Charles Dickens
Skizzen aus dem Londoner Alltagsleben
Charles Dickens

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Viertes Kapitel

Miß Evans und der Adler.

Herr Samuel Wilkins war ein Zimmermann, eigentlich ein Zimmergeselle, von kleiner Gestalt, unstreitig unter Mittelgröße – vielleicht fast dem Zwerghaften nahe. Sein Gesicht war rund und glänzend, sein Haar sorgfältig gescheitelt, und an jedem äußeren Augenwinkel eine große Schmachtlocke hereingestrichen. Sein Verdienst war vollkommen für seine Bedürfnisse hinreichend, denn er belief sich auf achtzehn Shillinge bis ein Pfund fünf Schillinge wöchentlich. Sein Betragen war anständig und untadelhaft, seine Sonntagsweste glänzend. Man darf sich daher nicht wundern, daß Samuel Wilkins bei solchen Eigenschaften vor den Augen des andern Geschlechts Gnade fand; viele Mädchenherzen haben sich durch weit weniger wesentliche Vorzüge erobern lassen. Aber Samuel widerstand ihren Lockungen beharrlich, bis am Ende seine Augen auf einem Wesen haften blieben, das er von nun an als ihm vom Schicksale bestimmt betrachtete. Er kam und siegte, – machte Anträge und sie wurden angenommen – liebte, und ward wieder geliebt. Herr Wilkins war Miß Jemima Evans' erklärter Liebhaber.

Miß Evans (oder Ivins, wie der Name in dem Kreise ihrer Bekanntschaft ausgesprochen wurde) hatte sich schon in frühester Jugend dem harmlosen Berufe gewidmet, Frauenschuhe zu nähen, womit sie später das Geschäft einer Strohhutmacherin verbunden hatte. Sie selbst, ihre Mutter und zwei Schwestern bildeten ein harmonisches Quartett im entlegensten Theile von Camden-Town; und hier war es, wo sich Herr Wilkins eines Montags Nachmittags in seinem besten Anzuge präsentirte; sein Angesicht war strahlender und seine Weste glänzender, als man beide je vorher gesehen hatte. Die Familie war so eben im Begriff, sich zum Thee zu setzen, und unendlich erfreut, ihn zu sehen.

Es war ein vollständiges kleines Fest; zwei Unzen grünen Thee's, zu sieben Shilling und sechs Pencen das Pfund, und ein Viertelpfund beste frische Butter, und Herr Wilkins hatte eine Pinte Seegarnelen zierlich in ein reines Tuch eingewickelt mitgebracht, um dem Mahle noch eine weitere Würze zu geben und sich bei Frau Ivins in Gunst zu setzen. Jemima war, »um sich schön zu machen,« in ihr Zimmer hinaufgegangen; Herr Samuel Wilkins hatte sich daher einstweilen niedergelassen und sprach mit Frau Ivins über häusliche Angelegenheiten, während die beiden jüngsten Miß Ivins damit beschäftigt waren, Stücke Fließpapier anzuzünden und unter den Rost des Kessels zu bringen, um Wasser zum Thee heiß zu machen.

»Ich habe im Sinn,« sagte Samuel Wilkins, eine Pause in der Unterhaltung benützend; »ich habe im Sinne, J'mima heute Abend in den Adler zu führen.«

»Ach nein!« rief Frau Ivins aus.

»Gott! wie herrlich!« sagte die jüngste Miß Ivins.

»Das heiß' ich galant!« fügte die mittlere Miß Ivins hinzu.

»Sage J'mima, sie soll ihr weißes Musselinkleid anziehen, Lilly,« rief Frau Ivins mit mütterlicher Sorglichkeit; und bald darauf kam J'mima selbst herab, geschniegelt und gebügelt, in einem weißen Musselinkleide, einem kleinen rothen, überall zurechtgesteckten Shawl, weißem Strohhute mit rothen Bändern, einem schmalen Halsbande und einem paar breiten Armbändern, dänischen Atlasschuhen und durchbrochenen Strümpfen, weißen baumwollenen Handschuhen und einem sorgfältig zusammengelegten Cambric-Taschentuche in der Hand – Alles vollkommen gentil und ladymäßig. Und dahin zogen Miß Jemima Ivins und Herr Samuel Wilkins, den modischen Spazierstock mit vergoldetem Knopfe in der Hand, zur Bewunderung und zum Neide der ganzen Straße und zum großen Wohlgefallen der Frau, besonders aber der beiden jüngsten Miß Ivins.

