Charles Dickens
Skizzen aus dem Londoner Alltagsleben
Charles Dickens

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Zehntes Kapitel

Schäbig-gentile Leute.

Es gibt eine gewisse Gattung von Leuten, welche, sonderbar genug, ausschließlich der Hauptstadt anzugehören scheinen. Man kann ihnen alle Tage in den Straßen Londons begegnen, aber gewiß wird man sie sonst in keiner andern Straße treffen; sie scheinen nur hier einheimisch zu sein, blos auf diesem Boden zu gedeihen, und gehören eben so gut zu den Eigenthümlichkeiten Londons, als sein Rauch, seine braunen Ziegelsteine und sein Mörtel. Wir könnten diese Benennung durch verschiedene Beispiele erläutern, allein in gegenwärtiger Skizze wollen wir unsern Beweis blos auf Eine Classe davon beschränken – wir meinen damit jene, welche so richtig und sachgemäß mit dem Namen »schäbig-gentil« bezeichnet wird.

Schäbige Leute wird man zwar, Gott weiß es, überall antreffen, und gentile Leute sind gleichfalls außer London eben so wenig selten, als in London; allein diese Composition beider – diese schäbige Gentilität – ist eben so lokal, als die Statue im Charing-Cross oder der Brunnen bei Aldgate. Es ist übrigens auffallend, daß blos Männer diese Eigenschaft haben; die Frau ist stets entweder bis auf's Aeußerste schmutzig und schlumpig, oder reinlich und anständig in ihrem Aeußern, selbst in der augenfälligsten Armuth. Ein wahrhaft armer Mann, der, wie man zu sagen pflegt, »bessere Tage gesehen hat«, bietet dagegen eine Erscheinung dar, in welcher schmutzige Dürftigkeit und der unglückliche Versuch einer Art fadenscheiniger Eleganz sich sonderbar vermischen. Wir wollen es durch Beispiele zu erläutern versuchen, was wir unter derlei Leuten, wie wir sie auf dem Titel bezeichnet haben, verstehen.

Wenn man einem Manne begegnet, welcher in Drury-Lane herumlungert, oder, mit dem Rücken gegen einen Pfeiler in Long-Acre gelehnt, dasteht, die Hände in den Taschen seiner groben, reichlich mit Schmutzflecken bedeckten, über die Stiefeln schlotternden und außen mit Streifen besetzten Beinkleider stecken hat, – der ferner etwas auf dem Leibe trägt, was ehemals ein brauner Oberrock mit hellen Knöpfen gewesen zu sein scheint, und einen abgenützten, bedeutend aus der Mode gekommenen Hut schief über das rechte Auge drückt, so bemitleide man ihn nicht – er gehört nicht zu den »Schäbig-gentilen«. Die Harmoniegesellschaften in einem Gasthof vierten Ranges, oder der Bereich eines Privattheaters sind seine Lieblingsorte; er besitzt eine festgewurzelte Antipathie gegen jede Art von Beschäftigung, und steht mit mehreren Pantomimikern jener Häuser auf freundschaftlichem Fuße. Sieht man aber einen Mann von vierzig oder fünfzig Jahren, welcher eilig eine Nebenstraße hinabschlüpft, sich so nahe als möglich an die Häuser hindrückt, alte, grobe, fadenscheinige, schwarze Kleider trägt, die von beständigem Gebrauch glänzen, als wenn sie gewichst wären, dessen Beinkleider enge anliegen und durch Stege weit hinabgezogen sind, theils damit sie besser aussehen, theils damit seine alten Schuhe nicht ausschlappen sollen, der sein vergilbtes weißes Halstuch überdieß noch fest angeheftet hat, um das abgetragene zerlumpte Weißzeug darunter zu verbergen, der ferner seine Hände in den Ueberbleibseln von einem Paar Biberhandschuhen stecken hat, so darf man ihn hierher unter die Classe der »Schäbig-gentilen« zählen. Ein Blick auf sein niedergebeugtes, scheues, das Bewußtsein seiner Armuth verkündigendes Aeußere wird auf jeden Beobachter einen schmerzlichen Eindruck machen, vorausgesetzt, daß dieser kein Philosoph oder National-Oekonom ist.

