Charles Dickens
Skizzen aus dem Londoner Alltagsleben
Charles Dickens

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Zwölftes Kapitel

Der Tod des Trunkenbolds.

Wir dürfen kühn behaupten, daß wohl ein Jeder, welchen Tag für Tag sein Gang durch die winkligen Straßen Londons führt, gewiß unter den Leuten, die er, um uns des Ausdrucks zu bedienen, »von Ansehen kennt«, irgend eines Wesens von verworfenem, elendem Aussehen sich erinnert, das ihm noch in ganz anderen Umständen bekannt war, das er, fast unvermerkt, immer tiefer und tiefer hat sinken sehen, und dessen Erscheinung bei der Armseligkeit und äußersten Dürftigkeit, in welche es endlich versinkt, einen tiefen und peinlichen Eindruck auf ihn macht, wenn er ihm begegnet. Wer hat sich jemals viel in Gesellschaft bewegt, oder wen hat sein Beruf zu Zeiten mit vielen Leuten in Berührung gebracht, dem nicht noch wohl im Gedächtniß wäre, wo Einer, der jetzt schäbig, elend und dürftig, in Schmutz und Lumpen, in all' dem Unflathe, welcher der gewöhnliche Begleiter von Armuth und zerstörter Gesundheit ist, hinter Euch herwankt, einst ein respektabler Handwerker, ein Schreiber, oder ein Mann war, welcher mit den besten Aussichten und anständigen Mitteln ein gedeihliches Geschäft betrieb, – fällt nicht Jedem von unsern Lesern unter der Zahl ihrer ehemaligen Bekannten so ein gesunkener, verkommener Mensch ein, der in Hunger und Kummer schmachtet, von dem sich Jedermann kalt wegwendet, und der dem Hungertode entgeht, kein Mensch weiß, wie? – Ach! solche Fälle sind zu häufig, als daß sie nicht in Jedermanns Erfahrung vorkommen sollten, – und alle haben Einen Entstehungsgrund – Trunksucht – diese rasende Wuth für das langsame, gewisse Gift, welche jede andere Betrachtung verdrängt, welche Weib, Kinder, Freunde, Glück und Stellung von sich wirft und ihre Opfer, gleich Wahnwitzigen, in Schande und Tod stürzt.

Manche dieser beklagenswerthen Menschen sind aus Mißgeschick und Elend diesem herabwürdigenden Laster in die Arme gefallen. Der Verlust zeitlicher Glücksgüter, der Tod derer, die sie liebten, nagender Kummer, welcher sie langsam verzehrt, aber ihnen das Herz nicht vollständig brechen will, hat sie von Sinnen gebracht und sie bieten das fürchterliche Bild Wahnwitziger dar, welche langsam durch eigene Hand sterben. Allein bei weitem der größere Theil hat sich vorsätzlich und mit offenen Augen in den Abgrund gestürzt, aus welchem, wer einmal hineingerathen, sich nicht wieder erhebt, sondern immer tiefer und tiefer sinkt, bis keine Rettung mehr zu hoffen ist.

Ein Solcher stand einst an dem Sterbebette seines Weibes; die Kinder knieeten umher, und nur durch leises Schluchzen waren zuweilen ihre unschuldigen Gebete unterbrochen. Das Geräthe im Zimmer war dürftig und gering, und es bedurfte nur eines Blickes auf die bleiche Gestalt, von welcher das Licht des Lebens fast schon gewichen war, um sich zu überzeugen, daß Jammer, Mangel und Kummer seit manchem bittern Jahre an ihrem Herzen genagt hatten. Eine ältliche Frau, welche in Thränen zerfloß, unterstützte mit dem Arme den Kopf der Sterbenden – ihrer Tochter. Allein nicht nach ihr war das bleiche Gesicht gewandt, nicht ihre Hand faßten die kalten, zitternden Finger, – sie drückten den Arm ihres Gatten, auf ihm hafteten ihre Augen, welche bald der Tod schließen sollte, und der Mann schauderte vor ihrem Blicke. Sein Anzug war schmutzig und in Unordnung, sein Gesicht geröthet, seine Augen entzündet und trüb. Man hatte ihn von irgend einem wilden Gelage an das Schmerzenslager, an das Todtenbett der Gattin geholt.

