Charles Dickens
Skizzen aus dem Londoner Alltagsleben
Charles Dickens

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Drittes Kapitel

Sentimentalität.

Die Miß Crumptons, oder, um uns der Inschrift an der Gartenthüre von Minerva-House in Hammersmith zu bedienen – »die Misses Crumpton«, waren zwei ungewöhnlich große, besonders schlanke, und außerordentlich magere Personen – sehr gestreckt und sehr gelb. Miß Amelia Crumpton räumte achtunddreißig Jahre ein, und Miß Maria Crumpton gab zu, daß sie vierzig sei; es hätte übrigens dieser Zugeständnisse nicht bedurft, denn der Augenschein bewies hinlänglich, daß sie mindestens fünfzig waren. Beide wußten sich auf höchst interessante Weise zu kleiden – gleich Zwillingen – und sahen etwa eben so lustig und erfreulich, wie ein paar in Saamen geschossene Ringelblumen aus. Sie waren äußerst genau, hatten die möglichst strengste Idee von der Schicklichkeit, trugen falsche Haare und rochen stets sehr stark nach Lavendel.

Unter den Auspicien dieser beiden Schwestern stand Minerva-House, eine »Bildungsanstalt für junge Mädchen«, in welcher etwa ihrer zwanzig von vierzehn bis neunzehn Jahren einschließlich, von Allem Etwas und im Ganzen Nichts lernten – Französisch und Italienisch, zwei Mal in der Woche Tanzunterricht und andere für das Leben gleich nothwendige Kenntnisse. Das Haus war ziemlich geräumig, ein wenig von der Straße abgelegen und an der Vorderseite verpallisadirt. Die Schlafzimmerfenster wurden stets halb offen gehalten, um den Vorübergehenden einen kleinen Blick auf die zahlreichen kleinen Bettstellen mit sehr hübschen weißen Ueberwürfen zu gestatten und zugleich den Wohlstand und die Ueppigkeit der Anstalt gebührend darzuthun. Es enthielt ferner ein ganz mit prächtig illuminirten Landkarten behängtes Vorderzimmer, die Niemand ansah, und mit Büchern angefüllt, welche Niemand las; dieß war ausschließlich für den Empfang der Eltern bestimmt, welche, so oft sie kamen, über einen solchen Anblick von lauter Wissenschaft und Gelehrsamkeit ganz erstaunt waren.

»Liebe Amelia,« sagte Miß Maria Crumpton, als sie eines Morgens – mit aufgewickelten falschen Locken, was sie zuweilen that, um die jungen Damen glauben zu machen, sie wären ächt – in das Unterrichtszimmer trat, »liebe Amelia, da habe ich so eben ein sehr schmeichelhaftes Billet erhalten. Du darfst keinen Anstand nehmen, es laut zu lesen.«

Nach dieser Aufforderung schickte sich Miß Amelia sogleich an, folgendes Billet mit sehr triumphirender Miene zu lesen:

»Cornelius Brook Dingwall, Esq. P. M., empfiehlt sich der Miß Crumpton und würde sich ihr sehr verbunden fühlen, wenn es Miß Crumpton gelegen wäre, ihn Morgen früh um ein Uhr mit ihrem Besuche zu beehren, da Cornelius Brook Dingwall Esq. P. M. sehr wünscht, Miß Brook Dingwall Miß Crumptons Sorge anzuvertrauen und deßhalb mit ihr darüber Rücksprache zu nehmen.

Adelphi.

Montag Morgens.«

»Eines Parlamentsmitglieds Tochter!« wiederholte Miß Maria mit wohlgefälligem Lächeln, welches natürlich einen kichernden Beifallschor sämmtlicher Mädchen zur Folge hatte.

»Das ist ja ganz vortrefflich,« sagte Miß Amelia, wobei die Mädchen abermals beipflichtend nachsummten. Höflinge sind blos Schulknaben und Hofdamen Kostschülerinnen.

Eine so wichtige Verkündigung mußte nothwendig die Tagesgeschäfte einstellen, und es wurden daher zur Feier dieses wichtigen Ereignisses heute Ferien gegeben. Die Miß Crumpton's zogen sich in ihr Privatzimmer zurück, um die Sache zu besprechen; die kleineren Mädchen verhandelten das wahrscheinliche Benehmen und die Manieren der Tochter eines Parlamentsmitgliedes, und solche die schon in das achtzehnte Jahr gingen, waren neugierig, ob sie wohl schon eine Liebschaft habe, ob sie hübsch wäre, ob sie viel Wesens aus sich machen würde, und noch viele andere Ob's von gleicher Wichtigkeit.

