Charles Dickens
Skizzen aus dem Londoner Alltagsleben
Charles Dickens

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Siebenzehntes Kapitel

Der letzte Cabführer und der erste Omnibus-Cad.

Von allen Cabrioletkutschern, welche wir je die Ehre und das Vergnügen hatten, von Ansehen kennen zu lernen, – und unsere Bekanntschaft in diesem Punkte ist nicht wenig ausgebreitet – gibt es Einen, welcher einen unauslöschlichen Eindruck auf uns gemacht und uns solche Bewunderung und Ehrfurcht eingeflößt hat, wie wir sie wohl kaum je mehr für irgend ein sterbliches Wesen fühlen werden. Er war ein Mann von sehr einfachem und einnehmendem Aussehen, trug einen braunen Backenbart, einen weißen Hut und keinen Rock; seine Nase war gewöhnlich roth und sein helles blaues Auge hielt nicht selten mit ruhiger Kühnheit dem düstersten Blick eines erzürnten Gegners Stand; seine Stiefel waren à la Wellington bis zu den kurzen Courduroy-Hosen hinaufgezogen, oder ihnen wenigstens möglichst nahe gebracht, soweit es nämlich ihre Dimensionen zuließen, und um den Hals hatte er gewöhnlich ein hellgelbes Tuch. Im Sommer trug er eine Blume im Munde, im Winter einen Strohhalm, für einen denkenden Kopf sichere Anzeichen seiner Liebe zur Natur und seines Sinnes für Botanik.

Sein Cabriolet war prächtig angemalt, – hellroth – und wir mochten hinkommen, wohin wir wollten, City oder West-End, Paddington oder Holloway, nach Norden, Osten, Westen oder Süden, überall war das rothe Cabriolet, stieß an die Pfosten der Straßenecken an, wand sich unter Miethkutschen, Karren, Rollwagen, Postchaisen und Omnibussen herum und heraus, und brachte es durch den einen oder den andern sonderbaren Kunstgriff dahin, aus Orten wieder herauszukommen, wo kein anderes Fuhrwerk als das rothe Cab hineinzukommen im Stande gewesen wäre. Unsere Zärtlichkeit und Anhänglichkeit an das rothe Cab kannte keine Grenzen. Wie gerne hätten wir es einmal in Astley's Cirkus gesehen! Wir setzen unsern Kopf zum Pfande, es hätte mit seinen Schwenkungen die ganze Gesellschaft beschämt, – Indianerhäuptlinge, Ritter, Schweizerbauern, die ganze Sippschaft.

Es gibt Leute, welche behaupten, es sei nicht leicht, in ein Cabriolet hineinzusteigen, und wieder andere sind der Ansicht, das Heraussteigen sei mit einiger Schwierigkeit verknüpft! Wir sind der Meinung, daß diese Ansicht nur von verkehrten und verdrehten Begriffen herkommen könne. In ein Cabriolet zu steigen ist eine ganz hübsche und anmuthige Sache, und hat, wenn man es recht macht, in der That etwas Theatralisches. Zuerst die ausdrucksvolle Pantomime aller achtzehn Cabrioletkutscher auf dem Platze in dem Augenblick, wo man seinen Blick vom Boden erhebt. Dann kommt unsere Pantomime dagegen – ein vollständiges kleines Ballet. Vier Cabs verlassen augenblicklich ihren Stand, um sich zu deiner Verfügung zu stellen, und die Schwenkungen der Thiere, welche sie ziehen, sind ausnehmend schön, wie sie bald mit den Rädern ihres Wagens rasselnd an die Abweichsteine hinfahren, bald tändelnd ihr Spiel mit den Straßenrinnen treiben. Man sucht sich eines aus und läuft hastig darauf los. Ein Satz und man ist auf dem ersten Tritt, dreht sich leicht rechts und ist auf dem zweiten, schlüpft zierlich unter den Zügeln durch, indem man sich dabei links dreht – und man ist darinnen. Einen Sitz zu finden ist nicht schwer; das Spritzleder stößt Einen schon gemächlich darauf nieder – und fort geht's.