Eine verdeckte Lampe neben dem Bette warf ihr trübes Licht auf die Gestalten umher und ließ das übrige Zimmer in tiefer Dunkelheit. Die Stille der Nacht herrschte außer dem Hause, und auf dem Gemache lag die Stille des Todes. Ueber dem Kamine hing eine Uhr, deren leises Picken einzig die tiefe Stille unterbrach; es war ein feierlicher Ton, denn wer ihn vernahm, wußte wohl, daß er noch vor der nächsten Stunde das Dahinscheiden einer Mutter ankündigen würde.

Es ist etwas Schauerliches, auf das Nahen des Todesengels zu warten, zu wissen, daß alle Hoffnung vergeblich und keine Genesung mehr möglich ist; – dazusitzen und die traurigen Stunden zu zählen, in langen, langen Nächten, – in Nächten, wie sie nur der kennt, welcher am Krankenbette gewacht hat. Das Blut würde uns erstarren, wenn wir die theuersten Geheimnisse des Herzens mit anhörten, welche, Jahre lang in der Brust verschlossen, das hülflose Wesen vor uns in seiner Bewußtlosigkeit jetzt preisgibt, – wo sich uns die Ueberzeugung aufdrängt, wie wenig die Zurückhaltung und die Verstellung eines ganzen Lebens da mehr ausreichen, wo fieberisches Delirium am Ende die Maske abzieht. Schauderhafte Enthüllungen sind schon durch das Irrereden Sterbender gemacht worden, – Geständnisse von Schuld und Verbrechen, daß wer am Krankenbette stand, vor Grausen und Entsetzen floh, um nicht durch das, was er sah und hörte, zum Wahnsinn getrieben zu werden; und mancher Elende ist einsam und allein gestorben, der in der Fieberhitze Thaten bekannte, bei deren bloßen Namen selbst der kühnste Mann entwichen wäre.

Aber solche Phantasien hörte man nicht an dem Lager, wo die Kinder knieeten. Halb ersticktes Schluchzen und Wehklagen unterbrachen allein die Stille des einsamen Zimmers; – endlich erschlaffte die Hand der Mutter, ihre Blicke wandten sich von den Kindern und suchten den Vater; sie machte eine vergebliche Anstrengung zu reden, fiel auf ihr Kissen zurück, und Alles war nun still und ruhig; – sie schien eingeschlafen zu sein. Die Kinder beugten sich über die Mutter hin, nannten ihren Namen, zuerst leise, dann vernehmlicher, und am Ende in den lauten und durchdringenden Tönen der Verzweiflung. Keine Antwort. Sie horchten auf ihren Athemzug: – Alles war still. Sie fühlten nach dem Herzschlag: – nicht die leiseste Regung; – das Herz war gebrochen – sie war todt.

Ihr Gatte sank auf einen Stuhl neben dem Bette und umfaßte mit verschlungenen Händen seine glühende Stirne. Er sah ein Kind nach dem andern an, aber wenn ein weinendes Auge das seinige traf, so wandte es sich weg und sah auf den Boden. Kein Wort des Trostes ward in sein Ohr geflüstert, keinem teilnehmenden Blicke begegnete sein Auge. Alles zog sich zurück, Alles vermied ihn, und als er endlich aus dem Gemach wankte, dachte Niemand daran, ihm zu folgen und den Wittwer zu trösten. –

Es hatte eine Zeit gegeben, wo mancher Freund ihn in seinem Kummer aufgesucht und manches mitfühlende Herz seinen Gram getheilt hätte. Wo waren sie nun? – Einer nach dem Andern, Freunde, Verwandte, sogar die gewöhnlichsten Bekannten hatten sich zurückgezogen und den Trunkenbold verlassen. Sein Weib allein hatte in Leid und Freud', in Siechthum und Armuth bei ihm ausgehalten; und wie hatte er es ihr gelohnt? Vom Wirthshaus war er hergetaumelt an ihr Lager, um sie sterben zu sehen!