Die beiden Miß Crumpton's begaben sich am folgenden Tage zur anberaumten Stunde nach Adelphi, natürlich aufs Beste herausgeputzt, und sahen so liebenswürdig als möglich aus, – was, im Vorbeigehen gesagt, bei ihnen eigentlich nicht viel heißen wollte. Nachdem sie durch Vermittelung eines rothglühend aussehenden Bedienten in glänzender Livree ihre Karten abgegeben hatten, wurden sie zur Audienz bei dem erhabenen, tiefdenkenden Dingwall eingeführt. Cornelius Brook Dingwall, Esq. P. M., war sehr hochmüthig, feierlich und anspruchsvoll. Es lag von Natur etwas Spasmodisches in seinem Gesichte, was durch eine außerordentlich steife Halsbinde noch mehr hervorgehoben wurde. Er war erstaunlich stolz darauf, seinem Namen das P. M. (Parlamentsmitglied) beisetzen zu können, und versäumte nie eine Gelegenheit, den Leuten seine hohe Würde in's Gedächtniß zu rufen. Er hatte eine große Meinung von seinen Fähigkeiten, was ihm um so mehr zur großen Beruhigung dienen mußte, als sonst Niemand dieser Meinung war, und in der Diplomatie hielt er sich, nach den kleinen Einrichtungen in seiner eigenen Familie zu schließen, für ganz einzig und ohne seines Gleichen. Er war ein Landbeamter und erfüllte seine Amtspflichten mit der gebührenden Gerechtigkeit und Unparteilichkeit, schoß zuweilen Böcke und bekam zuweilen Nasen.

Miß Brook Dingwall gehörte zu der zahlreichen Classe jener jungen Damen, die gleich Adverbien dafür bekannt sind, daß sie zu jedem Gemeinplatze, sonst aber eigentlich nirgends hinpassen.

Bei gegenwärtiger Veranlassung saß dieser talentvolle Mann an einem mit allerlei Papieren bedeckten Tische vor einer kleinen Bibliothek, arbeitete zwar nichts, gab sich aber wenigstens den Anschein, als ob er beschäftigt wäre – denn er spielte mit den Papieren. Parlamentsakten und Briefe mit der Aufschrift an »Cornelius Brook Dingwall Esq. P. M.« lagen prahlerisch in die Augen fallend auf dem Tische ausgebreitet und nicht weit davon saß Frau Brook Dingwall bei ihrer Arbeit.

Eine jener Landplagen, ein verzogenes Kind, nach der allerneuesten Mode in eine blaue Tunika mit einem schwarzen viertelellenbreiten Gürtel und ungeheurer Schnalle daran, spielte im Zimmer umher, und sah in seinem Costüm aus, wie ein Räuber aus einem Melodram im Kleinen.

Nach einigen angenehmen Scherzen des süßen Kindes, welches sich namentlich den Spaß machte, den für Miß Maria Crumpton kaum hingestellten Stuhl wieder weg zu schleppen, setzten sich die Besucherinnen, und Cornelius Brook Dingwall Esq. eröffnete die Unterhandlungen. Er habe, sagte er, in Folge des hohen Lobes, welches ihrer Anstalt von seinem Freunde, Sir Alfred Muggs, gespendet worden sei, Miß Crumpton zu sich bitten lassen.

Miß Crumpton murmelte ihren Dank, und Cornelius fuhr fort:

»Einer der Hauptgründe, Miß Crumpton, warum ich meine Tochter Ihnen anzuvertrauen gedenke, ist, daß sie sich seit Kurzem mit gewissen sentimentalen Ideen trägt, die ich allen Ernstes aus ihrem jugendlichen Gemüthe verbannt zu sehen wünschte.« – Hier fiel der erwähnte kleine Unschuldige mit schauerlichem Gepolter von einem Armstuhle herab.

»Böser Bube,« sagte seine Mama, wie es schien, mehr darüber erschrocken, daß er sich die Freiheit genommen hatte, herabzufallen, als über sonst etwas, »ich werde James klingeln, daß er ihn aus dem Zimmer bringt.«

»Du mußt ihn nicht schelten, meine Liebe,« sagte der Diplomat, sobald er seine Stimme unter dem fürchterlichen Geheul, das auf den Fall und die Drohung folgte, hörbar machen konnte. »Das ist Alles Folge seines hohen Geistesfluges.« Diese letzte Erklärung war an Miß Crumpton gerichtet.

