Charles Dickens
Skizzen aus dem Londoner Alltagsleben
Charles Dickens

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Charaktere

Erstes Kapitel

Betrachtungen über gewisse Menschenklassen.

Es ist merkwürdig, wie ein Mensch in London gut, mittelmäßig oder schlecht leben und sterben kann, ohne daß man auch nur die geringste Notiz von ihm nimmt. Er erweckt nicht die geringste Theilnahme in der Brust auch nur einer einzigen Person; sein Dasein ist für Niemand ein Gegenstand des Interesses, als für ihn selbst, und er kann nicht sagen, daß man ihn vergesse wenn er stirbt, denn Niemand erinnerte sich seiner, so lange er noch am Leben war.

In der That gibt es in dieser großen Hauptstadt eine sehr zahlreiche Volksklasse, die nicht einen einzigen Freund zu besitzen, für die Niemand zu sorgen scheint. Im Anfange durch die gebieterische Nothwendigkeit gezwungen, haben sich diese Leute nach London begeben, um nach irgend einer Beschäftigung auszugehen und die Mittel zu ihrem Unterhalte zu gewinnen. Wir wissen recht wohl, wie hart es ist, die Bande, die uns an unsere Heimath, an unsere Angehörigen fesseln, aufzulösen; noch härter aber ist es, die tausenderlei Erinnerungen an glücklichere Tage und vergangene bessere Zeiten unterdrücken zu müssen, die Jahre lang in unseren Busen schlummerten und nun zuweilen wieder in unserem Gedächtnisse auftauchen, um uns die traurige Wirklichkeit vor Augen zu stellen, daß wir unsere Freunde verlassen haben, die Scenen aber, die wir in der letzten Zeit nur zu genau mit angesehen, nicht dazu geschaffen seien, die Hoffnungen, mit denen wir uns einst geschmeichelt und die wir bisher gehegt, zu verwirklichen.

Jene Leute haben übrigens zu ihrem eigenen Glücke derlei Gedanken seitdem längst vergessen; ihre alten Landsleute sind gestorben oder fortgewandert; ihre früheren Bekannten, mit denen sie im Briefwechsel gestanden, sind gleich ihnen selbst, unter der Menge und dem Geräusch irgend einer lebhaften Stadt untergegangen, und sie haben sich nach und nach in rein passive Gewohnheits- und Geschäftsmenschen verwandelt.

Wir hatten uns neulich in dem eingefriedigten Platze des St. Jamesparks niedergelassen, als sich unsere Aufmerksamkeit auf einen Mann lenkte, den wir in unserem Geiste alsbald in die Klasse vorgenannter Leute reihten. Es war eine hochgewachsene, magere, blasse Person, in einem schwarzen Rocke, knappen grauen Beinkleidern, kleinen dürftigen Gamaschen und braunen Kastorhandschuhen. Der Mann trug einen Regenschirm in der Hand – nicht zum Gebrauche, denn der Tag war schön, sondern augenscheinlich nur deßhalb, weil er ihn jeden Morgen auf seine Geschäftsgänge mitzunehmen pflegte; der Mann ging vor dem kleinen Grasplatze auf und ab, auf welchem die zu vermiethenden Stühle standen, nicht als ob er es zu seinem Vergnügen oder zur Unterhaltung gethan hätte, sondern vielmehr als ob es eine Art von Zwang oder ein Geschäft wäre, gerade so, wie er jeden Morgen von seinem Hinterstübchen in Islington nach seinem Comptoir geht. Es war ein Montag – der Ostermontag; er war für vierundzwanzig Stunden dem Dienste des Schreibpultes entronnen, und ging nun hier zum Zeitvertreibe, und um sich eine Leibesbewegung zu machen, vielleicht zum Erstenmale in seinem Leben, spazieren. Wir waren sehr geneigt zu glauben, daß er nie zuvor einen Feiertag gehabt, und daß er jetzt nicht genau wußte, was er mit sich selbst anfangen sollte.

