Charles Dickens
Skizzen aus dem Londoner Alltagsleben
Charles Dickens

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Zweites Kapitel

Ein Weihnachts-Mahl.

Weihnachten! Wessen Brust bei der Rückkehr des Christfestes nicht ein freudiges Gefühl bewegt, in wessen Gedächtniß nicht irgend eine fröhliche Rückerinnerung erwacht, der muß ein Menschenfeind sein. Es gibt Leute, die dir sagen werden, das Christfest sei für sie nicht mehr das, was es sonst zu sein pflegte, – jede neue Weihnachten habe ihnen immer wieder die neue Ueberzeugung gebracht, daß irgend eine angenehme Hoffnung, oder irgend eine glückliche Aussicht vom vergangenen Jahre verdüstert oder verschwunden sei, und die dießjährige erinnere sie blos daran, daß ihre Umstände schlechter, und ihr Einkommen geringer geworden – an das Fest, welches sie sonst an diesem Tage ihren Freunden gegeben und an die theilnahmlosen Blicke, welche ihnen nun im Mißgeschicke und Unglücke dafür zu Theil würden. Solchen trüben Rückerinnerungen muß man keinen Raum geben. Es haben wohl nicht viele Menschen lange genug in der Welt gelebt, um sich nicht jeden Tag im Jahre so Etwas in das Gedächtniß zurückrufen zu können. Du mußt dir nicht gerade den freudigsten der dreihundert fünfundsechzig Tage zu deinen trüben Rückerinnerungen wählen, sondern rücke deinen Stuhl an das trauliche Kaminfeuer – fülle dein Glas, stimme einen Gesang an – und ist deine Stube auch etwas kleiner, als ein Dutzend Jahre früher, ist auch dein Glas mit dampfendem Punsch statt mit perlendem Weine gefüllt, – was liegt daran! – trink' es bis auf den Grund, fülle es wieder, singe dein altes Lieblingslied, – und danke Gott, daß es nicht noch schlimmer steht. Betrachte die fröhlichen Gesichtchen deiner Kinder, die um das Feuer her sitzen. Ein Sitzchen ist vielleicht leer – eine kleine Gestalt, die des Vaters Herz erfreute, auf welche die Mutter mit Stolz sah, wird vielleicht nicht mehr darunter sein. Laß die Todten ruhen! – denke nicht daran, daß ein kurzes Jahr zuvor das liebliche Kind, das nun im Staube modert, mit der Blüthe der Gesundheit auf den Wangen und der heitern Kindesunschuld in den freudeglänzenden Augen vor dir saß. Rufe dir die noch übrigen Gottesgaben – deren jedem Menschen so viele gegeben sind – in's Gedächtniß und denke nicht ferner an das vergangene Mißgeschick, dessen Jeder auch seinen Theil hat. Mit heiterem Auge und zufriedenem Herzen fülle dein Glas wieder. Was gilt's – dein Christtag wird ein fröhlicher, dein Neujahr ein glückliches sein! –

Wer wird bei den Gefühlsergüssen und dem redlichen Austausche wohlgemeinter Freundschafts-Versicherungen, an denen diese Jahreszeit so reich ist, theilnahmlos bleiben? Eine Weihnachts-Familien-Partie! Wir kennen auf der Welt nichts Herrlicheres! In dem Namen Weihnachten scheint schon ein vollkommener Zauber zu liegen. Kleine Eifersüchteleien und Zwistigkeiten werden vergessen, freundschaftliche Gefühle in manchem Busen erregt, dem sie lange fremd geblieben; Vater und Sohn, Bruder und Schwester, die Monate lang mit abgewandten Augen an einander vorübergingen, oder deren kalte Blicke sich beiderseitig begegneten, können sich wieder näher umarmen, kehren zur alten Freundschaft zurück und begraben die bisherige Erbitterung in ihrer jetzigen Freude. Gleichgesinnte gute Herzen, die einander wehe gethan haben und gerne wieder eingelenkt haben würden, wenn nicht falscher Stolz und Eigenliebe sie davon abgehalten hätte, werden wieder Eins und Alles athmet Güte und Wohlwollen! Es wäre zu wünschen, daß das Christfest das ganze Jahr hindurch dauerte, und Vorurtheile und Leidenschaften, die unsere bessere Natur entwürdigen, nie unter denen einrissen, denen sie stets fremd bleiben sollten.