»Zuverlässig, Sir,« erwiederte die antike Maria, die freilich den Zusammenhang zwischen menschlichem Geistesfluge und dem Falle von einem Armstuhle nicht ganz klar einzusehen vermochte.

Als das Stillschweigen wieder hergestellt war, begann das Parlamentsmitglied abermals:

»Ich wüßte nun nicht, wie meine Absicht besser erreicht werden könnte, Miß Crumpton, als wenn sie beständig mit Mädchen ihres Alters zusammen ist, und da ich weiß, daß sie in Ihrer Anstalt blos mit solchen Mädchen zusammenkommen wird, von denen nicht zu erwarten ist, daß sie ihr junges unerfahrenes Herz verderben werden, so ist meine Absicht, sie Ihnen anzuvertrauen.«

Die jüngste Miß Crumpton drückte den Dank der Anstalt im Allgemeinen aus. Maria war in Folge körperlicher Schmerzen – nachdem sich der liebe kleine Bube wieder erholt, er hatte sich nämlich auf ihren sehr zarten Fuß gestellt, um sein Gesicht (das einem großen O auf einem rothgedruckten Theaterzettel ähnlich sah) mit dem Schreibtisch in gleiche Linie zu bringen.

»Es versteht sich wohl von selbst, daß Lavinia ein eigenes Zimmer erhalten wird,« fuhr der beneidenswerthe Vater fort; »und besonders in Einem Punkt wünschte ich meine Anordnungen auf's Strengste befolgt zu sehen. Sie hat sich nämlich eine lächerliche Liebesgeschichte mit einer Person, welche weit unter ihrem Stande ist, in den Kopf gesetzt, und diese verkehrten Ideen haben ihren gegenwärtigen Gemüthszustand herbeigeführt. Da ich nun weiß, daß sie unter ihrer Aufsicht natürlich keine Gelegenheit haben kann, mit jener Person zusammenzukommen, so bin ich nicht abgeneigt – ich bin wirklich sogar geneigt, es vorzuziehen sie in eine solche Gesellschaft zu geben, wie Sie um sich sehen.«

Diese wichtige Entdeckung wurde abermals durch das kleine Geschöpf mit dem hochfliegenden Geiste unterbrochen, welches im Uebermaße seiner Fröhlichkeit nicht nur ein Fenster hinausschlug, sondern auch nahe daran war, durch dasselbe in den Hof hinabzustürzen. Es wurde nach James geschellt; nun folgte aber bedeutende Verwirrung und ketzerliches Schreien, man sah zwei kleine blaue Beine, etwa in der Form von Faßreifen, heftig in der Luft zappeln, und der Bediente schleppte den Knaben aus dem Zimmer.

»Herrn Brook Dingwalls Wunsch ist, daß Miß Brook Dingwall Alles lerne,« sagte Frau Dingwall, die nur höchst selten sprach.

»Sehr wohl,« sagten die beiden Miß Crumptons gleichzeitig.

»Und ich habe das beste Vertrauen, daß wir es auf diese Weise am leichtesten bewirken werden, meiner Tochter jene dummen Geschichten aus dem Kopfe zu bringen, Miß Crumpton,« – fuhr der Gesetzgeber fort; »ich hoffe, Sie werden die Güte haben, allen meinen Forderungen in dieser Hinsicht möglichst zu entsprechen.«

Dieses Versprechen wurde, wie es sich von selbst versteht, geleistet, und nach verschiedenen langweiligen Erörterungen, die Seits der Dingwalls mit dem höchsten diplomatischen Anstande vorgebracht, Seits der Crumpton's aber mit tiefem Respecte hingenommen wurden, traf man zum Schlusse noch die Verabredung, daß Miß Lavinia übermorgen in Hammersmith eintreffen, wo auch der halbjährige Ball des Instituts stattfinden sollte. Es möchte dieß zu des lieben Kindes Aufheiterung beitragen. Dieß war nebenbei ein zweiter diplomatischer Streich.

Miß Lavinia wurde sofort ihrer künftigen Erzieherin vorgestellt und die beiden Miß Crumptons nannten sie »ein charmantes Mädchen«; eine Meinung, welche sie, durch ein sonderbares Zusammentreffen, stets bei jedem neueintretenden Zöglinge aussprachen.

