Charles Dickens
Skizzen aus dem Londoner Alltagsleben
Charles Dickens

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Zwölftes Kapitel

Die Gefangenen-Wanne.

Neulich kamen wir eines Nachmittags, bei der Rückkehr von einem kleinen Ausfluge, an der Ecke von Bow-Street vorüber, wo eine große Menge vor dem Polizeiamte versammelten Volkes unsere Aufmerksamkeit auf sich zog, und wir deßhalb die Straße hinauf gingen. Es mochten etwa dreißig bis vierzig Personen sein, die theils um das Gebäude umher, theils queer über die Straße standen; nur einige Wenige hatten sich einzeln, dem Hause gegenüber, aufgestellt, Alle aber warteten augenscheinlich in gespannter Erwartung auf irgend Etwas. Wir blieben gleichfalls einige Minuten stehen, ohne daß etwas zum Vorschein gekommen wäre, wandten uns dann an einen unbarbirten, blaß aussehenden Schuhflicker neben uns, der seine Hände unter dem Schurzfelle stecken hatte, und stellten an ihn die gewöhnliche Frage: »Was gibt es hier?« Der Schuhflicker betrachtete uns überaus verächtlich von Kopf bis zu Fuß, und antwortete lakonisch: »Nichts.« Nun wissen wir zwar ganz gut, daß, wenn Zwei in einer Straße stehen bleiben und nach irgend einem Gegenstande, oder auch nur in die Luft gaffen, in kurzer Zeit Zweihundert bei einander sein werden; daß aber ein Haufen Leute nur fünf Minuten lang in einer Straße stehen bleiben sollte, ohne sich auch nur den geringsten Zeitvertreib zu machen, wenn sie nicht irgend etwas Anziehendes vor Augen haben, das konnten wir nicht glauben, und es war sonach ganz natürlich, daß wir weiter fragten: »Worauf warten dann all' diese Leute hier?« – »Auf Seiner Majestät Wagen,« erwiederte der Schuhflicker. Dieß war noch außerordentlicher. Wir konnten uns unmöglich einbilden, was in aller Welt wohl Seiner Majestät Wagen auf dem Polizeiamte in Bow-Street zu thun haben könnte, und sannen hin und her, was wohl möglicher Weise an dieser ungewöhnlichen Erscheinung Schuld sein möchte, als uns das Geschrei der Knaben unter dem Haufen: »Da kommt die Wanne!« veranlaßte, aufzublicken, und die Straße entlang zu schauen.

Das bedeckte Fuhrwerk, in welchem die Gefangenen von dem Polizei-Bureau nach den verschiedenen Gefängnissen abgeführt werden, kam in vollem Trabe daher, und so wußten wir demnach zum ersten Male, daß Seiner Majestät Wagen blos eine Umschreibung des Gefangenen-Transport-Wagens oder der Wanne war, womit dieser nicht allein des hübscheren Ausdrucks wegen benannt zu werden schien, sondern auch, weil vorbesagter Wagen auf Seiner Majestät Kosten gehalten wird, da er ursprünglich zur ausschließlichen Benutzung derjenigen Damen und Herren angeschafft worden war, welche sich genöthigt sehen, in den verschiedenen verrufenen Häusern einzusprechen, welche unter der allgemeinen Benennung »Seiner Majestät Gefängnisse« bekannt sind.

Der Wagen hielt vor dem Polizeiamte; das Volk drängte sich so dicht an die Treppe, daß eben nur noch ein kleiner Durchgang für die Gefangenen offen blieb; unser Freund Schuhflicker und die übrigen Pflastertreter gingen ebenfalls über die Straße hinüber und wir folgten ihnen. Der Kutscher und eine zweite Person, welche neben ihm auf dem Bocke saß, stiegen ab und gingen hinein. Die Thüre wurde hinter ihnen geschlossen und der versammelte Pöbel war nun in äußerster Erwartung.

Nach ein paar Minuten ging die Thüre wieder auf, und die beiden Vorigen erschienen mit zwei Gefangenen. Es waren ein paar Mädchen, deren ältere kaum über sechzehn Jahre alt sein mochte, während die jüngere zuverlässig noch nicht ihr vierzehntes Jahr erreicht hatte. Daß sie Schwestern waren, sah man an ihrer auffallenden Aehnlichkeit, obgleich zwei Jahre des Lasters den Zügen der älteren Schwester ihre Brandmale so leserlich aufgedrückt hatten, als ob sie mit glühendem Eisen eingebrannt worden wären. Beide waren sehr gut gekleidet, namentlich die Jüngere, und obgleich auch hierin die größte Aehnlichkeit zwischen ihnen statt fand, welche dadurch noch augenfälliger wurde, daß sie durch Handschellen zusammengeschlossen waren, so konnte man doch unmöglich einen größeren Kontrast sehen, als in dem Benehmen der beiden Mädchen lag. Die Jüngere weinte bitterlich – nicht aus Verstellung, oder in der Hoffnung, dadurch einen Eindruck zu machen, sondern augenscheinlich aus wirklicher Scham; sie verbarg ihr Gesicht in das Taschentuch, und ihr ganzes Benehmen drückte den bittersten, wenn gleich vergeblichen Kummer nur zu sehr aus.