Das Heraussteigen ist vielleicht in seiner Theorie etwas komplizirter und in der Ausführung um einen Gedanken schwieriger. Wir haben die Sache ziemlich studirt und halten es für das Beste, ohne weiteres herauszuspringen und sich auf sein gutes Glück zu verlassen, daß man auf die Füße zu stehen kommt. Läßt man den Fuhrmann zuerst herausspringen und wirft sich auf ihn, so wird man finden, daß die Heftigkeit des Aufprallens dadurch wesentlich gebrochen wird. Auf den Fall, daß man im Sinne hat, ihm acht Pence zu geben, so bietet man sie ihm ja nicht vorher an, ebensowenig zeigt man das Geld eher, als bis man wohlbehalten am Boden ist. Es ist eine ganz verkehrte Politik, wenn man versucht, vier Pence zu sparen; man ist gar sehr in der Gewalt des Kutschers und er betrachtet es als eine Art von Handgeld dafür, daß er Einem keinen absichtlichen Schaden zufügt. Wenn man eine weitere Strecke zu machen im Sinne hat, so ist keine Anweisung, wie man am Besten aus dem Cab kommt, von Nöthen, denn – Zehn gegen Eins – man fliegt ganz leicht heraus, ehe man noch die ersten drei Meilen zurückgelegt hat. Wir können uns keines Beispiels erinnern, wo ein Cabrioletpferd drei Meilen hinter einander gemacht hätte, ohne Einmal zu stürzen. Was thut das? Es gibt der Sache nur einen neuen Reiz, und in der jetzigen Zeit, wo ein derangirtes Nervensystem und eine allgemeine Abgeschlagenheit an der Tagesordnung ist, bezahlen die Leute noch gern etwas Hübsches für eine Aufregung – und wo wäre diese wohlfeiler zu haben?

Aber um wieder auf unser rothes Cab zurückzukommen; es war in der That allgegenwärtig. Man braucht nur nach Holborn hinabzugehen, oder nach Fleet-Street, oder in eine der Hauptstraßen, wo viel Verkehr ist, und urtheile dann selbst. Kaum ist man in die Straße eingebogen, so sieht man ein paar Sachen auf dem Boden umher liegen; ein umgerissener Pfosten, eine Hutschachtel, ein Felleisen, ein Reisesack, sehr malerisch zerstreut, ein Pferd in einem Cabriolet steht dabei und sieht sich ganz unbekümmert um; ein Volkshaufe schreit und jauchzt vor Freude, und kühlt die glühenden Gesichter an den Glasfenstern eines Apothekerladens. – »Was gibt's hier, könnt Ihr mir's nicht sagen?« – »Blos ein Cab, Sir!« – »Es hat doch Niemand Schaden genommen?« – »Nur der Passagier. Ich sehe ihn da um die Ecke kommen und sage zu einem andern Gentl'm'n, ›das ist ein rechter Ochse, wie der daher gefahren kommt.‹ – ›Ja wohl,‹ meint' der andere Gentl'm'n, ›wenn' er anstößt, kommen sie gegen den Pfosten und die ganze Pastete fliegt heraus, wie Ziegel vom Dache.‹« Brauchen wir noch erst zu sagen, daß es das rothe Cab war, oder daß der Gentleman mit dem Strohhalm im Munde, welcher so kaltblütig aus dem Apothekerladen kam, mit stoischem Gleichmuth auf sein kleines Ding hinaufkletterte und in vollem Galopp davon fuhr, unser lizensirter rother Cabführer gewesen ist?