Nach allerlei Höflichkeiten, Danksagungen und herablassenden Artigkeiten endete die Zusammenkunft.

Vorbereitungen – um uns des theatralischen Ausdruckes zu bedienen – von noch nie gesehener Großartigkeit und Pracht wurden nun ohne Unterlaß in Minerva-House getroffen, um dem bevorstehenden Balle allen möglichen Glanz zu verleihen.

Das größte Zimmer des Hauses wurde mit blauen Calico-Rosen, Plaid-Tulpen und andern eben so natürlich aussehenden künstlichen Blumen, dem Werke der jungen Damen selbst, höchst zierlich und geschmackvoll dekorirt. Der Teppich ward hinweggenommen, die Flügelthüren ausgehoben, die Möbeln fortgeschafft und Sitze hereingestellt.

Die Modewaarenhändler von Hammersmith waren erstaunt über die plötzliche starke Nachfrage nach blauen Bändern und langen weißen Handschuhen. Dutzende von Geranienstöcken wurden zu Bouquets angekauft, und eine Harfe nebst zwei Violinen wurde noch zu dem großartigen Piano, welches schon da war, in der Stadt bestellt. Die jungen Damen, die so glücklich waren, sich dabei zu Ehren der Anstalt produziren zu dürfen, waren fortwährend auf den Beinen, und zwar nicht minder zu ihrem eigenen Wohlgefallen, als zum Aerger des lahmen alten Herrn über der Straße; und zwischen den Miß Crumptons und dem Pastetenbäcker von Hammersmith fand eine ununterbrochene Korrespondenz statt.

Der Abend kam endlich heran, das Spitzenheften, Schuhbänderannähen und Frisiren wollte gar kein Ende nehmen, und es war ein Lärm und ein Durcheinander, wie man es nirgends, außer in einem Pensionat, treffen wird.

Die kleinern Mädchen gaben sich alle Mühe, Jedermann im Wege zu sein und wurden daher auch nicht wenig herumgestoßen; die ältern putzten, banden, knüpften, steckten, schmeichelten und beneideten einander eben so ernstlich und eifrig, als ob sie in der That schon vollkommene Welt-Damen wären.

»Wie sehe ich aus, Liebe?« fragte Miß Emilie Smithers, die Schöne des Hauses, Miß Caroline Wilson, ihre Busenfreundin: sie war nämlich die Häßlichste in Hammersmith und wohl auch sonst. »O! zum Entzücken, Liebe, und ich?« – »Herrlich! Noch nie habe ich dich so hübsch gesehen,« erwiederte die Schöne und beschäftigte sich mit ihrer eigenen Toilette, ohne einen Blick auf ihre arme Gefährtin zu werfen.

»Ich hoffe, der junge Hilton wird sich bald einfinden,« sagte ein anderes Mädchen zu einem dritten mit dem Ausdrucke fieberhafter Erwartung.

»O, wie würde es ihm schmeicheln, wenn er dieß wüßte,« sagte diese, und sprach im Conjunktiv, statt im Indikativ.

»Ach! er ist so hübsch,« erwiederte die Erste.

»Ein so liebenswürdiger Mensch,« bemerkte eine Andere.

»Was er für ein distinguirtes Air hat,« sagte eine Dritte.

»Aber was sagt Ihr dazu?« kam ein anderes Mädchen in das Zimmer gerannt; »Miß Crumpton sagt, ihr Cousin komme.«

»Was! Theodosius Buttler?« riefen alle entzückt.

»Ist er denn so hübsch?« fragte eine Novize.

»Nein, nicht gerade besonders hübsch,« war die allgemeine Erwiederung; »aber, o, so liebenswürdig!«

Herr Theodosius Buttler war eines jener unsterblichen Genies, wie man sie fast in jedem Zirkel trifft. Sie besitzen gewöhnlich eine sehr tiefe, eintönige Stimme, bereden sich stets selbst, daß sie höchst bewunderungswürdige Leute und ganz allein verdammt wären, so unglücklich zu sein, ohne eigentlich zu wissen, warum. Sie sind außerordentlich eingebildet und haben in der Regel gerade einen halben Gedanken; aber bei überspannten jungen Damen und albernen jungen Herren gelten sie für wunderbare höhere Wesen.