Die Christfest-Familien-Partie, von der wir sprechen wollen, ist nicht blos ein Verein von Bekannten, die sich erst seit ein paar Wochen kennen, auch nicht Folge einer dieses Jahr erst entstandenen Bekanntschaft, keine Zusammenkunft, die im vorigen Jahre nicht Statt gefunden hat und kaum im nächsten wiederholt werden dürfte. Es ist vielmehr eine jährliche Vereinigung wo möglich aller Mitglieder einer Familie, jung und alt, reich und arm; und alle dazu gehörigen Kinder sehen ihr schon seit zwei Monaten mit fieberhafter Erwartung entgegen. Früher wurde sie bei dem Großvater abgehalten, nachdem aber Großvater alt und schwach geworden, und Großmutter mit, haben sie ihre eigene Haushaltung aufgegeben und wohnen nun bei Onkel George: daher findet die Gesellschaft nun stets in Onkel George's Hause Statt; aber Großmutter spendet die meisten guten Sachen dazu, und Großvater läßt sich's nicht nehmen, den weiten Weg nach dem Newgate-Markt hinab zu humpeln, um den Truthahn zu kaufen, welchen er durch einen gemietheten Träger im Triumph nach Hause schaffen läßt, wo dann der Mann jedesmal über und außer seinem Lohne noch ein Glas Branntwein haben muß, um der Tante George Wohlsein »auf fröhliche Weihnachten und ein glückliches Neujahr« zu trinken. Was Großmama anbelangt, so ist sie zwei oder drei Tage vorher sehr verschlossen und thut sehr geheimnißvoll, aber doch nicht genug, um der Verbreitung des Gerüchtes vorzubeugen, daß sie jeder Magd eine wunderschöne neue Haube mit farbigen Bändern, und allerlei Bücher, Federmesser und Bleistiftröhren für die jungen Sprößlinge gekauft habe, der verschiedenen weitern geheimen nachträglichen Bestellungen der Tante George zu erwähnen, als da z. B. beim Pastetenbäcker, daß er noch ein Dutzend Pastetchen zum Mittagsessen und einen Rosinenkuchen für die Kinder liefern solle.

Am Christabend ist Großmutter in ihrem rechten Element und prächtig aufgeräumt; wenn sie den ganzen Tag über die Kinder angehalten hat, Zwetschgen auszusteinen, so bittet sie regelmäßig jedes Jahr Onkel George, in die Küche herabzukommen, seinen Rock abzulegen und etwa eine halbe Stunde lang den Pudding umzurühren, dem sich Onkel George zum ausnehmenden Vergnügen der Kinder und der Dienstboten gutmüthig unterzieht; – der Abend wird dann frühzeitig durch ein herrliches Spiel, wie blinde Kuh, beschlossen, wobei Großpapa sich sehr in Acht nimmt, nicht gefangen zu werden, da er nicht versäumen darf, zu zeigen, wie gut er noch auf den Beinen ist.

