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1.

Norman Tilton, seit zwei Tagen Reporter der »Tribune« und Louis Dorsey, Verleger der »Gangster Stories«, eines Magazins für das sensationshungrige große Publikum, wandelten durch die Straßen des »Loop« in Chikago, des Geschäfts- und Wolkenkratzerviertels. Die Zeit des Officeschlusses war längst vorüber und in den turmhohen Gebäuden zeigten sich nur noch vereinzelt erleuchtete Fensterreihen. Der Kampf um die Macht über das amerikanische Volk, der von diesen Eisenbetonmassen ausgeht, schien in der Dunkelheit aber nur eine drohendere Form angenommen zu haben und von einem dieser Monumentalbaue gegen die anderen geführt zu werden.

Trotzdem zeigten sich die Straßen noch sehr belebt, nur das würgende Gedränge von einer oder zwei Stunden vorher fehlte.

Ohne besondere Eile schritten beide die Randolph Street hinunter nach der Clark Street und vorüber an dem Ashland Block, in dessen siebentem Stockwerk ein Vierundzwanzigstunden-Betrieb herrscht. Denn hier befinden sich die Hauptofficen der »Associated Preß« und die sämtlichen Zeitungen der Stadt gehörende Nachrichtenagentur, von hier aus wandten sie sich dem Norden zu.

»Well, was sagte der City Editor, als Sie sich zum Dienst meldeten?« fragte Dorsey seinen Kollegen von der Zeitung.

»Ich glaube, die Geschichte mit Mr. Lingle hat ihm mehr zugesetzt, als er sich merken lassen wollte«, antwortete Tilton. »Es war ja auch unerhört, einen Zeitungsreporter zu ermorden. So lange die Gangsters und Racketeers sich nur untereinander über den Haufen schossen, brauchte sich niemand darüber aufzuregen. Sie können ihre Streitigkeiten nun einmal nicht vor Gericht ausfechten, ohne Dinge preiszugeben, die geheim bleiben sollen. Es ersparte der Polizei Arbeit und – Verlegenheit, denn es war ja immer zehn gegen eins zu wetten, daß sich die Täter, die doch nur im Auftrage handeln, des Schutzes ihrer Organisation erfreuen. Und die Polizei wird ja von den Verbrecherorganisationen dafür bezahlt, daß sie ihre Leute nach Möglichkeit in Ruhe läßt. Oder haben Sie schon einmal gehört, daß die Polizei Verbrechen der Organisationen aufgeklärt hätte?«

»Kann mich nicht erinnern«, entgegnete Dorsey. »Und Sie werden mir zugeben müssen, daß mir das als Verleger der ›Gangster-Geschichten‹, der sich berufsmäßig mit der amerikanischen Verbrecherwelt zu beschäftigen hat, nicht gut hätte entgehen können. Die Polizei tut ja ihre Arbeit, wenn auch nicht gerade die, die man von ihr erwartet, aber es sind immer nur die Einzelverbrecher, oder solche, die nur in kleinen Gruppen arbeiten, die sie fängt. Das ist ungefährlich für sie und sie stößt dabei bei niemand an. Die organisierten Verbrecher sind vor ihr sicher genug. Die haben das Erfordernis der neuen Zeit begriffen und den Grundsatz der geschäftlichen Organisation auf das Verbrechen angewendet. Und gegen eine Organisation anzukämpfen, die bis in die höchsten Kreise hinauf reicht, ist auch für einen ehrlichen Polizeibeamten, falls es solche überhaupt gibt, nicht ohne Gefahr. Er weiß ja nicht, ob nicht vielleicht sein Chef Nutznießer dieser Organisation ist und eine Bloßstellung fürchten muß, wenn etwa der Stein unvorsichtigerweise ins Rollen gebracht würde. Gelegentlich, mit Rücksicht auf die öffentliche Meinung, fängt man ja ein Mitglied, natürlich niemals den eigentlichen Täter, sondern immer nur einen Mitläufer. Dem stellt die Organisation dann einen gerissenen Anwalt, der zunächst dafür sorgt, daß der Angeschuldigte gegen eine Bürgschaft, die prompt erlegt wird, aus der Haft entlassen wird und verschleppt dann die Sache so lange, bis das Publikum das Interesse an dem Falle verloren hat und er ohne großes Aufsehen außer Verfolgung gesetzt werden kann. Das ist um so leichter, als sich die Polizei alle Mühe gibt, nur unzureichendes Beweismaterial gegen den Angeschuldigten vorzubringen.«