Er stürzte aus dem Hause und rannte in toller Eile durch die Straßen. Gewissensbisse, Angst und Scham – Alles stürmte auf ihn ein. Noch halb trunken und verwirrt von der Scene, die er so eben mit angesehen, trat er wiederum in die Schenke, welche er kurz zuvor verlassen. Glas um Glas stürzte er hinab. Sein Blut erwärmte sich; sein Hirn wirbelte. – Todt! – Wir müssen ja Alle sterben, warum nicht auch sie? – Sie war zu gut für ihn; ihre Verwandten hatten es ihm oft gesagt. Fluch über sie! Hatten die Ihrigen sich nicht von ihr gewandt und sie in ihrem Jammer allein gelassen? Auch gut, – sie war nun todt – und vielleicht glücklich. So war es besser. Noch ein Glas – noch eines! hurrah! Es war ein lustiges Leben, so lange es dauerte, und er wollte es sich möglichst zu Nutzen machen.

Jahre vergingen; die drei Kinder, welche ihm geblieben, wurden groß und waren nicht länger Kinder; – der Vater blieb der nämliche – sah von Tag zu Tag schäbiger, armseliger und liederlicher aus, war aber immer derselbe beständige, unverbesserliche Trunkenbold. Die Knaben hatten ihn längst verlassen und waren davongelaufen, die Tochter allein blieb; es ging ihr aber übel. Gute Worte oder Schläge verschafften ihm stets etwas zum Vertrinken; und so ging es eben den alten Gang, und es war ein lustiges Leben, das er führte.

Eines Abends ging er schon um zehn Uhr nach Hause, – das Mädchen war seit mehreren Tagen krank und also wenig zu vertrinken da, – und dachte bei sich darüber nach, wenn das Mädchen ferner Geld verdienen solle, so müsse er sie wohl zu dem Kirchspielarzte schicken, oder am Ende sich selbst die Mühe geben, zu fragen, was ihr fehle; bisher hatte er sich nicht einmal darum bekümmert. Es war eine feuchte Decembernacht, der Wind blies schneidend kalt und der Regen goß in Strömen herab. Er erbettelte sich ein paar Halbpencestücke von einem Vorübergehenden, kaufte ein kleines Brod (denn es war sein eigenes Interesse, die Tochter wo möglich am Leben zu erhalten), und wankte weiter, so schnell es Wind und Regen erlaubten. Am Ende von Fleet-Street, zwischen der Straße und dem Wasser, sind verschiedene elende, enge Gassen, welche einen Theil von Whitefriars ausmachen; nach einer derselben richtete er seine Schritte.

Das Gäßchen, in welches er einbog, konnte in seinem Schmutze und Elende mit dem finstersten Winkel dieses alten, ehemaligen Heiligthums zu seiner unglücklichsten und gesetzlosesten Zeit wetteifern. Die theils zwei-, theils vierstöckigen Häuser trugen die unbeschreibbare Schmutzfarbe, welche das Wetter, Kohlendampf und Fäulniß Gebäuden gibt, die ursprünglich schon aus den rohsten und gemeinsten Materien bestehen. Die Fenster waren mit Papier verklebt und mit den schmutzigsten Lumpen verstopft; die Thüren fielen aus ihren Angeln, Pfähle mit Leinen zum Wäschetrocknen ragten aus jeder Oeffnung hervor, und aus jedem Gemache hörte man den Lärm von Zank und Trunkenheit.

Die einsame Lampe in der Mitte der Gasse hatte entweder der Sturm oder irgend ein Inwohner ausgelöscht; welcher gute Gründe hatte, seinen Aufenthalt möglichst wenig dem Blicke Fremder auszusetzen; und die einzige Helle, welche auf den unebenen Boden fiel, kam von den elenden Lichtern her, welche hie und da in den Stuben derer flimmerten, die sich eine solche luxuriöse Ausgabe erlauben konnten. In der Mitte der Straße floß eine Rinne von stinkendem Unrathe, welchen der Regen fortspülte, der Wind heulte mit solcher Heftigkeit durch die alten Baracken, daß Thüren und Läden in ihren Angeln knarrten, und die Fenster in ihren Rahmen klapperten, daß man jeden Augenblick glaubte, es müsse Alles zu Grunde gehen.