Das fragliche Individuum, Herr Theodosius, hatte eine Flugschrift geschrieben, die sehr gewichtige Ansichten über die Zweckmäßigkeit, Etwas oder Nichts zu thun, preisgab, und da jeder Satz wenigstens fünfzig viersylbige Wörter enthielt, so galt das Opus bei seinen Bewunderern für etwas Ausgezeichnetes.

»Dieß wird er sein,« riefen mehrere junge Damen aus, als es das erste Mal läutete, und zwar so heftig, daß der Glocke der Untergang drohte.

Eine erwartungsvolle Pause trat ein. Zuerst kamen einige Schachteln, dann eine junge Dame: – es war Miß Brook Dingwall, in vollem Ballstaate, mit einer ungeheuern goldenen Kette um den Hals, ihr Kleid mit einer einfachen Rose aufgeheftet, einen elfenbeinernen Fächer in der Hand und einen höchst interessanten Ausdruck von Verzweiflung in dem Gesichte.

Die Miß Crumptons erkundigten sich mit der peinlichsten Genauigkeit nach dem Befinden der Familie, und Miß Brook Dingwall wurde sofort ihren künftigen Gefährtinnen förmlich vorgestellt. Die Miß Crumptons unterhielten sich mit den jungen Damen in den honigsüßesten Ausdrücken, damit Miß Brook Dingwall von ihrer liebenswürdigen Behandlungsweise gehörig eingenommen und entzückt werden möchte.

Abermaliges Läuten.

Es war Herr Dadson, der Schreiblehrer, mit seiner Gattin; die Frau in einem grünen Seidenkleide und, der Uebereinstimmung wegen, dergleichen Schuhen und Haubenbändern, der Herr Gemahl aber in weißer Weste, schwarzen kurzen Beinkleidern und ditto seidenen Strümpfen, welche Waden zur Schau stellten, an denen wenigstens zwei Schreiblehrer genug gehabt hätten.

Die jungen Damen zischelten einander in die Ohren und der Schreiblehrer nebst Gattin flattirten den Miß Crumptons, die in Ambrafarbe gekleidet und, gleich Puppen, mit langen Schärpen versehen waren, auf das Angelegentlichste.

Wiederholt stürmte die Glocke, und die Gäste kamen nun haufenweise an, so zahlreich, daß wir sie nicht mehr einzeln aufführen können: Papa's und Mama's, Tanten und Onkels, Angehörige und Vormünder der verschiedenen Zöglinge; der Singlehrer Signor Lobskini, in einer schwarzen Perücke, der Pianofortespieler und die Violonisten, der Harfenspieler halb betrunken, und einige zwanzig junge Herren, die sich nächst der Thüre aufstellten, zusammen plauderten, und manch' Mal in ein Gekicher ausbrachen. Die Unterhaltung summte wie ein Bienenschwarm. Es wurde Kaffee herumgereicht und die wohlgenährten Mama's, die aussahen, wie die dicken Figuren in der Pantomime, welche blos auftreten, um niedergeklopft zu werden, ließen sich's wacker schmecken.

Der beliebte Herr Hilton war der Nächste, welcher ankam, und, da er nach dem Wunsche der Miß Crumptons das Amt eines Ceremonienmeisters übernommen hatte, so wurden alsbald die Quadrillen mit großem Eifer arrangirt. Die jungen Herren an der Thüre rückten allmälig bis in die Mitte des Zimmers vor und bequemten sich endlich dazu, sich den Damen vorstellen zu lassen und sie zu engagiren. Der Schreiblehrer ließ keine Tour aus, sprang mit der fürchterlichsten Behendigkeit umher, und seine Frau spielte Whist im Hinterzimmer – einem kleinen Gemache, das wegen seiner fünf Bücherreihen mit dem Namen Studierzimmer beehrt wurde. Vermöge ihrer Machtvollkommenheit setzten die Miß Crumptons diese arme Frau jedes Mal an den Spieltisch, denn man mußte sie etwas in den Hintergrund stellen, da sie Jedermann ein Gräuel war.

Die interessante Lavinia Brook Dingwall war das einzige anwesende Mädchen, das keinen Theil an den Vergnügen des Abends zu nehmen schien. Vergeblich wurde sie zum Tanze aufgefordert, vergeblich waren die ihr als der Tochter eines Parlamentsmitgliedes dargebrachten Huldigungen. Der herrliche Tenor des unnachahmlichen Lobskini konnte sie eben so wenig rühren, als das brillante Spiel der Lätitia Parsons, deren Vortrag der »Erinnerungen aus Irland« allgemein dem von Moschelles selbst gleichgestellt wurde. Selbst nicht einmal die Nachricht von Herrn Theodosius Buttlers Ankunft vermochte sie aus dem Winkel des hintern Conversationszimmers, wo sie Platz genommen hatte, hervor zu locken.