Die Allgegenwärtigkeit des rothen Cabriolets und die Wirkung, welche es auf die Lachmuskeln der Polizeibeamten selbst äußerte, waren vollends zum Erstaunen. Man kommt z. B. in den Justizhof von Mansionhouse; der ganze Raum erschallt von lustigem Lachen. Der Lord-Mayor hat sich über seinen eigenen Witz auf dem Stuhle zurückgelegt in rasendem Lachkrampf; jede Ader in Herrn Hobler's Gesichte ist von Lachen aufgeschwellt, zum Theil über die Drolligkeit des Lord-Mayors, mehr aber noch über seinen eigenen Witz; die Konstabel und Polizeidiener sind (pflichtschuldigst) fast außer sich über Herrn Hobler und den Lord-Mayor zusammen, und alle Almosenmänner schauen ehrfurchtsvoll nach dem Büttel und schicken sich an zu lachen, sobald sich dessen Antlitz aufheitert. Ein langer Mann, mit eingefallenen Wangen, der mit der Sprache nicht recht fortkommt, gibt sich alle Mühe, eine Klage gegen den rothen Cabführer vorzubringen, und der rothe Cabführer, der Lord-Mayor und Herr Hobler haben ihren kleinen Spaß mit einander zum ausnehmenden Vergnügen von Jedermann, den Kläger ausgenommen. Kurz, am Ende wird die Gerechtigkeit durch den Mutterwitz des rothen Cabführers so gekitzelt, daß ihm die Strafe erlassen wird, und er darf in vollem Galopp mit seinem rothen Cab davon fahren, um ohne Zeitverlust wieder einem Andern eine Nase zu drehen.

Gleich vielen andern Philosophen war der rothe Cabführer, im Vertrauen auf seine eigenen strengen moralischen Grundsätze, gewohnt, den Gefühlen und Meinungen der übrigen Menschen Trotz zu bieten und sie herauszufordern, oder um einen verständlichern Ausdruck zu brauchen, er brachte eben so gerne einen Passagier wohlbehalten an den Ort seiner Bestimmung, als er ihn umwarf, – vielleicht sogar lieber, weil er in diesem Falle nicht nur sein Geld bekam, sondern auch noch das Vergnügen hatte, eine längere Wettfahrt mit einem erpichten Nebenbuhler zu halten. Allein da ihm das Publikum in Gestalt der Polizei den Krieg erklärte, so mußte er auch auf seine eigene Art zu Felde ziehen. So räsonnirte wenigstens unser rother Cabführer. Er behielt seinen Passagier fortwährend scharf im Auge, und wenn dieser nach einer Fahrt von einer halben Meile die Hand in die Westentasche steckte, um Geld heraus zu holen, und acht Pence herausbrachte, so flog er hinaus.

Das letzte Mal sahen wir unsern Freund an einem regnerischen Abend in Tottenham-court-road, wie er gerade in einem sehr heftigen und schon etwas persönlich gewordenen Streite mit einem zungenfertigen kleinen Herrn in grünem Rock begriffen war. Der arme Bursche! er war wirklich sehr zu entschuldigen, denn er hatte nicht weiter als achtzehn Pence über den gesetzlichen Fuhrlohn bekommen und war folglich in einem sehr natürlichen Zustand zorniger Aufregung. Der Streit war schon ziemlich weit gediehen, als endlich unser zungenfertiger kleiner Herr, nachdem er bei sich die Entfernung berechnet und gefunden hatte, daß er bereits zu viel bezahlt habe, erklärte, es sei sein unwandelbarer Entschluß, den Kutscher Morgen früh zur Rechenschaft zu ziehen.

»Merkt Euch das, junger Mann, ich werde Euch Morgen früh zur Rechenschaft ziehen.«

»Ei! Sie werden doch nicht?« sagte unser Freund höhnisch.

»Doch,« erwiederte der kleine Herr, »Ihr sollt daran denken. Wenn ich Morgen noch das Leben habe, so werdet Ihr es bereuen!«

Die Entschiedenheit, mit welcher der kleine Herr seinen Entschluß erklärte, und der Unwille, der in seinen Worten lag, als er nach dieser Erklärung eine Prise nahm, machten einen sichtbaren Eindruck auf den rothen Cabführer. Er schien unschlüssig, doch es dauerte nur einen Augenblick – sein Entschluß war schon gefaßt.

»Sie wollen mich also zur Rechenschaft ziehen?« sagte unser Freund.

»Allerdings,« erwiederte der kleine Herr noch heftiger als zuvor.

»Gut,« entgegnete unser Freund und stülpte ganz ruhig seine Hemdärmel hinauf. »Das wird drei Wochen kosten. Ganz gut, damit komme ich bis in die Mitte des nächsten Monats. Noch drei Wochen, dann ist mein Geburtstag und ich habe zehn Pfund profitirt; ich kann mir so lange Kost, Wohnung und Wäsche ebensogut aus der Gemeindekasse gefallen lassen, als es bezahlen, demnach geht es!«

Und somit schlug der rothe Cabführer ohne weiteres den kleinen Herrn nieder und rief dann mit der größten Artigkeit von der Welt die Polizei, daß sie ihn arretiren möge.