Des andern Morgens geht das alte Paar mit so vielen Kindern, als der Kirchenstuhl nur fassen kann, in größtem Staat zur Kirche, während Tante George zu Hause bleibt, um Flaschen abzustauben und die Tische zu füllen; und Onkel George schleppt Flaschen in das Speisezimmer, schreit sich fast heiser nach einem Pfropfzieher und kommt Jedermann in den Weg. Wenn die Kirchgänger zum Frühstück zurückkommen, zieht Großpapa einen kleinen Mistelzweig aus der Tasche und redet den Knaben zu, ihre kleinen Cousinen unter demselben zu küssen – ein Vorschlag, welcher zum grenzenlosen Vergnügen der Knaben und des alten Herrn ausgeführt wird. Der Großmutter Ansichten von guter Zucht läuft aber dieß schnurstracks zuwider, bis Großpapa sagt, als er dreizehn Jahre und drei Monate alt gewesen, habe er die Großmama auch unter einer Mistel geküßt, worauf die Kinder in die Hände klatschen und von ganzem Herzen lachen, worein auch Tante und Onkel George einstimmen; Großmutter wird selbst heiter und sagt mit wohlgefälligem Lächeln, daß Großvater stets ein loser Vogel gewesen sei; worüber die Kinder abermals recht herzlich lachen, Großvater aber noch herzlicher als alle.

Doch all dieß will noch nichts heißen gegen die Spannung, welche nun folgt, wenn Großmama in einer hohen Haube und schieferfarbigem Seidenkleid, und Großpapa mit wunderschön gefälteltem Busenstreif und weißem Halstuche sich in dem Besuchzimmer an das Kamin setzen und Onkel George's Kinder, nebst unzähligen kleinen Cousins und Cousinchen der Reihe nach neben ihnen, auf die Ankunft der sehnlich erwarteten Gäste harren.

Plötzlich hört man eine Kutsche vorfahren. Onkel George sieht aus dem Fenster und ruft: »Da kommt Jane!« worauf die Kinder zur Thüre hinaus über Hals und Kopf die Treppe hinab eilen, und Onkel Robert und Tante Jane und das liebe Kleine und die Wärterin, und die ganze Gesellschaft unter lärmendem »Ach Herr Je!« der Kinder und den beständigen Warnungen der Wärterin, »dem Kleinen nicht wehe zu thun,« von den Kindern die Treppen hinauf geführt werden; Großpapa nimmt das Kind, Großmama küßt ihre Tochter und kaum hat sich die Verwirrung dieses ersten Willkomm's etwas gelegt, als wieder neue Tanten und Onkel mit weiteren Cousins und Cousinen ankommen: – die herangewachsenen Vetterschaften coquettiren mit einander, die kleineren machen es auch gleich nach, und man hört nichts mehr als ein verwirrtes Durcheinander von Plaudern, Lachen, Lust und Freude.

Während einer kleinen augenblicklichen Pause in der Conversation hört man ein zögerndes zweimaliges Klopfen; Jedermann fragt: »wer ist das?« und einige Kinder, die bisher am Fenster gestanden, kündigen mit gedämpfter Stimme an, es sei »die arme Tante Margaret.« Nun verläßt Tante George das Zimmer, um den Neuankommenden entgegen zu gehen, und Großmutter setzt sich noch steifer und vornehmer zurecht, denn Margaret hat ohne ihre Einwilligung einen armen Mann geheirathet, und als ob Armuth noch keine hinreichende Strafe gewesen, wurde sie von ihren Angehörigen verlassen und von der Gemeinschaft ihrer nächsten Verwandten ausgeschlossen. Aber das Christfest war gekommen und die lieblosen Gesinnungen, welche das Jahr über die bessern Gefühle unterdrückt hatten, schmolzen unter seinem zauberischen Einflusse, wie die leichte Eisrinde unter der Morgensonne. Es gehört nicht viel dazu, daß Eltern in augenblicklicher Aufwallung ein ungehorsames Kind verdammen; aber sie in einer Zeit, wo alles nur herzliche Zuneigung und Heiterkeit athmet von dem häuslichen Herde, um den auch jenes schon bei so manchem Jahreswechsel an demselben Tage gesessen, bis das Kind allmälig zur Jungfrau heranwuchs und dann, fast unmerklich, auf einmal als ein stolzes schönes Weib dastand, zu verbannen und von sich zu stoßen, ist ein himmelweiter Unterschied. Die frostige Miene kaltsinniger Vergebung, welche sie, gleichsam mit vollem Rechte, angenommen hatte, stand der alten Dame sehr übel an, und als die arme Frau – kummerbleichen Angesichts und fast gebrochenen Herzens – doch nicht durch Armuth (denn die konnte sie tragen), sondern im Bewußtsein unverdienter Hintansetzung und unverschuldeter Lieblosigkeit, von ihrer Schwester hereingeführt wurde, konnte man schnell sehen, was angenommen und was Natur war. Eine augenblickliche Pause folgte; die Tochter entschlüpft plötzlich ihrer Schwester und stürzt sich schluchzend ihrer Mutter in die Arme. Der Vater tritt rasch ein paar Schritte vor und drückt ihrem Manne die Hand. Alles drängt sich um sie her; herzliche Glückwünsche werden ausgetauscht und Fröhlichkeit und Einigkeit treten wieder in ihre alten Rechte.