»Nun, kommen Sie, Theodosius,« sagte Miß Maria Crumpton, nachdem der hocherleuchtete Flugschriftenmacher fast bei der ganzen Gesellschaft herumgeführt worden war; »ich muß Sie jetzt auch unserm neuen Zöglinge vorstellen.«

Theodosius sah aus, als ob er für etwas Irdisches gar keiner Sinn hätte.

»Sie ist die Tochter eines Parlamentsmitgliedes,« sagte Maria. – Theodosius fuhr zusammen.

»Und heißt?« fragte er.

»Miß Brook Dingwall.«

»Gerechter Himmel!« rief Theodosius in poetischer Extase, doch ziemlich leise aus.

Miß Crumpton begann die Vorstellung in aller Formalität. Miß Brook Dingwall sah endlich ganz langsam in die Höhe.

»Edward!« rief sie mit einem halb unterdrückten Schrei, als sie die wohlbekannten Nankinhosen sah.

Glücklicherweise besaß Miß Maria Crumpton keine besondere Beobachtungsgabe, auch gehörte es mit zu den diplomatischen Arrangements, daß Miß Lavinia's abgebrochenen Exclamationen keine Aufmerksamkeit geschenkt werden sollte; daher entging ihr die gegenseitige Erschütterung der beiden jungen Leute vollständig, und als sie sah, daß sein Antrag für die nächste Quadrille angenommen wurde, ließ sie ihn mit Miß Brook Dingwall allein.

»O, Edward!« rief die romantischste aller romantischen jungen Damen aus, als das Licht der Wissenschaft an ihrer Seite saß; »o Edward! Sind Sie's wirklich?«

Herr Theodosius versicherte dem theuern Geschöpfe in größten Feuer der Leidenschaft, daß er sich durchaus nicht bewußt wäre, irgend Jemand anders als er selbst zu sein.

»Dann warum – warum – diese Verstellung? O! Edward M'Neville Walter, was habe ich um Ihretwillen schon geduldet!«

»Lavinia, hören Sie mich,« erwiederte der Held in seiner höchst poetischen Weise. »Verdammen Sie mich nicht ungehört. Wenn für irgend Etwas, was dem gepreßten Herzen eines so erbärmlichen Wesens, als ich bin, entströmt, noch eine Stelle in Ihrem Andenken aufbewahrt ist, – wenn ein so verächtliches Geschöpf Ihre Rücksicht und Theilnahme je noch verdient, – so werden Sie sich erinnern, daß ich einst eine Flugschrift herausgegeben und den Druck auch bezahlt habe, – betitelt: ›Staatswirthschaftliche Betrachtungen über die Aufhebung der Abgabe auf das Wachs.‹«

»Ich weiß es, – ich weiß es! –« schluchzte Lavinia.

»Das,« fuhr der Geliebte fort, »war gerade der Gegenstand, welchem Ihr Vater mit Leib und Seele ergeben war.«

»Ja wohl, – ja wohl!« wiederholte die Sentimentale.

»Ich wußte dieß,« fuhr Theodosius tragisch fort. »Ich wußte dieß, – ich sandte ihm ein Exemplar davon. Er wünschte mich kennen zu lernen. Konnte ich ihm meinen wahren Namen entdecken? Nimmermehr. Nein, ich nahm jenen Namen an, den Sie so oft mit Liebesklängen ausgesprochen haben. Als M'Neville Walter focht ich für die gerechte Sache; als M'Neville Walter gewann ich Ihr Herz, als solcher wurde ich durch Ihres Vaters Bediente aus dem Hause geworfen, und auf keine Weise ist es mir seitdem wieder gelungen, Sie zu sehen. Nun treffen wir uns zufällig hier, und mit Stolz darf ich Ihnen sagen, daß ich Theodosius Buttler bin.«

Die junge Dame schien mit diesen überzeugenden Beweisen vollkommen zufrieden und belohnte den unsterblichen Fürsprecher des Wachses mit einem glühenden Liebesblick.