Eine Geschichte ohne Ausgang ist Nichts; wir müssen daher sagen, daß, wie wir uns selbst überzeugt haben, für seine Kost, Wohnung und Wäsche auch richtig gesorgt wurde. Wir erfuhren den Umstand zufällig und zwar auf folgende Weise: Bald nach jenem Vorfall besuchten wir das Correctionshaus der Grafschaft Middlesex, um uns über das Schweigsystem zu informiren, und sahen uns dort mit großer Unruhe überall nach unserm Freunde um, ob wir nicht an irgend einem Spinnrade den langverlorenen erblicken möchten. Er war aber nirgends zu sehen, und wir dachten schon, der kleine Herr im grünen Rocke habe Gnade für Recht ergehen lassen, als wir bei dem Durchgang durch den Küchengarten, welcher in einem abgesonderten Theil des Gefängnisses liegt, durch den Ton einer Stimme stutzig gemacht wurden, welche offenbar von der Mauer herab kam, und deren Eigenthümer seiner Herzenspein durch das Klaglied: »Um meinen Hut herum etc.« Luft machte, – ein Lied, welches gerade damals aufkam und jetzt eine so bedeutende Rolle unter unsern Volksliedern spielt.

Wir stutzten. – »Was ist das für eine Stimme?«

Der Aufseher schüttelte den Kopf und erwiederte:

»Ein seltsamer Bursche; er hat sich entschieden geweigert zu spinnen, und so mußte ich ihn endlich nach vielen vergeblichen Versuchen einzeln einsperren lassen. Er sagt, es sei ihm so doch viel lieber, und ich glaube es ihm auch wirklich, denn er liegt den ganzen Tag auf dem Rücken an dem Boden und singt Schelmenlieder.«

Brauchen wir zu sagen, daß unsere Ahnung uns nicht getäuscht hatte und daß der lustige Sänger kein anderer war, als unser begierig gesuchter Freund, der rothe Cabführer? –

Seither haben wir ihn nicht mehr gesehen, wohl aber guten Grund zu der Annahme, daß dieses noble Individuum ein entfernter Verwandter von einem alten Brunnenmann unserer Bekanntschaft ist, der, – als wir einmal zufällig an dem Platze vorüber gingen, wo er seinen Stand hat, nachdem er dagestanden und ruhig zugesehen hatte, wie ein langer Mann sich mit Mühe in ein Cabriolet hineinschraubte, – als Alles vorbei war, hurtig herlief (wie es seine Brüder stets zu machen pflegen), an seinen Hut griff und, als wenn es sich von selbst verstünde, eine Kleinigkeit für den Brunnenmann verlangte. Nun war aber der Passagier nichts weniger als ein hübscher Mann, und als er ihm zornig auf seine Bitte entgegnete: »Geld! Für was? dafür wahrscheinlich, daß du dagestanden und mich angeglotzt hast?« – erwiederte der Brunnenmann und lächelte mit unerschütterlicher Ruhe und Höflichkeit dazu: »Nun, das ist doch wenigstens zwei Pence werth.«

Derselbe Brunnenmann gelangte später zu einer ausgezeichneten Stellung im öffentlichen Leben, und da wir Einiges von ihm in Erfahrung gebracht und schon oft im Sinne gehabt haben, das Gehörte mitzutheilen, so ist vielleicht jetzt die beste Gelegenheit dazu.

Herr William Barker also, – denn so hieß der Gentleman – war geboren – doch wofür brauchen wir zu erzählen, wo oder wann Herr William Barker geboren war? Warum in den Kirchenbüchern umherstören, oder in die Lucinischen Mysterien der Gebärhäuser eindringen wollen? – Herr William Barker war geboren, sonst wäre er ja nicht auf der Welt gewesen. Wo ein Sohn ist – muß auch ein Vater sein, wo eine Wirkung – auch eine Ursache. Dieß muß auch der allerneugierigsten Neugierde genug sein, und sollte es wirklich nicht genügen, so bedauern wir außerordentlich, keinen stichhaltigen Beweis darüber liefern zu können. Kann es eine befriedigendere oder strenger parlamentarische Deduktion geben? Sicher nicht!