Auf dem Grase spielten einige Kinder; mehrere Gruppen von Leuten schlenderten umher, plauderten und lachten, – aber der Mann spazierte beharrlich auf und ab, nichts beachtend und nicht beachtet; sein mageres, bleiches Gesicht sah aus, als ob es gänzlich unfähig wäre, einen Ausdruck der Neugierde oder der Theilnahme anzunehmen. In seiner ganzen Weise und seinem ganzen Aussehen lag irgend etwas, was uns, nach unserer Meinung, sein ganzes Leben oder eigentlich seinen ganzen Tag darstellte, denn ein Mensch dieser Gattung kennt keinen Wechsel. Wir glaubten fast, das kleine finstere Comptoir im Hinterhause zu sehen, zu dem er jeden Morgen hinschlich, wo er seinen Hut an denselben Nagel aufhing, seine Beine unter demselben Schreibtische ausstreckte, zuerst den schwarzen Rock, der das Jahr hindurch ausdauern muß, aus- und dann den andern anzog, der seine Schuldigkeit das Jahr vorher gethan hatte, und den er jetzt am Schreibtische benützt, um den einen zu schonen. Da sitzt er nun bis fünf Uhr Abends – blos seinen Kopf erhebend wenn irgend Jemand in das Comptoir tritt, oder wenn er in der Mitte irgend einer schwierigen Berechnung an die Decke hinaufblickt, als ob ihm von daher und von dem dort angebrachten Luftloche mit seinen runden Scheiben, deren jede in der Mitte einen grünen Knopf hat, die Inspiration kommen solle, und arbeitet den ganzen Tag über gerade so regelmäßig wie die Uhr auf dem Kamingesimse, deren lautes Picken fast ebenso einförmig ist, als seine eigene Existenz. Um fünf Uhr oder auch eine halbe Stunde später steigt er sachte von seinem gewohnten Stuhle herab, und abermals wechselt er seinen Rock und wandert nach seinem gewohnten Speisehause irgendwo in der Nähe von Bucklersbury. Der Aufwärter sagt ihm den Speisezettel in einer ziemlich zutraulichen Weise her – denn er ist ein regelmäßiger Gast – und nach der Frage: »was wohl das Beste wäre?« oder »was er das letztemal gegessen?« bestellt er eine kleine Portion Roastbeef mit Gemüse, und eine halbe Pinte Porter. Er wird heute eine kleine Portion bekommen, denn Gemüse kostet einen Penny mehr als Kartoffel, und er hat gestern »zwei Brode« erhalten, wozu den Tag vorher noch die ungeheure Zugabe von »Käse« gekommen war. Nachdem dieser wesentliche Punkt im Reinen, hängt er seinen Hut auf – er behält ihn nämlich auf dem Kopfe bis zu dem Augenblicke, wo er sich niederläßt – und bestellt die Zeitungen nach dem Herrn, der sie gegenwärtig liest. Kann er sie erhalten so lange er beim Essen sitzt, so scheint ihm das letztere viel mehr zu behagen, er stellt sie sodann an der Wasserflasche auf, ißt abwechslungsweise ein Stückchen Fleisch und liest wieder ein paar Zeilen. Genau fünf Minuten ehe die Stunde um ist, zieht er einen Shilling hervor, bezahlt die Rechnung, steckt das, was er herausbekommt, sorgfältig in die Westentasche (nachdem er zuvor einen Penny für den Kellner abgezogen), und geht abermals auf sein Bureau, welches er, wenn kein Fremdenpostabend ist, nach einer halben Stunde wieder verläßt. Nun verfügt er sich auf dem gewohnten Wege nach Hause, in sein kleines Hinterstübchen in Islington, wo er seinen Thee trinkt, und sich vielleicht an der Unterhaltung mit dem kleinen Knaben seiner Hauswirthin ergötzt, den er zuweilen mit einem Penny für die Lösung des Problems eines einfachen Additionsexempels belohnt. Zuweilen hat er auch seinem Geschäftsvorstande in Bernard-Street, Russel-Square ein Paar Briefe zu bringen. Hört sodann der reiche Mann den Namen eines Schreibers nennen, so ruft er: »kommen Sie herein, Herr Smith;« worauf Herr Smith seinen Hut unter einen Stuhl im Vorzimmer auf den Boden stellt und schüchtern eintritt; man fordert ihn herablassend zum Sitzen auf, er zwängt seine Beine mühsam unter den Stuhl, bleibt in respektvoller Entfernung von dem Tische sitzen, trinkt das Glas Xeres, welches ihm der älteste Knabe einschenkt, aus, und schleicht dann, sich verbeugend, rückwärts wie ein Krebs aus dem Zimmer; aus dem Zustande heftiger Aufregung, in welchen ihn diese Tour versetzt hat, erholt er sich nicht eher wieder, bis er auf einmal – er weiß selbst nicht wie – sich wieder in der Islingtonstraße befindet. Arme, harmlose Geschöpfe diese Menschen; zufrieden, aber nicht glücklich: niedergedrückten und unterwürfigen Gemüthes mögen sie keine Noth fühlen, aber Vergnügen kennen sie auch keines.