»Darf ich hoffen,« sagte er, »daß Sie das durch Ihres Vaters Gewaltthat abgebrochene Versprechen erneuern?«

»Setzen Sie sich zu mir,« erwiederte Lavinia kokett, – denn Mädchen von neunzehn Jahren verstehen zu kokettiren.

»Nein,« rief der Nankin-Beschenkelte. »Ich weiche nicht von dieser Stelle, so lange ich auf der Folter der Ungewißheit schwebe, – darf ich – darf ich hoffen?«

»Sie dürfen.«

»Erneuern Sie Ihr Versprechen?«

»Ja.«

»Ich habe also Ihre Erlaubniß?«

»Sie haben sie.«

»In ihrer vollsten Ausdehnung?«

»Sie wissen es ja,« erwiederte Lavinia erröthend.

Wunderbare Gesichtsverzerrungen des interessanten Butlers drückten sein Entzücken aus. – Wir könnten nun das, was jetzt folgte, sehr ausdehnen. Wie nämlich Herr Theodosius und Miß Lavinia den ganzen Abend über tanzten, plauderten und seufzten; wie die Miß Crumptons darüber sehr erfreut waren; wie der Schreiblehrer gleich einem Lokomotiv mit einer Pferdekraft herumraste, wie seiner Frau die unverzeihliche Grille ankam, den Whisttisch in dem kleinen Hinterzimmer zu verlassen, um mit Teufelsgewalt ihren grünen Kopfputz in dem Saale gerade da zur Schau zu stellen, wo er am deutlichsten zu sehen war; wie das Souper aus kleinen dreieckigen Sandwich-Butterschnitten auf Deserttellern dastand, zwischen welchen zur Abwechslung hie und da ein Tortenschnittchen herumlag, und wie die Gäste warmes Wasser, durch Citronen gefärbt und mit Muskatnuß gewürzt, unter dem Namen Glühwein tranken.

Diese und andere Umstände von gleich bedeutendem Interesse wollen wir übrigens übergehen, um einen Vorfall von größerer Wichtigkeit zu erzählen.

Ungefähr vierzehn Tage nach dem Balle saß Cornelius Brook Dingwall, Esq. P. M., an dem vorerwähnten Bibliothektische, in dem nämlichen Zimmer. Er war allein und auf seinem Angesichte malte sich der Ausdruck tiefer Gedanken und feierlichen Ernstes; – er war mit der Abfassung einer Bill für die strengere Beobachtung der Ostermontagsfeier beschäftigt.

Der Bediente klopfte an die Thüre, der Gesetzgeber fuhr aus seinen Träumen empor und »Miß Crumpton« ward angemeldet. Die Pädagogin erhielt die Erlaubniß, in das Allerheiligste zu treten, und Maria schwebte herein; nachdem sie mit gebührender Ziererei Platz genommen hatte und der Bediente fort war, befand sie sich mit dem Parlamentsrathe allein. O wie sehr hätte sie gewünscht, daß noch ein Drittes dabei wäre, – sogar die Gegenwart des kurzweiligen jungen Herrn Brook Dingwall wäre eine Erleichterung gewesen! –

Miß Crumpton begann nun das Duett: Sie hoffe, Frau Brook Dingwall und der hübsche Kleine werden sich doch wohl befinden.

Sie befanden sich also. Frau Brook Dingwall und der kleine Frederick waren in Brighton.

»Bin Ihnen sehr verbunden, Miß Crumpton,« sagte Cornelius in seiner feierlichsten Manier, »daß Sie mir diesen Morgen die Ehre Ihres Besuches schenken. Ich würde schon nach Hammersmith gefahren sein, um Lavinia zu sehen, aber Ihre Nachrichten lauteten so befriedigend und meine Pflichten für das Haus, dessen Mitglied ich bin, nehmen mich so sehr in Anspruch, daß ich es noch für eine Woche zu verschieben beschloß. Wie geht's ihr?«

»Sehr wohl, in der That, Sir,« erwiederte Maria, die nicht wußte, wie sie dem Vater beibringen sollte, daß die Tochter davongelaufen wäre.

»Ja, ich denke, bei dem Plan, welchen ich für sie gemacht, wird sie wohl selbst am besten fahren.«

Hier wäre nun die günstigste Gelegenheit gewesen, ihm zu sagen, daß sie eigentlich mit Jemand anders noch besser zu fahren gedacht habe und deßhalb davongefahren sei; aber die unglückliche Erzieherin war dieser Aufgabe nicht gewachsen.