Wir gestehen auch Ein für alle Mal, daß wir nicht anzugeben vermögen, zu welcher Zeit, oder durch welche besondere Umstände der Familienname dieses Mannes William Barker in »Bill Boorker« verketzert wurde. Herr Barker schwang sich zu einem bedeutenden Standpunkte empor und erlangte keinen unbeträchtlichen Ruf unter den Mitgliedern der Profession, welcher er seine besondere Thätigkeit widmete; er war allgemein unter ihnen entweder unter dem vertrauten Namen Bill Boorker oder unter der schmeichelhaften Bezeichnung »Beschwerde-Bill« bekannt, – welche letztere Benennung ein scherzhafter und bezeichnender Spottname war, um Herrn Barker's großes Talent zu verherrlichen, womit er den Unterthanen Ihrer Majestät, die sich vermittelst der Omnibusse von einem Orte zu dem andern bringen lassen, beschwerlich zu fallen und sie toll zu machen wußte. Von Herrn Barker's früherem Leben ist wenig bekannt, und dieses Wenige ist noch überdieß sehr zweifelhaft und in Dunkel gehüllt. Ein großer Ueberfluß an Thätigkeitsmangel, eine Rastlosigkeit in Vorsätzen, ein ungeheurer Durst nach Porter, eine Liebe zu allem Unstäten und Abgefeimten, welche Neigungen er mit vielen großen Geistern theilte, schienen der Hauptzug seines Charakters zu sein. Das geschäftige Treiben der Freischule des Kirchspiels und die schattige Ruhe eines Provinzialgefängnisses waren gleich unwirksam, auch nur die leiseste Veränderung in Herrn Barker's Gemüthsart hervorzubringen. Nichts konnte seinen fieberhaften Hang zu Wechsel und Veränderung unterdrücken, keine Rast seine angeborene Kühnheit bändigen.

Wenn man Herrn Barker in seinen jüngern Jahren irgend einer Schwachheit zeihen kann, so war dieß eine sehr liebenswürdige, – die Liebe: Liebe in dem allerumfassendsten Sinne, Liebe zu dem schönen Geschlechte, zu geistigen Getränken und zu Taschentüchern. Es war kein Egoismus in diesen Neigungen, er beschränkte sich nicht auf sein Eigenthum allein, was eine so ausschließliche Liebhaberei allzu Vieler ist. Nein – es war eine edlere Liebe, ein allgemeiner Grundsatz, welcher sich mit gleicher Gewalt auf das Besitzthum anderer Leute ausdehnte.

Es liegt darin etwas höchst Rührendes. Aber noch rührender ist es, wenn man weiß, daß solche philanthropische Grundsätze in der Regel nur sehr schlecht belohnt werden. Bow-Street, Newgate und Milbank sind eine armselige Vergeltung für ein so umfassendes Wohlwollen, welches sich durch eine so unwiderstehliche Liebe für alles Erschaffene ausspricht. Dieß erfuhr auch Herr Barker. Nachdem er ziemlich lange in sehr genauem Vernehmen mit den höchsten obrigkeitlichen Personen gestanden hatte, verließ er sein undankbares Vaterland mit Zustimmung und auf Kosten der Regierung, schiffte nach einem fernen Gestade und widmete sich dort, ein zweiter Cincinnatus, dem einfachen Geschäfte, sein Feld zu bauen und zu warten, bis sein Waizen wieder blühen würde, – ein friedliches Streben, unter welchem ihm ein Zeitraum von sieben Jahren fast unmerklich dahin floß.