Sie hatten kaum in die Pancras-Straße eingelenkt, als Miß Jemima Ivins durch den glücklichsten Zufall von der Welt einer jungen Dame ihrer Bekanntschaft, die ebenfalls ihren Galan bei sich hatte, begegnete: sie waren – wie es sich oft nur so treffen kann – ebenfalls auf dem Wege nach dem Adler begriffen. Herr Samuel Wilkins wurde mit dem Geliebten der Freundin von Miß Jemima Ivins bekannt gemacht, darauf gingen sie alle miteinander weiter und plauderten, lachten und scherzten nach Herzenslust. Als sie in die Gegend von Pentonville kamen, schlug der Geliebte von Miß Ivins' Freundin vor, den Damen in der Krone ein Gläschen Shrub vorzusetzen, und nachdem diese sehr roth geworden waren, sehr viel gekichert und die Gesichter hinter den Taschentüchern versteckt hatten, willigten sie ein. Sobald sie das Getränke einmal gekostet hatten, ließen sie sich leicht zu noch mehr bereden, und so saßen sie im Krongarten außen und begnügten sich wechselsweise am Shrub und am Betrachten der vorbeifahrenden Omnibusse, bis es gerade noch Zeit war, nach dem Adler zu gehen. Sie beschleunigten daher ihre Wanderungen und gingen so rasch als möglich, da sie befürchten mußten, den Anfang des Concertes in der Rotunde zu versäumen.

»Wie herrlich!« riefen Miß Jemima Ivins und ihre Freundin zugleich aus, als sie zum Thore eingetreten waren und sich nun in dem Garten befanden. Wie herrlich waren aber auch wirklich die Spazierwege unterhalten, wie zierlich geebnet und mit Kies bestreut, wie prächtig die hölzernen Erfrischungshäuschen bemalt und geschmückt, gleich eben so vielen Schnupftabacksdosen; welch' einen Glanz verbreiteten die bunten Lampen; wie vortrefflich war der Tanzplatz zu Gunsten der Füße der Tanzenden mit Kreide bestrichen; und welche Lust, auf der einen Seite des Gartens türkische Musik und auf der andern Militärmusik zu hören. Da rannten die Kellner hin und her mit Negus, Grog, Ale und Doppelbier; hier perlte Ingwerbier, dort sprudelten allerlei handgreifliche Witze, und Massen von Menschen drängten sich um den Eingang der Rotunde; kurz, es war – wie Miß Jemima Ivins, von der ungewohnten Neuheit der Scene, oder dem Shrub, oder von beiden begeistert, bemerkte – »ein Anblick voll blendender Herrlichkeit.« Was den Concertsaal betrifft, so hat man nie etwas auch nur halb so Glänzendes gesehen. Da war ein Orchester für die Sänger, das flimmerte und schimmerte von Farben, Vergoldung und Spiegelglas; und was für eine Orgel! Der Geliebte von Miß Jemima Ivins' Freundin flüsterte: »sie habe vierhundert Pfund gekostet,« was, wie Samuel Wilkins bemerkte, »nicht zu theuer« war – eine Ansicht, welcher die Damen vollkommen beipflichteten. Die Zuhörer saßen ringsumher auf erhöhten Bänken; der ganze Saal war gedrängt voll, und Jedermann aß und trank so vergnügt als möglich. Kurz vor dem Anfange des Concertes bestellte Herr Samuel Wilkins zwei Gläser Rum mit warmem Wasser und Zucker, nebst zwei Citronenschnitten, für sich und den andern jungen Herrn, ferner »eine Pinte Muskat für die Damen und einen Teller süße Kümmel-Biskuits.« Und so würden sie sich ganz behaglich und glücklich gefühlt haben, wenn nicht ein Gentleman mit einem mächtigen Barte Miß Jemima Ivins fortwährend scharf in's Auge gefaßt und ein anderer in einer schottischen Weste Miß Jemima Ivins' Freundin unablässig zugeblinzelt hätte, worüber der Geliebte von Miß Jemima Ivins' Freundin immer deutlichere Symptome übermannenden Zornes entwickelte, von »pöbelhafter Unverschämtheit« und »Gallenüberlaufen« zu murmeln anfing, und in dunklen Ausdrücken seine Absicht zu verstehen gab, Jemanden den Schädel einzuschlagen; von noch nachdrücklicheren Demonstrationen wurde er blos durch die beiden Damen abgehalten, indem sowohl Miß Jemima Ivins, als ihre Freundin ihm drohten, »daß sie auf der Stelle in Ohnmacht fallen würden, wenn er noch ein Wort weiter sagte.«

Das Concert nahm seinen Anfang – mit einer Ouvertüre auf der Orgel. »Wie feierlich!« rief Miß Jemima Ivins aus, vielleicht unwillkürlich nach dem Gentleman mit dem Barte schielend. Herr Samuel Wilkins, der eine Weise vor sich hingemurrt hatte, als ob er mit dem vergoldeten Knopfe seines Spazierstockes eine vertrauliche Unterhaltung hielte, schnaubte sehr vernehmlich – vielleicht Rache, sagte aber nichts.