Aehnlich diesen Leuten ist eine andere Klasse von Geschöpfen, die, gleich jenen, weder Freunde noch Gefährten haben, deren Stellung in der Gesellschaft jedoch Folge ihrer eigenen Wahl ist. Es sind gewöhnlich alte Knaben mit weißem Kopfe und rothem Gesichte, tragen gerne hessische Stiefeln und trinken gerne Portwein; sie sind aus einer wirklichen oder eingebildeten Ursache – gewöhnlich der ersten, deren herrlicher Beweggrund ist, daß sie reich und ihre Verwandten arm sind – mißtrauisch gegen Jedermann, und finden, menschenfeindlich in ihr Zimmer eingeschlossen, großes Vergnügen daran, sich selbst für unglücklich zu halten und Jedermann unglücklich zu machen, in dessen Nähe sie kommen.

Man trifft dergleichen Menschen überall; auf dem Kaffeehause erkennt man sie an ihren mißvergnügten Aeußerungen und dem luxuriösen Mittagessen, im Theater daran, daß sie stets auf derselben Stelle sitzen und mit neidischen Augen auf alle jungen Leute in ihrer Nähe blicken; in der Kirche an ihrem pomphaften Eintreten und dem lauten Tone, in welchem sie die Liturgie nachsprechen; in Gesellschaften an ihrem Zanken beim Whistspielen und an ihrem Haß gegen Musik. Ein alter Junggeselle der Art wird seine Zimmer glänzend möbliren lassen, und Büchersammlungen, Silberzeug und Gemälde verschwenderisch um sich aufhäufen, nicht sowohl zu seinem eigenen Vergnügen, als vielmehr andere Leute damit zu ärgern, welche es ihm gerne gleich thun möchten, aber die Mittel dazu nicht besitzen. Er ist Mitglied von zwei oder drei Clubbs und wird von allen Mitgliedern beneidet und venerirt, aber auch eben so sehr gehaßt. Zuweilen wird er von einem armen Verwandten – vielleicht einem verheiratheten Neffen – um eine kleine Aushülfe angegangen; dann eifert er mit gerechter Entrüstung gegen die Unvorsichtigkeit der jungen Leute, die sich verheiratheten, prediget über die Nutzlosigkeit der Weiber, den Uebermuth, Familie haben zu wollen, gegen die Abscheulichkeit, mit hundert und fünfundzwanzig Pfund jährlich sich in Schulden zu stürzen, und andere unverzeihliche Verbrechen mehr, wobei er nicht verfehlt, seine Ermahnungen mit einer selbstgefälligen Erwähnung seiner eigenen Aufführung und einer zarten Anspielung auf die Unterstützung des Kirchspieles zu schließen. Er stirbt eines Tages nach dem Mittagessen an Indigestion, nachdem er zuvor sein Vermögen einer Bibelgesellschaft vermacht hat; und diese Anstalt errichtet zu seinem Gedächtnisse ein Denkmal, das ihre Bewunderung seines christlichen Wandels in dieser, und ihre köstliche Ueberzeugung von seiner Glückseligkeit in jener Welt ausspricht.