Ob nach Verlauf dieser Zeit die britische Regierung seine Rückkehr speziell forderte, oder nur nicht gerade verlangte, daß er seine Residenz noch ferner im Auslande aufschlagen solle, vermögen wir durchaus nicht mit Bestimmtheit anzugeben. Indessen sind wir geneigt, das Letztere anzunehmen, insofern wir namentlich nicht finden, daß er nach seiner Heimkehr eine andere öffentliche Anstellung bekommen hätte, als den Posten an der Ecke vor Haymarket, wo er an dem Fiakerstand als Brunnenmannsassistent funktionirte. Hier saß er auf einem paar Tonnen neben dem Abweichsteine – mit einer Messingplatte nebst Nummer an einer massiven Kette am Hals, die Füße sorgfältig in Heubänder eingewickelt, und hier mag er wohl jene Bemerkungen über die menschliche Natur gemacht haben, welche einen so wesentlichen Einfluß auf das ganze Thun und Treiben seines spätern Lebens gehabt haben.

Herr Barker hatte erst einige Monate auf diese Weise funktionirt, als die Erscheinung des ersten Omnibus der Theilnahme des Publikums eine andere Richtung gab und sehr vielen Miethkutschern die Mühe ersparte, irgend eine Richtung überhaupt zu nehmen. Herrn Barker's Genie sah im Augenblicke, wie schmählich durch die Fortschritte des Systems, von welchem der erste Omnibus einen Theil ausmachte, Cabriolets und Fiaker, und mit ihnen auch also die Brunnenleute hintangesetzt wurden. Er sah ferner die Nothwendigkeit ein, irgend eine vortheilbringende Beschäftigung zu wählen, und sein praktischer Verstand begriff auf Einmal, wie viel sich damit machen ließe, wenn man systematisch die Jungen und Unerfahrenen anlockte, die Alten und Hilflosen mit Gewalt in den unrechten Omnibus hinein stieße, und so forthauderte, bis sie endlich, zur Verzweiflung gebracht, sich für sechs Pence per Kopf loskauften, oder, um uns seines eigenen figürlichen Ausdrucks in all' seiner natürlichen Schönheit zu bedienen, »bis sie ordentlich herübergelegt und die Störrigen breitgeschlagen waren.«

Die Gelegenheit zur Realisirung seiner innigsten Wünsche bot sich ihm bald von selbst dar. Es verbreitete sich nämlich auf dem Fiakerplatze das Gerücht, es werde ein »Buß« gebaut, welcher von Lisson Grove nach der Bank, Oxford Street und Holborn hinab fahren sollte, und die reißend schnelle Zunahme der »Busse« an Paddington Road gab der Sache noch mehr Gewicht. Herr Parker fragte sehr behutsam in den betreffenden Stadtvierteln im Geheimen nach. Die Sache verhielt sich wirklich so; am folgenden Montag sollte der »Royal William« schon seine erste Fahrt machen. Das war eine ganz verdammte Geschichte. Ein unternehmender Cabrioletkutscher, welcher den Ruf hatte, daß er eine sehr gute Peitsche führe – denn er war von den Eltern dreier verschiedener Kinder, welche er zu Schanden geführt hatte, verklagt worden und hatte gerade seine Strafe für das Ueberfahren einer alten Frau abgebüßt, wurde der Führer, und der pfiffige Eigentümer, welcher Herrn Barker's Qualifikationen kannte, ernannte ihn gleich bei seiner ersten Meldung zu der vakanten Stelle eines Cads (Kondukteurs). Der Buß begann seine Fahrten, Herr Barker zog einen neuen Menschen, d. h. Rock an und trat in einen neuen Wirkungskreis.

Wenn wir alle Verbesserungen, welche in dem Omnibus-System nach und nach, aber sicher, durch diesen außerordentlichen Mann eingeführt worden sind, aufzählen wollten, so würde es einen viel größern Raum erfordern, als wir diesem mangelhaften Aufsatze zu widmen vermögen. Ihm schreibt man allgemein den ersten Gedanken an den Kunstgriff zu, welcher nachher so umfassend adoptirt ward – daß der Führer des zweiten Wagens immer dicht hinter dem ersten bleibt und mit seiner Deichsel entweder zu der Thüre des andern hineinfährt, so oft sie geöffnet wird, oder eine Frau oder einen Mann spießt, der gerade hinein steigen will, – eine launige, spaßhafte Erfindung, – ein Beweis von der Gedankenoriginalität und dem kühnen Genie, welche in allen Handlungen dieses großen Mannes so glänzend hervortraten.