Eine Miß So und So in weißem Atlaskleide trug eine Arie, »Der ermüdete Krieger,« vor.

»Da Capo!« rief Miß Jemima Ivins' Freundin.

»Da Capo!« lärmte ihr der Gentleman mit der schottischen Weste alsbald nach und zerhämmerte dabei den Tisch mit der Bierflasche. Der Geliebte von Miß Jemima Ivins' Freundin maß den Mann in der Weste vom Kopf bis zum Fuße und warf Herrn Samuel Wilkins einen fragenden verächtlichen Blick zu. – Komischer Gesang mit Orgelbegleitung. – Miß Jemima Ivins wollte sich ausschütten vor Lachen – der Herr mit dem Barte dergleichen; kurz, Alles was die Damen thaten, machten die Gentlemen mit schottischer Weste und Bart ihnen nach, um dadurch ihre vollkommene Gefühlsübereinstimmung und Seelenverwandtschaft auszudrücken; und Miß Jemima Ivins und ihre Freundin wurden in gleichem Maße lebhaft und gesprächig, als Herr Samuel Wilkins und der Geliebte von Miß Jemima Ivins' Freundin mürrisch und einsylbig wurden.

Wäre die Sache damit zu Ende gewesen, so würde der Gleichmuth der beiden Paare bald wieder zurückgekehrt sein; aber jetzt fingen Herr Samuel Wilkins und sein Freund an, der schottischen Weste und dem Barte herausfordernde Blicke zuzuwerfen. Die Weste und der Bart, einigermaßen bestärkt durch vorerwähnte Gegenblicke der Damen, warfen jedoch diesen nur Blicke lebhafterer Bewunderung zu. Sobald das Concert und Vaudeville zu Ende war, strömte Alles wieder in den Garten. Die Weste und der Bart thaten dasselbe, schritten hart hinter den beiden Paaren her und machten sehr hörbar verschiedene complimentirende Bemerkungen über die hübschen Füße der Miß Jemima Ivins und ihrer Freundin. Endlich, noch nicht zufrieden mit dieser Unzahl von Abscheulichkeiten, traten sie geradezu an Miß Jemima Ivins und ihrer heran und forderten sie zum Tanze auf, ohne nur die geringste Notiz von Herrn Samuel Wilkins und dem Geliebten von Miß Jemima Ivins' Freundin zu nehmen, gerade als ob diese der Niemand gewesen wären.

»Was soll das heißen, Sie Schurke?« rief Herr Samuel Wilkins aus und nahm den goldbeknopften Stock in seine rechte Hand. – »Wer zum Teufel will denn etwas von dir, du kleiner Knirps?« erwiederte der Bart. – »Wie können sie sich herausnehmen, mich und meinen Freund zu beleidigen?« fragte der Geliebte der Freundin. – »Sie und Ihren Freund mag der Henker holen,« antwortete die Weste. – »Da hast du Eins dafür,« schrie Herr Samuel Wilkins, und man sah das Eisen seines goldbeknopften Stockes bei dem Scheine der buntfarbigen Lampen in der Luft schwirren. – »Gib ihm seinen Theil,« rief die Weste. – »Zu Hülfe! Zu Hülfe!« kreischten die Damen. Es war aber zu spät. Miß Jemima Ivins' Galan und der Geliebte ihrer Freundin lagen keuchend auf dem Sande und die Weste und der Bart wurden nicht mehr gesehen.

Da Miß Jemima Ivins und ihre Freundin sich wohl bewußt waren, die Schlägerei nicht zum geringsten Theile mit veranlaßt zu haben, so fielen sie natürlich alsbald in Krämpfe, erklärten sich für unerhört beleidigt, jammerten in unzusammenhängenden tollen Reden über unverschuldeten Verdacht, o – so ungerechten Verdacht – und schluchzten und wehklagten, daß sie einen solchen Tag hätten erleben müssen und so fort. Jedesmal, so oft sie ihre Augen öffneten und ihre unglücklichen kleinen Anbeter erblickten, trat ein Rückfall ein, und endlich wurden sie in einem Zustande völliger Bewußtlosigkeit – Dank sei es dem Shrub, dem Muskat, dem Schrecken und der Aufregung – in einer Miethkutsche nach Hause gefahren.



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