Ein derartiger Mann machte uns einst nicht wenig zu schaffen; den ganzen Tag über konnten wir ihn nicht aus dem Kopfe bringen, und sogar des Nachts beschäftigte er unablässig unsere Phantasie. Der Mann, von dem Walter Scott in seiner Dämonologie spricht, hatte nicht halb so viel von der Verfolgung seines eingebildeten Gespenstes im schwarzen Sammtrocke auszustehen, als wir von unserem Freunde im ehemals schwarzen Kleide. Er zog unsere Aufmerksamkeit zuerst in dem Lesezimmer des brittischen Museums auf sich, wo er uns gegenüber saß; und, was diesen Mann noch besonders auszeichnete, war, daß er stets auch ein paar schäbig-gentil aussehende Bücher vor sich liegen hatte – zwei alte Foliobände voll Eselsohren, mit vermoderten, wurmstichigen Decken, die einst hübsch gewesen sein mochten. Jeden Morgen mit dem Schlage Zehn saß er auf seinem Stuhle, und Nachmittags war er stets der Letzte, welcher das Zimmer verließ. Dazu sah er wie ein Mann aus, der nicht weiß, wo er jetzt Wärme und Ruhe finden soll. Da saß er nun alle Tage, und zwar so nahe als möglich an dem Tische, um die fehlenden Knöpfe am Rocke zu verbergen; seinen alten Hut hatte er sorgfältig neben sich auf den Boden gestellt, weil er augenscheinlich glaubte, daß er dort der Beobachtung entgehen würde.

Ungefähr um zwei Uhr sah man ihn an einem Weck oder Pennylaib kauen, was er aber nicht unverholen auf einmal aus der Tasche zog, wie Jemand, der blos einen kleinen Zwischenimbiß zu sich nimmt, sondern er brach es Stück für Stück in seiner Tasche ab, und aß es verstohlen. Er wußte nur zu gut, daß es sein Mittagsessen war. Als wir dieses arme Individuum das erste Mal sahen, hielten wir es für völlig unmöglich, daß sein Anzug noch schlechter werden könnte. Wir gingen sogar so weit, daß wir die Wahrscheinlichkeit glaubten, er werde in Kurzem in einem anständigeren Anzuge zweiter Hand erscheinen. Wir kannten aber dergleichen noch nicht; sein Anzug wurde alle Tage schlechter, die Knöpfe an seiner Weste fielen einer nach dem andern ab; dann knöpfte er seinen Rock zu, und als dessen eine Seite eben so reduzirt war, wie die Weste, knöpfte er ihn von der andern Seite zu. Im Anfange der Woche sah er etwas besser aus, als am Ende, weil sein Halstuch, obgleich sehr vergilbt, doch noch reiner war, übrigens erschien er trotz all' seiner Aermlichkeit gewiß nie ohne Handschuhe und Hosenstege. In diesem Zustande blieb er einige Wochen; endlich fiel einer der Knöpfe auf der Rückseite des Rockes ab, und der Mann kam nicht wieder, so daß wir ihn schon für gestorben hielten.

Etwa eine Woche nach seinem Ausbleiben saßen wir eines Tages wieder an unserem alten Tische, und da unsere Augen stets auf den leeren Stuhl gerichtet waren, verfielen wir unfreiwillig in eine Reihe von Betrachtungen, warum er sich wohl aus dem öffentlichen Leben zurückgezogen haben möchte. Eben kamen wir auf die Vermuthung, ob er sich wohl aufgehängt, oder von einer Brücke herabgestürzt hätte, ob er wirklich gestorben, oder nur verhaftet wäre – als unsern Muthmaßungen durch den persönlichen Eintritt des Mannes auf Ein Mal ein Ziel gesteckt wurde. Es war eine ganz besondere Metamorphose mit ihm vorgegangen, und er schritt mit einer Miene durch das Zimmer, welche vollkommen erkennen ließ, wie er sich der mit seinem Anzuge vorgegangenen Veränderung wohl bewußt sei. Es war in der That seltsam; seine Kleider zeigten ein hübsches, dunkles, glänzendes Schwarz, – und doch sahen sie den vorigen auffallend ähnlich; ja, es war sogar derselbe Schnitt, mit dem lange Bekanntschaft uns vertraut gemacht hatte. Und dann der Hut – kein Mensch konnte die Form dieses Hutes verkennen, mit seiner hohen Krone, die nach oben weiter wurde. Langer Dienst hatte ihm ein fuchsiges Ansehen mitgetheilt, nun war er aber so schwarz, als der Rock. Auf ein Mal ging uns ein Licht auf: sie waren »aufgefärbt« worden. 's ist eine betrügerische Flüssigkeit, dieses blaue und schwarze Farbwasser, wir haben dieß an manchem schäbig-gentilen Manne erlebt. Indem sie verrätherischerweise ihre Opfern eine Zeitlang mehr Ansehen gibt, veranlaßt sie dieselben vielleicht zum Ankaufe von einem Paar neuen Handschuhen, einer wohlfeilen Cravate oder andern Toiletten-Kleinigkeiten; sie erhebt ihren Geist eine Woche lang, blos um ihn nachher wo möglich noch tiefer fallen zu lassen. Auch hier war es so; das vorübergehende gute Aussehen des unglücklichen Mannes nahm nach und nach in gleichem Verhältnisse ab, als sich das »Auffärben« abtrug. Die Kniee an den Unaussprechlichen, die Ellbogen an dem Rocke und die Nähte an beiden fingen bald an auffallend weiß zu werden. Der Hut kam wieder unter den Tisch, und sein Eigentümer schlich wieder wie früher nach seinem Stuhle.