Der Mann, welchem wir in diese Höhle gefolgt sind, schritt durch die Dunkelheit, und stolperte zuweilen in die Straßengosse, zuweilen in Kothhaufen, welche der Regen zusammengeflötzt hatte, bis er endlich das letzte Haus in der Gasse erreichte. Die Thüre, oder eher die Ueberbleibsel davon, stand zur Bequemlichkeit der zahlreichen Bewohner halb offen, und tappend suchte er sich seinen Weg über die alte zerbrochene Treppe in seine Dachkammer.

Er war noch einen oder zwei Schritte von der Stubenthüre, als diese aufging und ein Mädchen, dessen elendes und abgemagertes Aussehen nur mit dem Talglichte, vor welches sie ihre Hand hielt, verglichen werden konnte, ängstlich herauskam.

»Seid Ihr es, Vater?« fragte das Mädchen.

»Wer denn sonst?« schnauzte sie dieser an. »Weßhalb zitterst du denn? Ich habe heute wenig zu vertrinken gehabt, denn ohne Geld geben sie einem nichts in der Schenke und mit Müssiggang verdient man kein Geld. Was in des Teufels Namen ist es denn mit dem Mädchen?«

»Es ist mir nicht wohl, Vater, – gar nicht wohl,« erwiederte die Tochter und brach in Thränen aus.

»Ach!« entgegnete der Mann in einem Tone, wie wenn man etwas sehr Unangenehmes zugeben muß, gegen das man, wenn es möglich wäre, gerne blind bleiben möchte. »Das muß auf irgend eine Art anders werden, – denn wir brauchen Geld. Du mußt zu dem Kirchspieldoctor gehen und dir Arznei geben lassen. Dafür werden sie bezahlt, die Hunde! Nun, was stehst du da an der Thüre? Laß mich hinein! – Wird's bald?«

»Vater,« flüsterte das Mädchen, zog die Thüre hinter sich her und stellte sich davor, »William ist gekommen.«

»Wer?« fuhr der Vater auf.

»S-t,« entgegnete die Tochter, »William, Bruder William.«

»Und was will er,« sagte der Vater und suchte sich zusammen zu nehmen, – »Geld? – Essen? – Trinken? Da ist er zu dem unrechten Schmiede gekommen, wenn er das im Sinne hat. Gib mir das Licht – das Licht, sag' ich, dummes Ding, – ich werde ihn nicht fressen.« Er riß ihr das Licht aus der Hand und ging hinein.

Auf einer alten Kiste, den Kopf in die Hand gestützt, den starren Blick auf ein elendes Kohlenfeuer gerichtet, das auf dem Herde dampfte, saß ein dürftig gekleideter junger Mann in einer schlechten Jacke und eben solchen Beinkleidern. Bei dem Eintritte des Vaters fuhr er in die Höhe.

»Thüre zu, Mary,« sagte der junge Mensch schnell, »mach' die Thüre zu. Ihr seht mich an, als kennet Ihr mich nicht, Vater. Es ist freilich schon lange her, seit Ihr mich aus dem Hause getrieben; Ihr mögt mich wohl vergessen haben.«

»Und was führt dich jetzt her?« fragte der Vater, nahm einen Stuhl und setzte sich auf die andere Seite des Herdes. »Was willst du eigentlich?«

»Ein Obdach,« erwiederte der Sohn, »ich bin in Noth, – das ist genug. Wenn sie mich erwischen, muß ich hängen, – das ist gewiß. Und erwischen werden sie mich, wenn ich hier keine Unterkunft finde, das ist eben so wahr. Das ist die ganze Geschichte.«

»Du willst wohl damit sagen, daß du einen Raub, einen Mord begangen hast?« sagte der Vater.

»Und wenn es so wäre,« entgegnete der Sohn, »würde das Euch Wunder nehmen, Vater?« Dabei blickte er ihm fest in das Gesicht, allein der Vater wandte die Augen weg und sah auf den Boden.

»Wo sind deine Brüder?« fragte er nach einer langen Pause.

»Wo sie Euch nie mehr zur Last fallen werden,« erwiederte der Sohn. »John ist nach Amerika gegangen und Henry ist todt.«

»Todt!« sagte der Vater mit einem Schauder, den er nicht unterdrücken konnte.