»Wie lange hast du bekommen, Emilie?« rief ihr ein Weib mit rothem Gesichte mitten aus dem Haufen zu. »Sechs Wochen mit Arbeit,« erwiederte das ältere Mädchen mit frechem Lachen, »und das ist mir lieber, als wenn ich in so ein anderes Steinloch gekommen wäre; die Mühle ist doch noch besser als die Sitzungen, und die Bella da darf ihr dazu das erste Mal einen Besuch machen. – Den Kopf in die Höhe, mein Täubchen,« fuhr sie fort und riß dem andern Mädchen ungestüm das Taschentuch von dem Gesichte weg, »den Kopf gerade und schau ihnen in's Gesicht; ich bin nicht eifersüchtig; und hol mich der Henker, wenn es nicht ein Todesspaß ist.« – »Hast Recht, Alte,« rief ihr ein Mann mit einer Papiermütze zu, welcher, wie die meisten Uebrigen, sein größtes Vergnügen an dem kleinen Schauspiele hatte. »Recht!« erwiederte das Mädchen; »ja, ja; wer ist denn wohl am besten d'ran, he?« – »Vorwärts, 'rein mit Euch!« unterbrach sie der Fuhrmann. »Pressirt nicht so, Kutscher,« erwiederte das Mädchen, »und vergeßt fein nicht, daß Ihr mich in Cold-Bath-Fields, bei einem großen Hause mit hoher Gartenmauer davor, absetzt, Ihr könnt nicht wohl fehlen. Halt! Bella, wo willst du denn hin? Du wirst mir noch meinen Armschmuck abreißen!« Dieß galt dem jüngeren Mädchen, welches, um so schnell als möglich in den Wagen zu kommen, schon auf den Tritt gestiegen war, ohne an die Handschellen zu denken. »Komm' nur wieder 'runter, und laß dir den Weg von mir weisen.« Damit zerrte sie das elende Geschöpf so heftig herab, daß es auf das Pflaster hintaumelte, stieg nun selbst zuerst in das Fuhrwerk und zog ihre Gefährtin nach.

Diese beiden Mädchen waren durch eine niederträchtige und habgierige Mutter zu dem Laster und dem liederlichen Leben, welches sie auf den Londoner Straßen getrieben, angeleitet worden. Was das jüngere Mädchen jetzt noch war, war das ältere einst gewesen; was die Aelteste jetzt war, mußte jene bald werden: eine trübe Ansicht, allein wie sicher geht sie in Erfüllung! Wie oft wiederholt sich dieses tragische Schauspiel! Man darf sich nur in den Gefängnissen oder andern Strafanstalten Londons umsehen – nein, man darf nur die Straßen selbst sehen. Diese Geschöpfe wandeln Tag für Tag, Stunde für Stunde an uns vorüber – sie sind etwas so Natürliches geworden, daß sie uns gar nicht mehr auffallen. Die Fortschritte dieser Mädchen im Laster sind eben so reißend, als die Verbreitung einer Pest, und gleichen dieser in ihrer verderblichen Wirkung und weit um sich greifenden Ansteckung. Schritt für Schritt kann man diesen erbärmlichen Geschöpfen folgen, und es ist grauenvoll, wie rasch sie auf der Bahn des Lasters dahineilen; hoffnungslos im Anfange, verabscheut und verstoßen in der Folge, freundlos, verloren und unbeklagt bei ihrem traurigen Ende.

Auch noch andere Gefangene gibt es – Knaben von zehn Jahren, bereits ebenso verhärtet in Lastern, als Männer von fünfzigen, – ein heimatloser Landstreicher geht vergnügt in das Gefängniß, wo er Nahrung und Obdach findet, mit einem Mann durch Handschellen zusammengeschlossen, dem keine weitere Aussicht mehr bleibt, dessen Denkungsart so schlecht als sein Name ist, und der seine Familie durch sein erstes Verbrechen zu Grunde gerichtet hat.

Unsere Neugierde war nun befriedigt. Jene erste Gruppe hatte einen Eindruck in uns zurückgelassen, den wir gerne vermieden und wo möglich wieder aus unserem Gedächtniß gelöscht hätten.

Die Menge zerstreute sich – das Fuhrwerk rollte davon, beladen mit Schuld und Unglück, und wir sahen der Gefangenen-Wanne nicht länger nach.

 


 


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