»Das bezieht sich aber nicht nur auf Chikago«, nahm Tilton wieder das Wort. »Es ist überall dasselbe. In Neuyork hat man ja erst letzthin festgestellt, daß Richter an die Politiker, die auch von den Verbrecherorganisationen regelmäßige oder unregelmäßige Einnahmen beziehen, zehntausend Dollar bezahlt haben, um ihre Stellung zu erhalten. Das hat man nachgewiesen. Aber wie selten gelingt eine solche Feststellung? Das muß der Richter in den vier Jahren Die städtischen und die Beamten der einzelnen Staaten, einschließlich Richter und Polizei, werden alle vier Jahre gewählt. seiner Amtsperiode, wenn er mit Hilfe seiner Freunde und gegen gute Bezahlung eine Wiederwahl nicht durchsetzen kann, wieder – und mit möglichst hohem Aufschlag – hereinholen. Wie das geschieht, wissen wir ja alle, aber es ist eine andere Sache, es zu beweisen.«

»Unsere Richter sind nicht besser, aber bei der Polizei sind die Zustände noch viel schlimmer«, bemerkte Dorsey. »Ein Polizeihauptmann hier in Chikago bezieht ein Gehalt von sechstausend Dollar im Jahre, muß aber fünfundvierzigtausend Dollar an die politischen Grafter bezahlen, bevor er die Stellung bekommt. Rechnen Sie hierzu noch die nicht geringen periodischen Wahlkosten, so haben Sie einen Begriff davon, was der Mann wieder herausholen muß.«

»Den habe ich bereits, denn das System ist ja keineswegs auf Neuyork und Chikago oder auf die Großstädte überhaupt beschränkt. Ich komme, wie Sie wissen, aus Sakramento. Das ist eine Stadt von hunderttausend Einwohnern. Dort hatte ein Rechtsanwalt die Polizei beschuldigt, daß sie öffentliche Häuser, Spielhöllen und Speakeasies duldet, aus Gründen, die natürlich jedem klar sind. Nur war er nicht in der Lage, die Beweise für seine Beschuldigung zu liefern, die man von ihm forderte, denn man machte ihm die Sache nicht leicht. Es wurde eine Großjury eingesetzt, um seine Angaben zu prüfen. Sie ließ einen Detektiv von San Franzisko kommen, um alle die in dem Schriftsatze des Rechtsanwaltes namhaft gemachten Plätze aufzusuchen und über seine Wahrnehmungen zu berichten. Der öffentliche Ankläger wurde hiervon mit dem Ersuchen um strengstes Stillschweigen in Kenntnis gesetzt. Nach vierundzwanzig Stunden war es allen Beteiligten mit einer Personenbeschreibung des Detektivs bekannt. Um nun aber doch ihr Ansehen zu wahren, zog die Jury diesen Detektiv zurück und gab den Auftrag, diesmal aber ohne Mitteilung an den öffentlichen Ankläger, an eine Privatdetektivin aus der Stadt. Sie beschwor, daß sie nirgends etwas Unrechtes wahrgenommen habe. Der Detektiv der Gegenseite beschwor aber, daß alle Beschuldigungen auf Wahrheit beruhten. Und als die Großjury auf den seltsamen Umstand aufmerksam gemacht wurde, daß alle Polizeibeamten bis herab zum einfachen Polizisten wohlhabende Leute seien, kostspielige Autos, Häuser und Ländereien besäßen, hatte sie die Dreistigkeit, in ihrem Bericht zu erklären, daß dies nur ein Beweis des allgemeinen Wohlstandes der Stadt und die Folge von Sparsamkeit, guter Kapitalanlage und sonstiger Umsicht sei.«

»Ein Wohlstand, der sich ausschließlich auf Polizeibeamte, Politiker und die anderen beschränkt, die in der glücklichen Lage sind, ihr Gehalt nur als eine kleine Nebeneinnahme anzusehen«, bemerkte Dorsey sarkastisch.