Das Mahl läßt nichts zu wünschen übrig – Alles geht auf's Beste, Alles ist in der herrlichsten Stimmung und Jedermann aufgelegt, sich und Anderen zu gefallen; Großpapa erzählt ausführlich, wie er den Truthahn gekauft, und macht nur eine kleine Abschweifung, den Ankauf anderer Truthühner an früheren Christtagen betreffend – was Großmama in den kleinsten Einzelheiten bestätigt. Onkel George gibt auch Geschichten zum Besten, zerlegt Geflügel, trinkt hie und da einmal, scherzt mit den Kindern, die am Seitentischchen sitzen, winkt den Cousins und Cousinen zu, einander Liebeserklärungen zu machen, oder sich machen zu lassen, und erheitert Jedermann durch seinen guten Humor und seine freundliche Gastlichkeit. Wenn endlich eine stämmige kräftige Dirne mit einem riesenhaften Pudding – auf welchem ein Stechpalmenzweig steckt – hereintritt, bricht die junge Brut in ein helles Jauchzen aus, schlägt die kleinen runden Händchen zusammen und trampelt mit den dicken Stumpffüßchen, daß man ihre Lust blos mit der frohlockenden Bewunderung vergleichen kann, mit welcher das erstaunliche Kunststück, brennenden Rum stückchenweise herauszuschöpfen, von ihnen aufgenommen wird. Und dann noch der Nachtisch! Und der Wein! Und die Späße! Und wie unterhaltend Tante Margaret's Gatte ist! Man sieht jetzt erst, was er doch für ein artiger Mann ist, – und wie viel Aufmerksamkeit er für die Großmutter hat! Der Großvater singt nicht allein sein Lied, welches er jedes Jahr zum Besten gibt, mit beispielloser Kraft, sondern läßt sogar, in Erwiederung der ebenfalls jedes Jahr wiederkehrenden Artigkeit eines einstimmigen Dacaporufens ein neues los, welches außer der Großmutter noch Niemand gehört hatte; und ein kleiner Bösewicht von Cousin, welcher bisher bei den Alten, wegen gewisser abscheulicher sowohl Unterlassungs- als Begehungssünden – (er hatte sich nämlich durchaus nicht wehren lassen und beharrlich in einem fort Burton-Ale getrunken) – etwas in Ungnade gefallen war, bringt auf einmal die erstaunte Gesellschaft in ein konvulsivisches Lachen, indem er sich den Spaß macht, aus eigenem Antriebe das tollste und komischste Zeug von der Welt zu singen.

So vergeht der Abend auf das Ordentlichste froh und heiter, in traulicher Geselligkeit und Freude, und dieß trägt weit mehr dazu bei, in Jedem Sympathie für seine Nachbarn zu erwecken und die freundliche Zuneigung zu ihnen auch während des kommenden Jahres festzuhalten, als alle Sommer- und Winterpostillen, welche die gesammte Geistlichkeit der ganzen Welt je geschrieben hat.



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