»Ja, todt!« versetzte der junge Mensch. »In meinen Armen ist er gestorben, – todtgeschossen, wie ein Hund, von einem Hegereiter. Er wankte, – ich fing ihn auf, sein Blut rieselte mir über die Hand, – es sickerte ihm wie Wasser aus der Seite. Er war sehr schwach, einer Ohnmacht nahe, doch warf er sich auf die Kniee nieder auf das Gras, und betete zu Gott, daß, wenn seine Mutter im Himmel sei, der Allmächtige ihrer Bitte für ihren jüngsten Sohn sein Ohr nicht verschließen möge. ›Ich bin immer ihr Liebling gewesen, Will,‹ sagte er, ›und ich denke jetzt noch mit Entzücken daran, daß ich, als ich, zwar noch ein Kind damals und mit einem fast bis zum Bersten vollen Herzen, zu den Füßen ihres Sterbebettes kniete, Gott danken konnte, weil er mich so gut hatte werden lassen, daß ich noch nichts gethan, was ihr hätte Thränen kosten können; o Will, warum wurde sie von uns gerissen und der Vater uns gelassen!‹ Dieß waren seine letzten Worte, Vater,« sagte der Jüngling; »macht daraus, was Ihr könnt. Ihr habt ihn in der Trunkenheit in das Gesicht geschlagen an dem Morgen, als wir wegliefen, – und das ist nun das Ende davon!«

Das Mädchen schluchzte laut, der Vater ließ den Kopf auf die Kniee sinken und schwankte hin und her.

»Wenn sie mich fangen,« fuhr der junge Mann weiter fort, »so werde ich nach jener Gegend gebracht und dort gehängt, weil ich den Hegereiter wieder erschossen habe. Wenn Ihr nicht dazu helft, Vater, können sie mich hier nicht erwischen. Aber mögt Ihr mich nun der Gerechtigkeit ausliefern oder nicht, Vater, hier bleibe ich, bis ich Gelegenheit finde, außer Lands zu kommen.«

Zwei Tage lang blieben alle Drei in dem dürftigen Gemach, ohne auszugehen. Am dritten Abende indessen wurde das Mädchen unwohler, als bisher, und die paar Bissen Brod, welche sie gehabt hatten, waren aufgezehrt. Es war die dringendste Nothwendigkeit, daß Jemand ausgehen mußte, und da das Mädchen zu schwach und zu elend dazu war, so ging der Vater gerade mit Einbruch der Nacht.

Er erhielt einige Medicin für die Tochter und unterwegs auch ein paar Kreuzer Geld. Auf dem Heimwege verdiente er ein Sechspencestück dadurch, daß er Jemand das Pferd hielt, und mit Geld genug, um ihren dringendsten Bedürfnissen auf zwei bis drei Tage abzuhelfen, machte er sich auf den Heimweg. Er mußte an einer Schenke vorbei. Einen Augenblick war er unentschlossen und ging vorüber – kehrte wieder um – zögerte abermals – und ging hinein. Zwei Männer, welche er nicht bemerkt hatte, betrachteten ihn. Sie waren im Begriff, ihre Nachforschungen als fruchtlos aufzugeben, da fiel ihnen sein unschlüssiges Wesen auf, und als er in die Schenke trat, folgten sie ihm.

»Ihr müßt mit mir trinken, Meister,« sagte der Eine und bot ihm ein Glas Schnapps an.

»Mit mir auch,« versetzte der Andere, und schenkte wieder ein, sobald das Glas leer war.

Der Vater dachte an seine hungrigen Kinder und an die Gefahr, in welcher der Sohn schwebte. Allein was gelten sie dem Trunkenbolde. Er trank ja – und der Verstand verließ ihn.

»Eine böse Nacht, Warden,« raunte der Eine dem Säufer in's Ohr, als dieser sich endlich zum Heimgehen anschickte, nachdem er die Hälfte des Geldes, von welchem vielleicht seiner Tochter Leben abhing, in Branntwein vertrunken hatte..

»Eine ganz brave Nacht für unsere Freunde im Verstecke, Herr Warden,« flüsterte der Andere.

»Da setzt Euch her,« sagte der, welcher zuerst gesprochen, und zog ihn in eine Ecke. »Wir suchen einen jungen Mann, und möchten ihm sagen, daß Alles in Ordnung sei, allein wir können ihn nicht finden, weil wir nicht genau wissen, wohin er sich gewandt hat. Das wundert mich aber nicht, denn ich glaube, er wußte es selbst nicht, als er nach London kam, nicht wahr?«

»Nein,« erwiederte der Vater.