»Well, ungefähr so. Jedenfalls war der Fall damit für die Jury erledigt. Aber er beweist, wie vollkommen die Verbrecherorganisationen heute ausgebaut sind und wie hoch die Beträge sein müssen, die die ungesetzlichen Unternehmungen ihnen zahlen, um ihre Tätigkeit ungescheut ausüben zu können, denn keine Stelle darf übersehen werden. Mir sagte selbst ein Polizist, wenn er noch einmal gewählt würde, habe er für sein Leben genug.«

»Ganz wie bei uns. wenn man sich das vergegenwärtigt, so findet man es nicht mehr sonderbar, wenn Männer wie Al Capone und Bug Morgan, die man nicht nur in Amerika, sondern in der ganzen Welt als die Häupter der beiden herrschenden Verbrecherorganisationen in Chikago kennt und denen man nachsagt, daß sich jeder schon ein Vermögen von über fünfzig Millionen Dollar geschaffen hat, unbehelligt bleiben. Bis auf ein paar kleine Nadelstiche, die man ihnen hin und wieder versetzt. Ich glaube, in sämtlichen Ländern Europas wäre etwas derartiges undenkbar; man hätte sie innerhalb vierundzwanzig Stunden hinter Schloß und Riegel, während sie hier in Palästen wohnen. Man hat das ja an Jack Diamond, dem Anführer des Rauschgifthandels in Neuyork, gesehen. Als der vor kurzem eine Reise nach Deutschland unternahm, wurde er von der dortigen Polizei prompt ausgewiesen. Er fand aber keine Schiffsgesellschaft, die bereit gewesen wäre, ihn als Passagier anzunehmen, so daß er schließlich die Rückreise auf einem Frachtdampfer antreten mußte.«

»Ganz recht. Ich wollte nur sagen, daß Presse und Publikum sich schließlich mit der Lage der Dinge, die unabänderlich erscheint, abfinden konnten, solange sich die Gangster gegenseitig über den Haufen schossen und Maschinengewehre benutzten, wenn ihnen der Revolver nicht ausreichend erschien. Das ist ein Krieg, den die Konkurrenzorganisationen unter sich führen, da sie ihre Streitigkeiten nicht vor Gericht bringen können, ohne sich selbst preiszugeben. Höchstens bedauerte man es, daß die Morde nicht noch zahlreicher waren. Die Stellungnahme änderte sich aber mit einem Schlage, als mein Vorgänger von der Tribune, Lingle, erschossen wurde. Und noch dazu in einer belebten Straße. Die Täter waren natürlich, wie gewöhnlich, entwischt. Das war eine Herausforderung an die Zeitungen, die nicht ungestraft hingehen durfte. Die Tribune, wie auch alle anderen Zeitungen der Stadt forderten von der Polizei sofortige Aufklärung des Falles und warfen ihr offen die Annahme von Bestechungsgeldern und Einverständnis mit den Verbrechern vor. Aber das wissen Sie ja wahrscheinlich besser als ich.«

»Freilich. Und nun folgt nach der Tragödie die Komödie. Es hätte den Leitern der Tribune eigentlich von vornherein auffallen sollen, daß man ihren Reporter, der seit vierzehn Jahren an dem Blatte tätig war und mit der Polizei wie mit den Gangstern die besten Beziehungen unterhielt, ermordete. Man nahm an, daß er irgend etwas veröffentlicht hatte, das den Gangstern unangenehm war. Das war der Irrtum der Tribune und der anderen Zeitungen, die aber wohl mehr aus Kollegialität in den Lärm mit einstimmten, denn ich kann mir nicht denken, daß ihnen der wahre Sachverhalt ganz unbekannt geblieben war.«

»Bei der Tribune muß das doch der Fall gewesen sein.«

»Allerdings. Das erklärt sich aber wahrscheinlich aus dem Umstande, daß den Nächstbeteiligten üble Gerüchte immer am längsten verborgen bleiben. Immerhin hätte sich die Tribune sagen müssen, daß man einen Reporter nicht aus beruflichen Gründen ermordet. Er mag im Anfange Fehler begehen – auch Ihnen wird das passieren –, später lernt er aber zu unterscheiden, was er veröffentlichen darf und was nicht. Und Lingle war vierzehn Jahre bei der Zeitung. Ein Reporter ist zwischen Verbrechern und Polizei völlig neutral, muß neutral sein, oder seine Tätigkeit als Reporter würde bald ein schnelles Ende nehmen. Ich bin Verleger eines Gangster-Magazins, habe mich also berufsmäßig unter die Verbrecher zu mischen. Das weiß man. Man weiß aber auch, daß man mir vertrauen kann und daß ich es nicht als meine Aufgabe ansehe, der Polizei zu helfen, Verbrechen zu entdecken. Das mag sie selbst tun und könnte es auch – wenn sie wollte. Sie hat allein in Chikago noch hundertundfünfzig Morde aufzuklären. Ruf diese Weise habe ich Zutritt zu den geheimsten Lokalen und erfahre manches, was mir sonst verborgen bleiben würde.«