»Sie sind doch den Vorschriften, die ich Ihnen ertheilt, streng gefolgt, Miß Crumpton?«

»Streng, Sir.«

»Sie schreiben mir in Ihrem Billet, daß sich ihr Geist nach und nach erhebe.«

»Allerdings, sehr, Sir.«

»Das ist ganz in der Ordnung. Ich war überzeugt, daß es so kommen mußte.«

»Aber ich fürchte, Sir,« sagte Miß Crumpton mit sichtbarer Bewegung, »ich befürchte, der Plan ist nicht so ganz gelungen, wie wir es wohl gewünscht hätten.«

»Nicht?« rief der Prophet aus. »Gott helfe mir! Miß Crumpton, Sie sehen so alterirt aus. Was hat sich denn zugetragen?«

»Miß Brook Dingwall, Sir –«

»Nun, Ma'am!«

»Ist fort, Sir,« sagte Maria und zeigte eine starke Inklination, in Ohnmacht zu fallen.

»Fort?«

»Davon gelaufen, Sir.«

»Davon gelaufen! mit wem – wann – wo – wie – warum?« rief der aufgeregte Diplomat fast zu gleicher Zeit aus.

Das natürliche Gelb auf dem Antlitze der unglücklichen Maria nahm alle Farben des Regenbogens an, während sie ein kleines Packet auf dem Tische des Parlamentsmitgliedes niederlegte.

Hastig öffnete er es. Ein Brief von seiner Tochter und ein anderer von Theodosius. Er durchlief deren Inhalt. – »Ehe Sie dieß erhalten – weit entfernt – appelliren an Ihre Gefühle – Liebe bis zum Wahnsinn – Bienenwachs – Sklaverei« etc. etc.

Er schlug sich mit der Hand vor die Stirne und schritt mit furchtbar langen Schritten zum großen Schrecken der steifen Maria in dem Zimmer auf und ab.

»Will nichts mehr von ihr wissen, von nun an,« sagte Herr Brook Dingwall, und machte plötzlich an dem Tische Halt und trommelte mit der Hand den Takt dazu; – »von nun an werde ich nie mehr zugeben, daß ein Mann, der Pamphlets schreibt, unter irgend einem Vorwande ein Gemach dieses Hauses, außer der Küche, betritt, – ich werde meiner Tochter und ihrem Manne hundert und fünfzig Pfund jährlich aussetzen, aber sie sollen mir nie wieder vor das Angesicht kommen – und Gott verd . . . e mich, Ma'am, ich werde eine Bill über die Aufhebung der Bildungsanstalten vorbringen!«

Geraume Zeit ist nun seit dieser leidenschaftlichen Erklärung verstrichen.

Herr und Frau Buttler haben sich auf das Land begeben und bewohnen ein kleines Haus im Ball'spond, das in der Nähe einer Ziegelhütte höchst romantisch gelegen ist. Sie haben keine Familie.

Herr Theodosius thut sehr wichtig und schreibt unaufhörlich; aber bei der großen Verzweiflung der Verleger wird es ihm nicht möglich, etwas von seinen Geistesprodukten zum Drucke zu bringen.

Seine junge Frau kommt nach und nach zu der Ueberzeugung, daß eingebildetes Unglück wirklichem Unglücke doch weit nachstehe, und daß eine in der Eile geschlossene und bei reiflicherer Ueberlegung bereute Verbindung mehr wesentliches Unglück bringe, als sie je früher voraussetzen zu dürfen geglaubt hatte.

Bei ruhigem Nachdenken sah sich Cornelius Brook Dingwall, Esq. P. M., freilich widerstrebend, genöthigt, zuzugeben, daß der unvorhergesehene Erfolg seiner bewundernwürdigen diplomatischen Arrangements nicht sowohl den Miß Crumptons, als vielmehr seiner eigenen Diplomatie zuzuschreiben wäre. Er weiß sich übrigens, gleich einigen anderen kleinen Diplomaten, durch die zuversichtliche Selbstberuhigung zu trösten, daß, wenn sein Plan auch nicht gelungen sei, er doch eigentlich hätte gelingen müssen.

Minerva-House ist noch in statu quo und die Misses Crumpton befinden sich stets noch in dem friedlichen und ungestörten Genusse aller der Vortheile, welche aus ihrer Bildungsanstalt hervorgehen.



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