Die beiden Männer warfen einander bedeutungsvolle Blicke zu.

»Unten an den Docks liegt ein Fahrzeug, das um Mitternacht, wenn hohes Wasser ist, abfährt,« nahm der Erste wieder das Wort, »und wir wollen ihn an Bord bringen. Seinen Platz haben wir auf einen andern Namen schon bestellt und, was das Beste ist, schon bezahlt. Es ist ein Glück, daß wir Euch getroffen haben.«

»Gewiß,« meinte der Zweite.

»Ein großes Glück,« versetzte der Erste und blinzelte seinem Gesellen zu.

»Allerdings,« erwiederte der Zweite mit einem leisen Nicken, daß er verstanden habe.

»Noch ein Gläschen müssen wir trinken, frisch –« sagte der Erste. Fünf Minuten später hatte der Vater unbewußt den Sohn in des Henkers Hand geliefert.

Langsam und traurig verging dem Geschwisterpaare die Zeit in dem elenden Verstecke, – ängstlich horchten sie auf das leiseste Geräusch. Endlich hörte man einen schwerfälligen Tritt auf der Stiege – er kam näher – an die Thüre – es war der Vater, welcher in das Zimmer taumelte.

Die Tochter sah, daß er betrunken war, und ging ihm mit dem Lichte entgegen, blieb plötzlich stehen, stieß einen lauten Schrei aus und stürzte zu Boden. Sie hatte den Schatten eines Mannes bemerkt. Die Beiden stürzten herein und im nächsten Momente war der junge Mann ein Gefangener, dem sie die Handschellen anlegten.

»Das ging gut und ruhig ab,« sagte der eine der Häscher zu seinem Gesellen, »dem Alten haben wir es zu danken. Heb' das Mädchen auf, Tom, – kommt, kommt, hier hilft kein Weinen und Schreien, Mädchen, 's ist nun schon einmal so und nicht mehr zu ändern.«

Der junge Mann beugte sich einen Augenblick über das Mädchen, drehte sich dann ungestüm um und wandte sich zu seinem Vater, welcher an der Wand lehnte, und mit dem Blödsinne der Trunkenheit auf die Gruppe stierte.

»Merkt auf, Vater,« sagte er in einem Tone, welcher den Trunkenbold von Kopf bis zu Fuß zittern machte. »Meines Bruders Blut und das meinige komme über Euer Haupt! Nie erfreute ich mich eines gütigen Blickes, eines freundlichen Wortes oder natürlicher Sorgfalt von Euch, und im Leben wie im Tode werde ich Euch nimmer vergeben. Sterbt wann oder wo ihr wollt, – ich werde bei Euch sein. Ich spreche jetzt als ein Todter und sage Euch, Vater, so gewiß als Ihr eines Tages vor Euren Richtern stehen werdet, so gewiß werden auch Eure Kinder Hand in Hand vor seinem Throne stehen und Rache über Euch schreien.« In drohender Stellung hob er seine gefesselten Hände empor, blickte noch einmal starr auf seinen bebenden Vater und ging langsam aus dem Zimmer; – weder Vater noch Schwester sahen ihn diesseits des Grabes wieder.

Trüb und nebelig lag die Wintermorgenhelle auf dem engen Gäßchen und suchte sich Bahn zu machen durch die berußten Fenster des dürftigen Gemachs – Warden erwachte von seinem betrübten Schlummer und sah sich allein. Er stand auf und blickte überall umher; die alte wollene Matratze auf dem Boden war unberührt, Alles war so, wie er es zuletzt gesehen zu haben sich erinnerte, und man sah wohl, daß außer ihm Niemand die verwichene Nacht hier zugebracht hatte. Er fragte bei den andern Hausgenossen und bei den Nachbarn nach, Niemand hatte etwas von seiner Tochter gehört oder gesehen. Er streifte durch die Straßen und forschte nach jedem blassen, elenden Gesichte unter der Menge mit ängstlichem Blicke. Sein Suchen war vergeblich, und trostlos und müde kehrte er, als die Nacht kam, in seine Dachkammer zurück.