»Well, in diesem Falle regte die Tribune sich über die Angriffe nicht übermäßig auf, begann aber doch, sich ihrer Haut zu wehren. Und ich muß gestehen, daß sie das recht geschickt gemacht hat. Zuerst wurde bekannt, daß die Bank, mit der Lingle arbeitete, von Zeit zu Zeit von ihm große Einzahlungen empfing, während er von seiner Zeitung doch nur ein Gehalt von fünfundsechzig Dollar die Woche bezog. Nichts weiter. Das gab den Leuten zu denken. Woher kamen die großen Summen? Man ließ sie nicht länger darüber im Zweifel. Es sickerte bald durch, daß Lingle selbst zu den Gangstern gehörte und beseitigt worden war, weil er vermutlich etwas getan hatte, was nach den Bestimmungen des Ganges seinen Mord rechtfertigte. Das ließ die Zeitungen verstummen, denn die Tribune konnte sich nicht gut noch länger für einen ihrer Reporter einsetzen, der sein Amt mißbraucht hatte, und die anderen hatten erst recht keinen Grund, sich seinetwegen noch länger zu ereifern. Die Polizei konnte sich daher damit begnügen, alle paar Wochen jemand aufzufinden, der eine verdächtige Person zur kritischen Zeit an der Mordstelle gesehen hatte.«

»Ganz recht. Und da die Tribune nicht noch einmal Gefahr laufen wollte, einen Reporter mit geheimen und unliebsamen Verbindungen einzustellen, so verschrieb sie sich einen von auswärts. Das traf mich und verschaffte mir das Vergnügen, meinen alten Schulfreund Louis Dorsey wiederzusehen.«

»Der Sie nunmehr in die Geheimnisse von Chikago einführen soll. All right. Wir sind jetzt in Towerton angelangt, dem lateinischen Viertel von Chikago, wo jeder dritte Mann, dem Sie begegnen, ein Maler, Bildhauer, Schriftsteller, Musiker oder Schauspieler ist. Sehen Sie sich dieses Hotel an, es ist das Sherman House, beinahe so alt wie Chikago, wenn es auch ein paarmal umgebaut wurde, hier haben seit seiner Gründung alle Berühmtheiten gewohnt, die Chikago besuchten. Ich will Ihnen aber nur ein paar Namen aus der neuesten Zeit nennen. Da ist Gene Tunney, Senator William Borah, Governor Ritchie von Maryland, Richard Washburn Child, Ramon de Valera, Gertrud Ederle, Annie Besant, General Pershing, Commander Byrd und die deutschen Flieger Köhl und von Hünefeld – und viele andere. Da die City Hall ganz in der Nähe ist, dient es auch als politisches Hauptquartier und hier werden hinter verschlossenen Türen wichtigere Angelegenheiten entschieden, als in den Officen unserer leitenden Beamten. William Hale Thompson, unser jetziger Mayor, hat eine Office hier und verbringt darin mehr Stunden als in der City Hall. Merkwürdigerweise haben auch unsere beiden politischen Parteien, die Demokraten und Republikaner, hier ihren Hauptsitz. In seinem Bal-Tabarin-Saal, der erst abends nach dem Theater geöffnet wird, sind Sie immer sicher, Berühmtheiten aus allen Ländern der Welt anzutreffen, die hier ihr Abendbrot einnehmen. Jetzt biegen wir aber in diese Straße ein, denn ich will Sie in ein Speakeasy führen, das in seiner Art auch eine Sehenswürdigkeit ist. Habe dort eine Verabredung mit einem meiner zahlreichen Freunde aus der Unterwelt, der mir eine Geschichte erzählen will, die ich vielleicht in den Gangster-Geschichten verwenden kann. Das ist der Segen der Neutralität eines Reporters.«


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