch nicht mehr sein.

»Wo führen Sie mich hin?« rief sie. »Das ist doch die Straße nach Chikago.«

»Well, Chikago ist doch eine ganz schöne Stadt«, antwortete der Mann auf dem Sitze neben ihr spöttisch. »Meinen Sie nicht? Was haben Sie daran auszusetzen?«

»Ich denke, Sie bringen mich nach der Polizei in Salinas«, wandte sie ein.

»Nein, nach Chikago«, erklärte der Mann. »Wir sind von der föderierten Polizei.«

Dolores schwieg.

Nach kurzer Zeit erreichten sie Chikago. Das Auto wand sich durch ärmliche, teilweise mit Neubauten besetzte Vorstadtwohnungen hindurch, in denen viele leere Läden gähnten. Plakate von Hausagenten an den Scheiben luden vertrauensselige Leute ein, in ihnen Geschäfte zu eröffnen. In einzelnen, wie noch vorhandene Firmenaufschriften und andere Zeichen verrieten, war dieser Versuch schon unternommen worden, bis die Inhaber, um eine Erfahrung reicher und um ihr bißchen Geld ärmer, das aussichtslose Unternehmen wieder hatten aufgeben müssen, um irgendwo den herzbrechenden Kampf mit dem Dasein von neuem zu beginnen.

Bald kam man aber in die innere Stadt. Die Straßen wurden besser, belebter. Ein unaufhaltsames, lückenloses Gewühl von Autos und Fußgängern, die der Geschäftsschluß jetzt auf den Heimweg sandte, füllte sie.

Die Fahrt schien endlos und Dolores fieberte, wenn sie an Tilton dachte, der in dem Café auf sie wartete und den sie nun mit dem Fernsprecher wahrscheinlich nicht mehr erreichen würde.

Soweit sie feststellen konnte, schlug das Auto die Richtung nach dem nördlichen Stadtteil ein, vermied aber den Loop und hielt sich mehr nach dem Industrieviertel im Nordwesten.

Endlich kam es vor einem großen Hause in einer abgelegenen Straße, die durch hohe und oft verwahrloste Geschäftshäuser mit unglaublich schmutzigen Fenstern dunkel und düster gemacht wurde, mit einem scharfen Ruck zu einem halt.

»Da sind wir«, sagte der Mann neben ihr. »Steigen Sie aus. Wenn Sie aber einen Laut von sich geben oder sonst Dummheiten machen, bohrt Ihnen mein Revolver ein Loch in den Kopf.«

Dolores gehorchte.

Jetzt würde sich ja alles aufklären.

Sie nahm sich vor, bei dem Vorgesetzten des Sheriffs über dessen rohes Betragen sich zu beschweren. Als sie aber den Fuß auf die Erde setzte und einen Blick über die Front des Hauses warf, zog sie ihn erschrocken wieder zurück.

Das Haus war dunkel, mit Ausnahme von ein paar erleuchteten Fenstern in den oberen Stockwerken, deren Licht aber durch herabgelassene dichte Rollvorhänge stark gedämpft wurde. Vor allem brannte keine Laterne vor dem Eingänge.

Das war keine Polizeistation. Es wurde ihr jetzt mit Schrecken klar, daß ihre Verhaftung nur ein Vorwand gewesen und daß sie in eine Falle gegangen war.

Zitternd und blaß wandte sie sich an den angeblichen Sheriff.

»Was haben Sie mit mir vor?« rief sie. »Das ist kein Polizeigebäude.«

»Natürlich nicht, mein Schätzchen«, antwortete der Mann mit einem rohen Lachen. »Wollten Sie nach der Polizei? Well, ich kenne Leute, die ihr gern fernbleiben. Ihnen steht etwas viel Angenehmeres bevor. Ihr Liebhaber wartet oben.«

Sie wußte jetzt, daß sie Piggy Donnovans Gangstern in die Hände gefallen war und daß er der ›Liebhaber‹ war, der oben auf sie wartete. Im gleichen Augenblicke wurde es ihr auch klar, wo sie den ›Sheriff‹, der ihr von anfang an so bekannt vorgekommen war, gesehen hatte. Es war in dem Speakeasy gewesen, wo sie aufgetreten war. Er hatte dort eines Abends mit Piggy an einem Tische gesessen. Wie sie das nur hatte vergessen können?

Es war ziemlich gleichgültig, sie wäre doch machtlos gewesen, auch wenn sie ihn sofort wiedererkannt hätte. Es hätte sie aber verhindert, an ihre Verhaftung zu glauben und Mr. Brown auf eine falsche Fährte zu senden.

Sie war überzeugt, daß Mr. Brown sofort nach der Polizei gegangen war, um die Sache aufzuklären. Dort hatte man zweifellos inzwischen herausgefunden, daß es sich um eine Entführung handelte, für welche die Verhaftung als Deckmantel gedient hatte. Nur an Piggy Donnovan würde man nicht denken.

Ihre Augen irrten noch einmal über die Außenseite des Hauses.

Über dem Eingang sah sie ein erleuchtetes Glasschild mit der Aufschrift:

 

»Madame Cheiros Tee Salon.
Ihre Zukunft wird Ihnen unentgeltlich
aus den Blättern des besten Tees enthüllt,
den Sie jemals getrunken haben.
Bringen Sie Ihre Freunde.«

 

Merkwürdig, daß sie das vorher nicht gesehen hatte.

Was beabsichtigte Piggy Donnovan mit ihr?

Das Schlimmste natürlich. Aber warum ein solches Haus?

Sie fühlte einen Stoß im Rücken, der sie über die eine Stufe nach dem Hausflur, dessen Tür offen stand und der schwach erleuchtet war, stolpern ließ.

»Dritter Stock!« rief der Mann hinter ihr, der ihr so dicht aus dem Fuße folgte, daß sie seinen Atem hören konnte.

Es blieb ihr nichts anderes übrig, als zu gehorchen, was immer ihr auch in den nächsten Minuten bevorstehen mochte. Sie stieg die Treppen empor, die von oben ein schwaches Licht empfingen, und schritt auf dem ersten Absatz an einer großen Doppeltür vorüber, an der ein Schild mit der Aufschrift »Madame Cheiros Tee Salon« befestigt war. Aus dem Lokal klangen gedämpfte Stimmen zu ihr heraus und einen Augenblick lang kam ihr der Gedanke, laut um Hilfe zu rufen. Bevor sie ihn aber ausführen konnte, hatte der Mann sie schon weitergedrängt, die nächste Treppe hinauf, die nicht mehr erleuchtet war.

Ein Ruf um Hilfe wäre auch nutzlos gewesen, Piggy hätte das Haus gewiß nicht gewählt, wenn er der ungehinderten Ausführung seiner Absichten hier nicht sicher gewesen wäre. Die Gäste gehörten vermutlich alle zu seiner Klasse, waren Gangster wie er, oder gehörten doch wenigstens zur Unterwelt, in der die Regel gilt, sich nicht in die Geschäfte und Angelegenheiten anderer zu mischen.

Auf der dritten Treppe, die wie die vorhergehende nach einem langen Korridor führte, in den sich wie in einem Boardinghause oder Hotel zu beiden Seiten Türen von Zimmern öffneten, herrschte ein Halbdunkel, da das Fenster an seinem Ende das trübe Licht des scheidenden Tages einließ.

»Halt!« rief ihr der Mann zu, als sie vor der Tür eines bestimmten Zimmers angelangt war.

Er klinkte die Tür auf, die nicht verschlossen war und schob sie hinein.


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