Es fehlte Herrn Barker natürlich nicht an Feinden; – welcher Mann im öffentlichen Leben hätte keine? – Aber selbst seine bittersten Gegner können nicht läugnen, daß er mehr alte Herrn und Frauen geraubt und mit nach Paddington genommen hat, welche nach der Bank wollten, und mehr alte Herrn und Frauen bis zu der Bank, welche nach Paddington wollten, als sechs Andere auf der Straße, die ein ähnliches Gewerbe daraus machen, und obgleich böswillige Leute in die Pünktlichkeit dieser Angabe Zweifel setzen wollen, so wissen sie doch recht gut, daß es eine ausgemachte Sache ist, wie er eine Menge von alten Leuten beiderlei Geschlechts an jene Orte mitgenommen hat, welche nicht im entferntesten dorthin zu gehen im Sinne hatten.

Herr Barker ist derselbe Cad, welcher sich vor einiger Zeit dadurch auf so edle Weise ausgezeichnet hat, daß er einen Handwerksmann auf dem Tritt so lange festhielt – der Omnibus war immer in vollem Laufe – bis er ihn zu seiner vollständigen Satisfaktion weidlich abgedroschen hatte und ihn dann am Ende, als er mit ihm fertig war, wegschleuderte. Auch sollte es Herr Barker gewesen sein, der im edlen Unwillen darüber, daß man ihn aus einem öffentlichen Wirthshause schmachvoll hinaus geworfen hatte, die Kniee des Wirths also mit Fußstößen traktirte, daß derselbe an den Beschädigungen starb. Wir sagen, Herr Barker sollte es gewesen sein, weil dieß keine gemeine That war und nicht aus einem gewöhnlichen Kopfe kommen konnte.

Sie ist nun Sache der Geschichte geworden und im Newgate-Kalender ausgezeichnet; wir wünschten diese kühne heroische That Herrn Barker zuschreiben zu können – bedauern aber unendlich, sagen zu müssen, daß er nicht der Held derselben ist. Könnten wir wenigstens doch zur Ehre der Familie sagen, daß es sein Bruder gewesen!

In den kleinen Details seiner Profession zeigte Herr Barker eine bewundernswürdige Kenntniß der menschlichen Natur. Auf den ersten Blick sagte er Einem, wo er hin wollte, und rief dem zufolge auch den Namen des Platzes ohne den leisesten Bezug auf die wirkliche Bestimmung des Fuhrwerks. Er kannte ganz genau die Sorte von alten Weibern, welche bei dem nicht sehr umständlichen Hineinschieben oder Herauszerren durch die Eile so verwirrt wurden, daß sie nicht eher erkennen konnten, wo man sie abgesetzt, bis es zu spät war; er sah gleich jedem Passagier an, was in seinen Gedanken vorging, wenn sich einer heimlich vornahm, »den verdammten Cad Morgen früh zur Verantwortung zu ziehen;« auch verfehlte er nie gegen die Dienstmädchen den Angenehmen zu spielen, setzte sie immer zunächst an die Thüre und plauderte den ganzen Weg über mit ihnen.

Irren ist menschlich; deßwegen kam es auch hie und da vor, daß Herr Barker auf die Schüchternheit oder Nachsicht des Unrechten sündigte, und es war mehr als Einmal der Fall, daß eine polizeiliche Vorladung seine Einsperrung zur Folge hatte.

Wir haben von Herrn Barker und dem rothen Cabführer als von solchen gesprochen, – die der Vergangenheit angehören. Ach! Herr Barker hat abermals das Land seiner Väter verlassen, und die Klasse von Leuten, zu welchen Beide gehörten, ist beinahe verschwunden! Die Kultur hat sich auch unter die Spritzleder unserer Cabriolets geschlichen und ist in das innerste Heiligthum unserer Omnibus eingedrungen. Schmutz und Barchent verschwinden vor Reinlichkeit und eleganter Ausstattung; das rohe Wesen weicht der immer allgemeiner werdenden Höflichkeit und jene erleuchtete, beredte, weise und gründliche Körperschaft, der Londoner Magistrat – wird die Hälfte ihrer Unterhaltung und die Hälfte ihrer Geschäfte verlieren.



 << zurück weiter >>