Nächst unsern besonderen Freunden, den Miethkutschern, Cabrioletführern und Omnibuskondukteuren, welchen wir wegen ihrer kaltblütigen Unverschämtheit und unerschütterlichen Selbstbeherrschung Bewunderung zollen müssen, gibt es zuverlässig keine Volksklasse, die uns mehr amüsirt, als die Londoner Lehrlinge.

Sie bilden keine eigentlich organisirte Körperschaft mehr, welche sich sonst durch feierliche Verbrüderung vereinigt hatte, Sr. Majestät Unterthanen, so oft es ihnen gefiel, in Schrecken zu versetzen, und sich zu diesem Zwecke mit Bosheit in den Köpfen und Prügeln in den Händen zu versammeln pflegte. Sie sind an keinen andern Vertrag mehr gebunden, als an ihren Lehrvertrag, und wie es um ihre Tapferkeit steht, wird man leicht daraus abnehmen, daß sie durch die heilsame Drohung der Polizei, welche ihnen im Hintergrunde die Aussicht auf freies Logis im Besserungshause und einen fühlbaren Verweis als Abschied eröffnete, leicht gezähmt wurden. Demungeachtet bilden sie noch eine besondere Kaste und sind um nichts weniger lustig, seit man sie unschädlich gemacht hat. Wer hat sie nicht schon an Sonntagen auf den Straßen gesehen? Findet man wohl ein schöneres Streben nach Großartigem und Erhabenem, als sie es durch ihr Auftreten an den Tag zu legen wissen? Am letzten oder vorletzten Sonntage gingen wir den Strand hinab hinter einer kleinen Gruppe von solchen Lehrjungen her, welche uns den ganzen Weg über Stoff genug zur Unterhaltung gaben. Sie waren miteinander aus der Stadt gekommen – es war zwischen drei und vier Uhr Nachmittags – und schlugen den Weg nach dem Park ein. Vier von ihnen zogen Arm in Arm dahin, trugen weiße Glacéhandschuhe, gleich Bräutigamen, helle Beinkleider von noch nie gesehenem Schnitte und Röcke, für welche die englische Sprache bis jetzt noch keine Namen hat (eine Art Mittelding zwischen einem Oberrock und Mantel), weiße Halsbinden und Taschentücher nach dem eigenen Geschmacke eines Jeden.

Jeder der Gentlemen trug einen dicken Stock mit einer ungeheuren Quaste daran, den er gelegentlich graciös im Ringe herumwirbelte, und alle vier spazierten, leichtsinnig und unbekümmert, mit einer nicht zu beschreibenden, unwiderstehlich possierlichen Windbeutelei einher.

Einer von der Gesellschaft hatte eine Uhr von der Größe und Gestalt eines Ribstonapfels in seine Westentasche hineingezwängt, und verglich sie stets höchst sorgfältig mit den Uhren von St. Clement, der neuen Kirche, der beleuchteten Uhr an der Exeter-Börse, mit der an der St. Martinskirche und der Leibgardekaserne; als sie endlich in St. Jamespark angekommen waren, miethete dasjenige Mitglied der Gesellschaft, welches die bestgemachten Stiefel trug, zwei Stühle, einen ausdrücklich für seine Füße, und bediente sich dieses hölzernen Zweipenny-Luxus mit einem Air, welches allen Unterschied zwischen Brookes und Snooks und Crockford und Bagnigge Wells aufhob.

Man kann über solche Leute wohl lachen, aber sich nie darüber ärgern. Sie stehen gewöhnlich auf dem besten Fuße mit einander, und was fast natürlich daraus folgt, auch mit andern Leuten; – und begehen sie auch zuweilen einige kleine Thorheiten an sich selbst, so sind diese doch sicherlich leichter nachzusehen, als das unzeitige, läppische Wesen im Quadrant oder die schnurrbärtige Geckenhaftigkeit von Regent-Street und Pall-Mall, oder andere Stutzereien in ihrem Unsinn, wo sie auch immer sein und wie sie auch immer heißen mögen.



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