Nun trat vollends ganze Wochen lang unaufhörliches Regenwetter ein, nach deren Ablaufe die Farbe vollständig verschwunden war; der schäbig-gentile Mann hat aber nachher keinen Versuch mehr gemacht, seinen Anzug abermals auffrischen zu lassen.

Es möchte schwierig sein, einen besondern Stadttheil zu benennen, wo sich hauptsächlich dergleichen schäbig-gentile Leute aufhalten. Viele davon haben wir übrigens stets in der Nachbarschaft der Justiz-Collegien angetroffen. Man wird sie in Holborn zwischen acht und zehn Uhr finden können, und wer sich je die Mühe nehmen will, den Gerichtshof zu besuchen, wo die Sachen zahlungsunfähiger Schuldner verhandelt werden, wird sowohl unter den Zuschauern, als unter den Partieen, eine große Zahl derselben bemerken können. Wir kamen niemals auf die Börse, ohne dort mehreren Schäbig-gentilen zu begegnen, und oft haben wir uns darüber gewundert, welches Geschäft sie nur wohl da haben könnten. Dort sitzen oder stehen sie stundenlang, stützen sich auf große, wassersüchtige, abgeschabte Regenschirme, oder essen auch Abernethy-Zwieback; kein Mensch spricht mit ihnen, noch sie mit irgend Jemand. Wir erinnern uns übrigens doch, ein paar Mal zwei Personen dieser Art aus der Börse mit einander sprechen gehört zu haben; allein unserer Erfahrung nach ist dieß ein höchst ungewöhnliches Ereigniß, und wird höchstens durch das Anerbieten einer Prise oder durch eine ähnliche kleine Gefälligkeit veranlaßt.

Nicht minder schwierig möchte anzugeben sein, wo sie wohnen, oder womit sie sich hauptsächlich beschäftigen.

Wir hatten nur ein Mal mit Einem Manne dieser Art ein Geschäft; es war ein dem Trunke ergebener Kupferstecher, und wohnte in der rauchigen Hinterstube einer neuen Häuserreihe zu Camden-Town, unweit dem Ziegelfelde und dem Kanale. Ein solcher schäbig-gentiler Mann hat entweder gar keine besondere Beschäftigung, oder ist Korn-, Kohlen-, oder Weinmäkler, ein Schuldeneintreiber, Mäklersgehülfe oder ein ruinirter Advokat. Er kann auch ein Schreiber von der niedersten Classe sein, oder endlich auch Beiträge zu den Erzeugnissen der Presse derselben Gattung liefern. Ob nun unsere Leser dergleichen Leute auf ihren Gängen so oft bemerkt haben, als wir, wissen wir freilich nicht; aber so viel können wir sagen – daß ein solcher bedauernswürdiger armer Mensch (habe er nun sein Elend sich selbst oder Anderen beizumessen), der seine Armuth fühlt und vergebens sie zu verbergen strebt, eines der beklagenswerthesten Geschöpfe ist. Und dieß sind mit wenigen Ausnahmen die schäbig-gentilen Leute.



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