Mehrere Tage beschäftigte ihn noch das Aufsuchen seiner Tochter, allein es zeigte sich keine Spur, kein Laut von ihr drang zu seinem Ohr. Endlich gab er ihre Verfolgung als nutzlos auf. Er hatte längst gefürchtet, sie möchte ihn einmal verlassen, um irgendwo anders ihr Brod in Ruhe zu verdienen. Endlich hatte sie ihn verlassen, um allein zu sterben. Er knirschte mit den Zähnen und fluchte ihr.

Nun bettelte er sein Brod von Thüre zu Thüre. Jeder halbe Penny, welchen er dem Mitleid oder der Leichtgläubigkeit abpressen konnte, ging den alten Weg. Ein Jahr verfloß, das Dach eines Kerkers war das einzige, was ihn seit Monden bedeckt hatte. Er schlief unter Thorwegen oder irgendwo in einer Lehmgrube, wo er nur ein wenig warm oder geschützt vor Kälte und Regen lag; aber auch in der allertiefsten Armuth, in dem bittersten, obdachlosen Mangel war er immer noch der alte unverbesserliche Säufer.

Endlich in einer rauhen Nacht sank er auf einer Thürschwelle in Piccadilly nieder, ohnmächtig und krank. Laster und wüstes Leben hatten ihn vor der Zeit zum Gerippe abgezehrt, seine Wangen waren hohl und fahl, seine Augen eingesunken, und sein Auge trüb und gläsern. Seine Beine zitterten unter der Last des Körpers, und ein kalter Schauer rann ihm durch alle Glieder.

Und nun schaarten sich die längst vergessenen Scenen eines verlorenen Lebens in dichten Haufen furchtbar nahe um ihn her. Er gedachte der Zeit, wo er noch eine Heimath hatte, eine glückliche heitere Heimath – er gedachte derer, die sie bevölkert und sich um ihn versammelt hatten, bis die Schatten seiner Kinder aus dem Grabe zu steigen schienen und sich neben ihn stellten – so deutlich, so hell und so bestimmt, daß er sie berühren und befühlen konnte. Blicke, welche er lange vergessen hatte, waren noch einmal auf ihn geheftet, Stimmen, welche der Tod längst zum Schweigen gebracht, schlugen gleich dem Klange von Kirchenglocken an sein Ohr. Aber es war nur ein kurzer Augenblick. Der Regen fiel eisig auf ihn, und Kälte und Hunger nagten wieder mit erneuter Wuth an seinem Herzen.

Er erhob sich und schleppte seine matten Glieder ein paar Schritte weiter. Die Straße war still und leer, die wenigen Leute, welche so spät noch auf den Beinen waren, eilten rasch dahin, und seine zitternde Stimme verhallte in dem Geheul des Windes. Wiederum durchzuckte es eisig seinen ganzen Körper und das Blut schien zu stocken; – er kauerte sich in einen vorspringenden Thorweg und versuchte zu schlafen.

Allein der Schlummer floh seine matten Augen. Er lag in Fieberträumen, jedoch wachend und in vollem Bewußtsein. Der wohlbekannte Lärm trunkener Lust schallte in sein Ohr, das Glas war an seinen Lippen, der Tisch mit auserlesenen reichen Speisen besetzt – sie standen vor ihm, er konnte Alles sehen, er brauchte blos die Hand auszustrecken, um sie zu nehmen, – und obgleich die Täuschung für ihn Wirklichkeit war, so wußte er doch, daß er allein auf einer verlassenen Straße saß und die Regentropfen zählte, welche auf die Pflastersteine niederfielen; er fühlte, wie der Tod sich ihm Schritt für Schritt näherte – und daß es mit ihm aus – hoffnungslos aus sei.

Plötzlich fuhr er auf im tödlichsten Schrecken. Er hatte seine eigene Stimme durch die Nachtluft rufen hören – was oder warum? – wußte er nicht. Horch! ein Stöhnen! – abermals! – Seine Sinne verließen ihn, halbe und unzusammenhängende Worte kamen von seinen Lippen, seine Hände wühlten in seinem Busen und wollten konvulsivisch das Fleisch von den Knochen reißen; Wahnwitz erfaßte ihn und er schrie um Hilfe, bis ihm die Stimme versagte.

Endlich richtete er den Kopf wieder empor, und blickte über die lange trübe Straße hin. Er erinnerte sich, daß Auswürflinge, wie er, verdammt, Tag und Nacht diese schrecklichen Gassen zu durchirren, zuweilen über ihre trostlose Einsamkeit wahnsinnig geworden waren. Es fiel ihm ein, daß er, schon vor Jahren, einst von einem heimathlosen Elenden gehört hatte, welchen man in einem abgelegenen Winkel fand, wie er ein rostiges Messer wetzte, um es sich selbst in das Herz zu stoßen und durch einen schnellen Tod dieser Qual des ewigen Hin- und Herschweifens auf einmal los zu werden. Augenblicklich war sein Entschluß gefaßt; seine Glieder bekamen neues Leben: er rannte eilig hinweg und hielt nicht eher an, als bis er am Flußufer stand. Leise schlich er die steinernen Stufen hinab, welche an dem Anfange der Waterloo-Brücke zu dem Wasser führen. Er kauerte sich in eine Ecke und hielt den Athem an, als er die Patrouille vorbeikommen hörte. Nie schlug das Herz eines Gefangenen bei der Hoffnung auf Freiheit und Leben halb so ungestüm, als hier das unseres elenden Verzweifelten bei der Aussicht auf den Tod. Die Wache ging nahe an ihm vorbei, aber bemerkte ihn nicht; er wartete, bis der Schall der Fußtritte in der Ferne erstarb, dann stieg er behutsam hinab und stand bald unter dem düsteren Bogen an dem Ufer des Flusses. Die Fluth war gekommen und das Wasser wogte bis an seine Füße heran. Regen und Wind hatten aufgehört, und Alles war ruhig und still – so still, daß der leiseste Schall von dem gegenseitigen Ufer, sogar das Plätschern des Wassers an den Barken, welche hier vor Anker lagen, hörbar an sein Ohr schlug. Langsam und zaudernd floß der Strom dahin. Seltsame und phantastische Gestalten stiegen daraus empor und winkten ihm, zu kommen; dunkle, leuchtende Augen guckten aus dem Wasser und schienen sich über seine Unschlüssigkeit lustig zu machen, während hohles Gemurmel von hinten ihn vorwärts zu drängen schien. Er ging ein paar Schritte zurück, nahm einen kurzen Anlauf, machte einen verzweifelten Sprung und stürzte sich in den Fluß.

Nicht fünf Sekunden dauerte es, so erschien er wieder auf der Oberfläche – aber welche Veränderung war in dieser kurzen Zeit mit all' seinen Gedanken und Empfindungen vorgegangen! Leben – Leben – unter allen Umständen, Armuth, Elend, Hunger – Alles, nur nicht den Tod. Er focht und kämpfte mit dem Wasser, welches über seinem Kopfe zusammenschlug, und schrie laut in grausenhafter Seelenpein. Der Fluch seines Sohnes tönte ihm in den Ohren. Das Ufer – nur noch einen Fuß, und er war auf trockenem Boden – er konnte es beinahe mit der Hand erreichen. Eine Handbreit näher und er war gerettet – allein die Fluth riß ihn mit fort, unter dem dunkeln Brückenbogen hindurch und er sank auf den Grund.

Abermals tauchte er empor und kämpfte mit den Wellen um sein Leben. Einen Augenblick – aber nur einen kurzen Augenblick – sah er deutlich die Gebäude am Flußufer, die Lichter auf der Brücke, unter welcher der Strom ihn fortgerissen hatte, das schwarze Wasser und die pfeilschnell fliegenden Wolken – abermals sank er unter und wiederum tauchte er auf. Helle Feuerflammen schossen von der Erde zum Himmel empor und tanzten vor seinen Augen, während das Wasser in seinen Ohren donnerte und das tolle Gebrause ihm die Sinne raubte.

Eine Woche später ward ein Leichnam einige Meilen am Flusse abwärts an das Ufer gespült – eine aufgedunsene, verunstaltete Masse. Unerkannt und unbeweint wurde er zu Grabe getragen und ist längst vermodert.

 

— Ende —

 


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